Was soll eigentlich diese Frisur?

Erzählung zum Thema Erwachsen werden

von  Xenia

Ich find es geil. Alles daran. Das Gefühl, über eine nass rasierte Glatze zu streicheln. Wenn man mir drauf wichst. Diese Konsequenz, mit der Frau damit verletzt wirkt und dabei zugleich so taff. Es ist die Frisur einer Kämpferin. Aber das allein ist es nicht. Die fehlenden Haare lenken den Blick auf das Wesentliche. Das Gesicht. Den Mund. Die Augen. Diese großen, seelenvollen Augen, die Geschichten erzählen ohne ein Wort. Vor ein paar Tagen sagte mir jemand, er habe Angst, in meine Augen zu sehen.
‎"Warum?", Fragte ich ihn, "Zu intensiv?"
‎"Nein, sie sind wunderschön, aber ich sehe zu viel in ihnen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich das schon alles wissen will."
Ich schwieg, denn er war zu nah an der Wahrheit. Wenn du mich ansiehst, siehst du eine starke Frau. Ein schüchternes Mädchen. Ein androgyn anmutendes Wesen ohne Haare. Ich bin nicht makellos, dazu bin ich zu oft zerbrochen und wurde wieder geflickt. Mein Körper trägt Narben. Meine Seele und mein Kopf auch. Nicht alle sind so offensichtlich wie die auf meinen Armen

Das erste Mal war es ein Akt der Selbstverstümmelung, meine Haare so radikal zu kürzen. Ich war mitten in der Pubertät, ich war gegen alles und jeden, ich wollte meine Weiblichkeit nicht anerkennen. Aber als die Haare gefallen waren, sah ich etwas. Ich sah mich im Spiegel an, fuhr mir über die Stoppeln, lächelte und begriff, dass die Frau in mir immer noch da war. Und dann fiel mir auf, dass ich mich so schöner finde. Der Akt der versuchten Selbstverstümmelung war schlussendlich der erste Schritte zu meiner Verwandlung. Ich find mich nie so schön, wie wenn ich von jemand, der mich lieb hat, frisch nass rasiert wurde. Dann strahle ich von innen. Wir Menschen sollten nie unterschätzen, was die positive Energie eines anderen in Bezug auf uns bewirken kann. Jede Form von Energie verändert ihr Umfeld. Zwischenmenschlichkeiten wie ein Händedruck, ein Lächeln oder eben eine Kopfrasur übertragen unsere Energie auf das Gegenüber. Aber auch wenn ich es alleine mache, hat es für mich einen meditativen Effekt, meinen Schädel zu scheren. Ich konzentriere mich nur auf diese Handlung. Sie muss mit Bedacht ausgeführt werden.

Die ehemalige Selbstverletzungsaktion wurde zum Ritual der Selbsterneuerung. Psychohygiene. Ich habe gebrannt. So oft, und von Zeit zu Zeit verbrenne ich immer noch. Wie ein Phönix, der durch das Feuer, das ihn verbrennt, wieder neu erschaffen wird. Ich bin verbrannt, viele Male. Es war notwendig. Wenn ich heute in den Spiegel sehe, sehe ich nicht mehr das kleine Mädchen, das Angst hat, eine Frau zu sein. Ich sehe eine Frau, nicht mehr ganz jung, aber schön. Nicht makellos, aber sich mit ihren Makeln akzeptierend. Nicht mehr von Selbsthass zerfressen, sondern auf dem Weg der Selbstliebe. Das Ziel noch nicht erkennend, aber sich des Weges bewusst. Und der Weg ist gut, weil er sich richtig anfühlt.

Vor einem Jahr hab ich mir das erste Mal den Schädel tattowieren lassen. Es war unglaublich intensiv. Erregend. Schmerzvoll. Unbeschreiblich. Jetzt trage ich auf meinem Hinterkopf eine Lotusblüte, im Buddhismus ein Symbol für geistige, innere Reinheit. Das Tattoo soll mich beschützen und meinen Kopf von schlechten Gedanken frei halten. Ich bin nicht mehr wütend auf alles und jeden. Ich lebe endlich. Ich atme ein und aus und es ist gut, weil es sich richtig anfühlt

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Kommentare zu diesem Text


 AlmÖhi (13.04.18)
Du bist vielleicht klassischer als du denken magst. Ich habe mich gerade viel mit der sagenhaften Elektra beschäftigt. Bei Euripides trägt sie Glatze. In der sonst großartigen Verfilmung von 1962 war leider nur kurzes Haar drin:

https://www.youtube.com/watch?v=WqqNAz1AXcE

Am prägnantesten hat Sophokles ihren Charakter herausgearbeitet. Die Tochter, die aus Liebe zu einem Übergangenen in eine lebensverweigernde, kämpferische Haltung geht, und dabei auf ihre Mutter zusteuert.

 AlmÖhi meinte dazu am 13.04.18:
Mit englischen Untertiteln vielleicht doch interessanter:

https://www.youtube.com/watch?v=5crCNgAPvAk

 keinB (13.04.18)
Yeah.
Meine erste Glatze war eine halbe Trotzreaktion. Alle folgenden mehr oder weniger kathartische Akte resp. "lieber Glatze als die Rasierklinge im Handgelenk". Buße. Läuterung.

Und scheiße, Mensch - wenn ich das lese, krieg ich direkt wieder dieses unruhige Zappeln und will ins Bad. So nachvollziehbar und vertraut für mich. :)

Liebe Grüße
KB

 AlmÖhi antwortete darauf am 13.04.18:
Ich erinnere mich auch gerade zurück. Ich weiß nicht mehr, was für emotionale Motivationen ich damals hatte. Habe auch nur ein Bild gefunden (jetzt Profilbild), wo das Haar schon wieder nachwächst.
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