Reisen ohne Elfenbeinballon (6) - Goliath

Lyrischer Prosatext

von  autoralexanderschwarz

Oben, ein kleines Stück unterhalb der Bergspitze, erwartet uns ein Goliath, wie wir ihn noch nie zuvor gesehen haben, ein Koloss aus Bosheit, Muskeln und Stahl, der dort behäbig die Grenzen der Einsamkeit abschreitet und ohne große Mühe alle Steine wieder zurück ins Tal stößt. Von allen Seiten hallt hier die Verzweiflung jener wider, die noch immer nicht alle Hoffnung verloren haben und diese nun wieder zurück ins Tal schleppen müssen. Wir halten inne, beobachten ihn aus sicherer Entfernung über unseren eigenen Steinrücken hinweg; an ihm werden wir vorbei müssen, wenn wir das Land der Hyperboreer verlassen wollen. Wir genügen uns nicht mehr, wir brauchen Hände, die sich nach uns strecken. Auf dieser Seite des Bergrückens aber gibt es kein Lächeln mehr für uns.

Wir basteln uns eine Schleuder aus vertrauten Worten und lassen sie surrend um uns kreisen, wir zielen auf die breite Stirn des Monsters. Wir wissen nicht wofür, aber wir werden ihm einen guten Kampf liefern, vieles haben wir vergessen, aber unsere Wut brennt noch immer heiß genug.

So schleudern wir unser erstes Wort, Treue, das wirkungslos von dem dicken Panzer abprallt, doch der Goliath hat uns nun entdeckt, ungläubig mustert er den kleinen Angreifer und bewegt sich dann mit riesigen Schritten auf uns zu.

Wir schleudern ein zweites Wort, Geborgenheit, doch auch dieses verfehlt sein Ziel und lockt nur ein dröhnendes Lachen aus dem feindlichen Körper. Bald, bald wird er uns erreicht haben.

„Wenn du nicht mehr zu bieten hast“, lacht der Goliath donnernd, „werde ich dich ohne jede Anstrengung zermalmen.“

Er hat uns fast erreicht, unsere Zeit reicht nur noch für ein letztes Wort, doch in diesem Moment erinnern wir uns endlich unserer Hybris, sehen sie leuchten und strahlen jenseits des Landes der Hyperboreer, wir erinnern uns, wie hoch wir schwebten und wie klein und schwächlich die Goliaths dieser Welt aus unserem Elfenbeinballon wirkten; einst hatten wir nur Spott und Urin für sie übrig.

Wir greifen uns ein letztes geheimes Wort und wirbeln es so schnell im Kreis, dass die Reibung es rot aufglühen lässt:

„Tritt uns aus dem Weg“, rufen wir dem Goliath dabei zu und die Gewalt in unserer Stimme lässt ihn zögern, „wir wollen keine Gerechtigkeit mehr“, schreien wir ihm entgegen, „wir wollen keinen kleinen Frieden, seit Wochen brennen wir für ein anderes Ziel, unser Kampf liegt noch so weit vor uns, über uns, wie willst du Mensch uns halten, wenn wir ausgezogen sind, um Titanen zu ermorden?“

Und mit einem wütenden Schrei schleudern wir unser letztes Wort, das mit unaufhaltsamer Gewalt auf den Goliath zurast und dann platzend und spritzend in sein Gesicht schlägt. Er wankt und wankt und wankt und stürzt.

*

Mit einem Lächeln stoßen wir den leblosen Körper hinunter ins Tal, vorbei an all den Steinen, Menschen und Schafen. Wir haben genug geblökt, denken wir, als wir auf der Bergkuppe stehen und unter uns die ersten Vögel zwitschern hören. Erst jetzt fällt uns auf, wie still es zuvor war, jeder blökte hier nur für sich, jeder dachte hier nur an seinen eigenen Stein.

In der Ferne sehen wir ein Leuchtfeuer, in der Ferne brennt sie noch immer, unsere geliebte Hybris. Wie gebannt schreiten wir auf sie zu, während hinter uns unser Stein zurück ins Tal rollt. Wir sind frei, denken wir für einen Moment, doch wir tragen unseren Stein noch immer viel zu tief in unserer Brust.


Anmerkung von autoralexanderschwarz:

Der obenstehende Text ist Teil der Textsammlung „Reisen im Elfenbeinballon“, die im Athena-Verlag erschienen ist.  Reisen im Elfenbeinballon

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Kommentare zu diesem Text


 Habakuk (27.03.18)
Lesenswert. Für einen ausführlicheren Kommentar hab ich heute keine Lust.

 autoralexanderschwarz meinte dazu am 28.03.18:
Dank & Gruß
AlX
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