Nietzsches Übermensch und der Nazi-Untermensch

Kritik zum Thema Betrug

von  Terminator

Nietzsches Ich-Phantasie vom Übermenschen handelt im Grunde von der Wiederaufstehung des Gottes der Ich-Religion: das Ich, der tote Gott, soll wie Osiris, Dionysos und Jesus zum ewigen Leben wiederauferstehen. Der Übermensch, der wiederauferstandene Ich-Gott, würde die volle Kontrolle über seine Triebe und Neigungen behalten und mächtiger Herr über das eigene Un- und Unterbewusste sein.

Der Wille zur Macht ist der Wille des Ichs zur Selbstbehauptung. Je größer die Macht, umso stärkere Feinde werden besiegbar, gipfelnd mit dem stärksten Feind des Ich, dem Unter- und Unbewussten. Dann hat der Wille die Kontrolle über den Körper und es entsteht der athletische asketische heroische Über-Mensch. Die atheistische Anthropologie bestimmt den Menschen implizit als ein Wesen mit einem Ich: das Ich ist das Wesen des Menschen. Doch das Wesen des Übermenschen ist nicht das Über-Ich: je mehr das Un- und Unterbewusste herrscht, umso stärker wird die äußere Herrschaft des Über-Ich über das Ich, welches sich notgedrungen unter die Herrschaft der Normen, der Sitten, des Gewissens, oder auch nur der gesellschaftlich ausgeübten Gewalt fügt, um von seinem inneren triebhaften Tyrann nicht zerstört zu werden.

Der Übermensch aber ist so stark, dass er ohne ein Über-Ich sein Unter- und Unbewusstes beherrschen kann. Der Über-Mensch braucht keinen guten Hirten, weil er gar keinen Hirten braucht. Die Nazi-Ideologie sah im Über-Ich nicht den guten Hirten, sondern das schädliche Gewissen, das die barbarische Vitalkraft des Menschen an ihrer Entfaltung hinderte. Hitler sah im hochmoralischen edlen Dschingis Khan nur den barbarischen skrupellosen Zerstörer, wo dieser in Wirklichkeit der Gesetzgeber in einem Zustand der Anarchie und der Gründer des legendären Mongolischen Friedens (pax mongolica) war.

Das vom Über-Ich losgelöste Ich, dass das Unter- und Unbewusste nicht beherrscht, sondern sich von dessen Triebhaftigkeit treiben lässt, ist nach Nietzsches Logik nicht der Über-, sondern der Unter-Mensch. Diese Bestie wurde zum Desiderat der barbarischen Ideologie der Nationalsozialisten, dieses Monstrum der heteronomen getriebenen Kraft. So wurde Nietzsches Idee vom Übermenschen durch die Nazis nicht bloß missverstanden, sondern ins Gegenteil verdreht.

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Kommentare zu diesem Text


 FRP (27.05.20)
So einfach ist es nicht. Franz Mehring und Georg Lukacs haben recht gut nachgewiesen, dass Nietzsche (der im Grunde gar kein Philosoph war, sondern freier Aphoristiker, und der seine Philosophie im Laufe seines Lebens dreimal geändert hat und der von allem, was er gesagt hat, auch irgendwann einmal das Gegenteil gesagt hat - Beispiel: "Frieden und Freundschaft mit dem Araber, Feindschaft mit den Juden" contra (sinngemäß): "Man sollte Preußen und Juden kreuzen, dann kämen vielleicht brauchbare Deutsche heraus" - das eben Nietzsche, in dem er die Werte "Ethik, Moral und Mitleid" zertrümmert hat, gemeinsam mit Wagner (ein Antisemit sondergleichen) es sozusagen als Kultur- und Geistesgrößen erst möglich gemacht hat, dass Zwerge wie Hitler ungestraft denken, sagen und tun dürfen, was sie tun - kein Wunder; Mitleid mit Opfern ist ist ja dekadent. Was zu schwach ist, soll untergehen, und man soll ihm dazu noch helfen. Ein Satz wie von Hitler, gedacht hat ihn Nietzsche. Und meinst Du jenen Temudschin, der das gesamte Volk der Tataren am Radstift hat messen lassen, jeden geköpft hat, der darüber hinaus ragte (weil einer jener Tataren seinen Vater vergiftet hatte) - Dschingis, der Schätzungsweise 200.000 Menschen auf dem Gewissen hat, ganze Regionen unbewohnbar machte, und der noch post mortem für Tod sorgte, indem sein Leichenzug auf dem Rückweg vom Burkan Kaldun alles Leben, den er (also der Leichenzug) gegegnete, auslöschte? 12tausend Schwalben und Katzen angezündet, damit sie zurück in die Häuser einer belagerten Stadt rennen, die dann lichterloh brennt? Pyramiden aus 20.000 Menschenschädeln hat aufrichten lassen, wo war das gleich? Buchara? Aber io sono d'accor: Im Vergleich zu Hitler hatte er Ehre und Anstand. Seine Mongolen waren aber auch nicht so ganz glücklich, weil er das Gesetz der Väter mit der Jassa brach. Das Nietzsche sich vor den Nazis geekelt hätte, glaube ich wohl; wenn auch seine Schwester, das Lama Elisabeth, Hitler Nietzsches Spazierstock schenkte, und die braune Brühe euphorisch begrüßte. Wo ist eigentlich nun Nietzsches Spazierstock? Haben ihn die Russen im Führerbunker verheizt, oder die Amis in Berchtesgarden geklaut?

Kommentar geändert am 27.05.2020 um 17:32 Uhr

Kommentar geändert am 27.05.2020 um 17:36 Uhr

 Terminator meinte dazu am 27.05.20:
Nicht der empirisch-historische, der systematische Nietzsche ist hier interessant. Mit "Gott ist tot" kann bei tieferer Schau nicht der Vater von Jesus gemeint sein, und mit dem Übermenschen nicht der Zombie, der sein Gewissen in der Parteizentrale abgibt (da gleicht der Nazi-Herdenmensch dem Kommunisten).

Es ist in der Tat so einfach, weil einfach ein anderer Aspekt zugrunde liegt (das Thema des Mehrteilers). Aber der Philosoph muss auch als Mensch betrachtet werden, das ist schon richtig: wie er seine Meinung änderte, welche Erlebnisse sein Erkenntnisinteresse formten usw. Und doch ist mehr erst einmal egal, was Marx für ein Rassist war, wenn ich das Kapital lese.

Die Menschenschläge, die im Mongolensturm untergingen, waren schlimmer als die Mongolen selbst: "Eure Sünden müssen groß sein, wenn der Himmel mich als Strafe schickt". Da muss man die Zeit kennen und die damals in Asien übliche Art der Kriegsführung. Der Mongolensturm war kein Zivilisationsbruch, das Dritte Reich war eindeutig einer.

 FRP antwortete darauf am 27.05.20:
"Die Menschenschläge, die im Mongolensturm untergingen, waren schlimmer als die Mongolen selbst: "Eure Sünden müssen groß sein, wenn der Himmel mich als Strafe schickt". Da muss man die Zeit kennen und die damals in Asien übliche Art der Kriegsführung."

Keine Sorge, ich kenne die Zeit und die Art der Kriegsführung. Was andere bislang taten sollte niemals, zu keiner Zeit, das eigene Gewissen ausschalten - sonst wird man eben zum Mörder und Verbrecher. "Ich bin die Geißel Gottes", hat Dschingis gesagt. Das ist aber das verlogene, demagogische Postulat eines jeden Diktators, um andere zu unterjochen und deren Ressourcen auszubeuten, von Cäsar bis Putin. Selbst wenn das so wäre, leitet sich daraus kein Rechtsanspruch für die auf die Waren der Chinesen gierenden ach-so-edlen-Mongolen ab. Und nein, Dschebe und Subutai haben mit ihren 30.000 Mann die gesamte Südrussische Zivilisation vernichtet, meinethalben: abgebrochen. Auch Hitler hat den Genozid an den Juden als Säuberung dargestellt, und wenn Du im Ernst so denkst, dass Dschingis ein Recht dazu hatte, reihst Du Dich praktisch genau dort, in dieser Denke, ein. Und Du willst doch nicht im Ernst behaupten, dass die Kultur der Chin und Sung, der Uiguren, das Choresmische Reich, die Südrussische Kultur schlimmer gewesen wären als die jener primitiven Steppenkrieger, die sich einzig auf die Schnelligkeit ihrer Kavallerie, ihre Skrupelosigkeit und die Wiederentdeckung der militärischen Gliederung in Zehner-, Hunderter- und Tausender-Korps gründete. Was haben sie erschaffen, außer jener idealisierten, bereits nach Kubilai verkommenen Pax Mongolica? Die Jassa war bereits 1360 obsolet. "Es darf nur einen Herrscher unter der Sonne geben" - klar, und der pinkelt gleich neben seine Jurte. Das der Mensch den anderen nicht in Ruhe lassen kann, - das ist in Wahrheit die Geißel der Menschheit.

Antwort geändert am 27.05.2020 um 20:43 Uhr

Antwort geändert am 27.05.2020 um 20:45 Uhr

 Terminator schrieb daraufhin am 28.05.20:
Aber selbstverständlich haben die mongolischen Barbaren den heiligen Choresm-Shah, die friedlichen Brudermörder-Staaten der Kiewer Rus, die kunstliebenden Tanguten, die menschenliebenden Jurchen usw. brutal abgeschlachtet wie Arnold Schwarzenegger die unschuldigen Mafiosi in "Raw Deal" (1986).

Relativieren und in Bezug zum Zeitalter setzen ist nicht dasselbe. Wenn ich z. B. sage, dass nicht nur die Nazis, sondern alle zu deren Zeit Eugenikprogramme hatten und unbequeme Menschen in die Psychiatrie steckten, dann relativiere ich nicht. Man kann es sich bequem machen und sagen, die gesamte Menschheitsgeschichte sei ein einziger Schlachthof, der Mensch des Menschen Wolf und die Menschheit sollte am besten verschwinden. Dann sollte man konsequenterweise Antinatalist sein. Oder man betrachtet die Geschichte nüchtern und objektiv. Selbst dann erscheinen Figuren wie Timur Lenk oder eben auch Hitler mit ihrer sinnlosen Zerstörungswut als Verbrecher, während man Alexander und Napoleon zugestehen muss, dass sie ehrenvolle Ziele hatten und diese eben mit den Mitteln ihrer Zeit verfolgten.

Im Nachhinein, da die Mongolen die halbe Welt eroberten, kann man sie leicht verurteilen, aber sie griffen nicht nach der Weltherrschaft, sondern erwiesen nur als siegreich gegenüber zahlreicheren und nicht gerade friedlicheren Gegnern. Kaum griffen die Mongolen die Jurchen an, von denen sie früher bedrängt wurden, machte sich das friedfertige hochzivilisierte Sung-China an die Beute. Die erste Begegnung der Rus-Fürsten mit den Mongolen verlief so, dass diese zusammen mit den Kumanen die Mongolen angriffen und verloren. Die Choresmier töteten ohne Not mongolische Botschafter, die nur Handelsbeziehungen aushandeln wollten. Und sie waren selbst gerade dabei, ihre Nachbarn zu erobern. Egal, man kann auch den Krieg an sich moralisch verurteilen. Wir leben seit drei Generationen in einem Friedenszustand, den wir als Selbstverständlichkeit betrachten. Im Mittelalter war Krieg Normalzustand. Lebte ein Pazifist zu jener Zeit, müsste er bedauern, das Schwert in die Hand nehmen zu müssen, aber er wäre ja nicht in Frieden gelassen worden (außer er zöge in die Wüste als Eremit).

 FRP äußerte darauf am 28.05.20:
"aber sie griffen nicht nach der Weltherrschaft" - doch, doch: "So weit der Hufen eines Mongolenpferdes kommt". Und die Kumanen flüchteten sich vor den Mongolen erst zu den Russen, dann zu den Ungarn. Sie waren auf der Flucht, suchten Schutz und Obdach, keine Rede von einem Angriff, höchstens im Sinne von "Angriff ist die beste Verteidigung, aber sie stießen auf die Kundschafter Dschebe und Subutai mit ihren Expeditions-Heer. Die Mongolen betrachteten "das Kumanenvolk als unser Eigentum". Die moralische Frage ist für mich eben jene, ob ich aus dem Mord an einem Gesanden (der sowieso bei den Mongolen immer ein Angehöriger des betreffenden Volkes war, oder der ethnisch-zunächst-Liegende - für die Russen zum Beispiel ein Engländer als Gesander - eben eine ganzen Vernichtungskrieg ableite (wobei ich mir dann den Vorwurf gefallen lassen muß, ich hätte ja nur drauf gewartet - und außerdem hat der Stadthalter von Otrar die Mongolen als Spione angesehen; oder ob ich da drüber stehe). Sintemalen Dschingis später selbst noch schnell auf dem Sterbebett die Gesanden der Hsi-Hsia meucheln ließ. Da war der Gesande plötzlich nicht mehr heilig, so, wie es meinen Zielen gerade passt. Egal, Du hast schon recht, für mich ist die Menschheitsgeschichte nichts als Leid und ein Waten im Blut. Es gab Buddha, es gab Jesus; aber genutzt hat es nichts. Der Mensch verkleidet seine Gier gern in hehre philosophische Konstrukte, im Prinzip ist alles nur ein einziges "die haben es, ich aber will es, und schaut her, dieses mein Konstrukt ist mein Rechtsanspruch". Jetzt, im Alter hinterfrage ich all diese sogenannten hehren Gedanken, zum Beispiel die eines Napoleon. Für Eugen Tarlé war er (ob er wollte oder nicht, nichts als ein Wegbereiter des Frühkapitalismus, ob er sich dessen bewußt war, oder nicht). Sein Krieg gegen Russland galt kapitalistischen Interessen, nämlich der Ausweitung der ansonsten Wirkungs-losen Kontinentalsperre. Ich liebe den einsamen Nietzsche von Sils Maria, aber was er dachte, bereitete den Nazis den Weg, ob er wollte, oder nicht. Sein hehres Philosophieren vom Übermensch nahm Hitler einen jeden Skrupel, nach dem Motto: Schaut her, wenn solch große Geister jenes wissen, wie kann ich dann fehlen, indem ich wahr mache, was sie nur dachten? Kein Rasse-Züchtender Gedanke (in Bezug auf die Menschheit) kann unschuldig sein. Danach, nach ihren Auswirkungen, betrachte ich einen jeden Denker und sein Konstrukt. Meine Tragik ist, das ich Wagners Musik (zum Beispiel) trotzdem liebe.

Antwort geändert am 28.05.2020 um 06:57 Uhr
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