August Stramm und ein unbekannter Soldat rezitieren Gedichte im Schützengraben (2)

Kurzgeschichte

von  autoralexanderschwarz

„Kamerad, ich habe gelogen“, flüstert Stramm, als die Dunkelheit sein Gesicht verbirgt, „ich habe gar keine Patrone mehr, niemand in diesem Abschnitt hat mehr eine einzige. Die Männer stürzen sich hier in ihre Bajonette, so als wären sie Japaner.“
Beide lachen leise in der Dunkelheit.
„Japaner“, wiederholt der unbekannte Soldat, „den Spruch habe ich noch nicht gehört.“
Sie sind sich sehr nah in diesem Moment.
„Ich habe aber etwas anderes“, flüstert Stramm und zieht aus seiner Manteltasche eine kleine Öllampe hervor, die er vorsichtig entzündet, „der Docht ist fast aufgebraucht, aber für ein paar Minuten wird sie uns noch Licht spenden.“
In dem schwachen Lichtschein sieht er die Augen des Kameraden leuchten, „ich lese etwas“, flüstert Stramm, „das ich vor einigen Tagen geschrieben habe, aber du musst den Kopf weiter unten halten, damit die Scharfschützen dich nicht erwischen.“
Er blättert in seinem Notizbuch, dann liest er:
„Finger krümmen
Kugelschwarm
drängt-sprengt
sticht-beißt
bohrt-schabt
reißt-bricht
kracht-trümmert
schäumt-spritzt
wirbelt
wirbelt
wirbelt
alles alles
durcheinander,
ineinander,
übereinander.
Kugelschweigen.
Blutblutbodenschlamm.“
Beide schweigen. Irgendwo in der Dunkelheit schreit ein Verlorener nach Hilfe, doch man kann nicht sagen, aus welcher Richtung es kommt. Er ist verloren, so wie sie alle. Bis auf ein paar vereinzelte Feuerherde ist es inzwischen fast vollständig dunkel.
„Das ist traurig“, flüstert der unbekannte Soldat, „und es ist wahr, überall liegen sie hier verstreut, unsere Kameraden, so viel Munition haben wir verschossen, dass uns nicht eine einzige Kugel geblieben ist, ich mag es auch, wie du mit den Worten spielst, aber ich habe auch etwas geschrieben, etwas Schönes, das ich lesen möchte, solange der Docht noch reicht, es handelt von meiner Liebsten, die ich verließ, um in den Krieg zu ziehen, ich habe mich freiwillig gemeldet“, flüstert der unbekannte Soldat, „wegen der Ehre und dem Vaterland.“
Er beugt sich nach vorne, so dass der kleine Lichtkegel bis auf sein Notizbuch reicht, dann liest er:
„In einen Baum, an einem See,
dort ritzten wir einst unsre Namen
und schworen für die Ewigkeit
dass alle and'ren nach uns kamen,
dort saßen wir so oft beisammen
und zählten Sterne in der Nacht
und dieser Baum mit unsrem Zeichen
hat dabei über uns gewacht.“
Die letzten Worte hat der unbekannte Soldat nur noch mit gebrochener Stimme hervorgebracht.
Stramm legt ihm die Hand auf die Schulter. Noch immer schreit der Verlorene irgendwo in der Nacht, doch er ist leiser geworden, so wie sie alle.
„Es ist noch nicht zu Ende“, flüstert der unbekannte Soldat, „es geht weiter:
Zu diesem liebsten, schönsten Ort,
dorthin da kehr' ich einst zurück
und bin ich auch so lange fort,
vergess' ich nie dies Himmelsstück.“
In diesem Moment reißt der Himmel kurz auf und selbst durch den dichten Qualm können sie ein Stück des Mondes glänzen sehen. Sterne sieht man aber nicht.
Dann ziehen sich die Wolken wieder zu, schließlich verglimmt der Docht.
„Es ist ein wenig kitschig“, flüstert Stramm nach einer Weile,
„aber es ist schön, dass es heute noch Menschen gibt, die so etwas schreiben können.“

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