Heute keine Tränen!

Text zum Thema Erinnerung

von  AvaLiam

Das Herbstgrau weicht dem  Dunkel hinter dem Tag.
Ans Fenster klopft unermüdlich Regen.
Kein Einlass. Heute keine Tränen!

Im warmen Kerzenschein trinke ich aus dem Kelch der Erinnerung.
Mit jedem Schluck wird es mir wärmer ums Herz.
Fotos und Briefe ausgebreitet auf dem Boden und ich so ganz in ihrer Mitte.
Viele Jahreszeiten mit dir, mal hier und da gewesen, mal Berge, mal Meer, mal Straße und mal wilde Pfade.
Noch ein kräftiger Schluck und ich greife nach dem Hühnergott den du auf unserer ersten Wanderung gefunden und mir gegeben hast.
Wie ein Diamant liegt er in meiner gespannten Handfläche.
Ich schaue wie ein neugieriges Kind durch das Löchlein hindurch und sehe die Flamme der Kerze.
Nur sie. Und wie sie atmet, sich wiegt, wie sie tanzt.

Mit dem nächsten Schluck wird aus dem Stein ein kleines Guckloch in deine Welt und ich sehe wie du jetzt strahlst weil ich hier sitze, an dich denke und einfach nur UNS feier.

Meine Hand schließt sich zärtlich um dieses kleine Heiligtum, als ob ich dich damit noch ein wenig im Hier und Jetzt halten kann.
Mit geschlossenen Augen und ganz langsam, vorsichtig, beinahe ungewohnt atme ich dieses Gefühl tief ein.
Warm und wohlig fühlt es sich an während ich aus dem Kelch trinke.
Gleichwohl bedacht atme ich aus. Einen tiefen Seufzer kann ich nicht verbergen.
Jedoch - ich habe noch keine Träne verloren. Auch trunken bin ich heut noch nicht.

Deinen letzten Brief in der linken, den Kelch der Erinnerung in der rechten Hand
fühle ich mich schon ein wenig benommen.
Oder ist es nur eine Spur Erleichterung, Befreiung, Erlösung, vielleicht auch einfach Schläfrigkeit?

Ich stolper über erste Worte, um in jede Tiefe deiner Zeilen zu stürzen.
So lasse ich mich fallen, den Kelch fest in der Hand.
Lettern wiegen schwer wie Gestein.
Sätze formen ein ganzes Gebirge.
Auf jeder Felswand die ich hinter mir lasse stehen Hieroglyphen.
Auf jedem Vorsprung den ich streife stehst du.
Jeder Griff nach dir fasst nur Leere.
Der Brief ist so tiefen Grundes, dass Fallen mir unendlich scheint. 

Ich trinke einen großen Schluck aus dem Kelch der Erinnerung.
Dickflüssig rinnt mir sein Blut die Kehle hinunter.
Schmerzhaft drückt er auf mein Herz.
Meine Augen suchen nach dem flackernden Kerzenschein.
Das Tänzeln ist einer andächtig ruhenden Flamme gewichen.
Ich kann deine Nähe spüren, im ganzen Raum.
Zusammen lesen wir deine letzten Worte.
Gemeinsam trinken wir Schluck für Schluck.
Mit jedem Foto, welches wir uns ansehen nimmt dein Gesicht neben mir Gestalt an.
Deine Hand führt meine Hand.
Nach und nach vertrauen wir die Briefe und die Fotos der Kerze an.
Es riecht nach vielen Erinnerungen, nach vielen gemeinsamen Momenten Glück, nach unzähligen Lachen, nach Träumen und Wünschen, nach uns.

Berauscht trinke ich ein letztes Mal aus dem Kelch  und lege den Hühnergott an seinen Platz zurück.
Es ist genug - für heute. Es regnet immer noch.
Ich weine nicht, zum ersten Mal, bin sogar glücklich - irgendwie.
Du bist da, immer.
Ich kann auf eine schöne Zeit schauen, angefüllt mit so vielen bunten und lebendigen Bildern.
Wer will da schon weinen und alles verwischen?
Und wenn es nochmal zu sehr schmerzt...

...betrinken wir uns wieder.


Anmerkung von AvaLiam:

Hühnergötter sind Steine mit einem natürlich entstandenen, durchgehenden Loch. Steine dieser Art sind meist Feuersteinknollen mit herausgewitterten Kreideeinlagerungen.

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Kommentare zu diesem Text


 Dieter_Rotmund (14.10.19)
Ist das autobiographisch?

 AvaLiam meinte dazu am 14.10.19:
Hallo Dieter

...das kann ich dir so einfach nicht beantworten...

Es gibt diesen Hühnerstein.
Auch Trauer hab ich sicherlich kennengelernt und wie sie einen zerreißen kann...
Und es gab / gibt Tage an denen Erinnerungen zelebriert werden, ganz bewusst, starke Tage.

Beim Schreiben hatte ich allerdings meine Freundin vor Augen, deren Mann mit 32 Jahren plötzlich verstorben ist.
Seit vielen Jahren kann ich beobachten, erleben und mitfühlen wie sie trauert aber auch Tage erlebt (und Gott sei Dank immer mehr) an denen ihr die schönen Erinnerungen wieder gelingen, sie mit einem Lächeln von ihm erzählen kann und manchmal ist es wirklich so, als ob er anwesend ist, auf eine angenehme Art.

So vermischt sich da einiges und ich hoffe auf keine törichte Weise.
Wie gesagt - es ist nicht so, dass ich nicht weiß wovon ich da schreibe. Die Vorlage war eben nur der Gedanke an meine Freundin.

Ich hoffe, du verzeihst mir dieses recht unklare "Jain" auf deine Frage.

liebe Grüße - Ava

Antwort geändert am 14.10.2019 um 10:46 Uhr

 Dieter_Rotmund antwortete darauf am 14.10.19:
Okay.

Der Text hat eine ganz große Schwäche: Er erzählt nicht, er schildert nur Befindlichkeiten.

 AvaLiam schrieb daraufhin am 14.10.19:
geschätzter Dieter,

man möge mich jetzt "verhauen" - es ging tatsächlich nicht ums Erzählen., vielmehr um eine Art Zwiegespräch - sowohl mit dem "Du" wie auch mit sich selbst quasi, Monolog trifft es ja von der Form her nicht - aber ja - so in die Richtung gehend.

Mir gefällt die reine Erzählweise vom Fluss her besser, fand ich hier aber unangemessen und unpassend.
Zudem hätte es die - ich sag mal plump - "Schritt-für-Schritt-Anleitung" untergraben, jedenfalls erschien es mir selbst beim Lesen als ungünstig.

Ich werds mit auf die gedankliche Nachbearbeitungsliste packen.

Danke dir - liebe Grüße Ava

 EkkehartMittelberg (14.10.19)
hallo Ava, ein wunderbarer Innerer Monolog über die allmähliche Lösung von lähmender Traurigkeit.
Liebe Grüße
Ekki

 AvaLiam äußerte darauf am 14.10.19:
Ach Ekki - du hast schon echte Lux-Augen...

genau so war es gemeint...

ich hatte schon die Befürchtung, dass die Message mit den Fotos und den Briefen verbrannt ist...

herzlich - Ava
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