Wo die alten Männer weinen!

Bericht zum Thema Anerkennung

von  Thomas-Wiefelhaus

Geschlossene Gesellschaft. Seit einer Viertelstunde sitze ich in einem kleinen Saal an einer langen Tischreihe. Der unbekannte Mann, rechts neben mir, mag fünf Jahre älter sein als ich. Neben ihm sitzt seine Frau. Er weint die ganze Zeit.

Der Mann links neben mir war im Haus Moorhort, in Freistatt. Er erzählt mir gerade, wie er, vom Heim aus, für Geld (das natürlich für den Haus -„Vater“ bestimmt war) zum arbeiten an Bauern in der Umgebung ausgeliehen worden sei. Er habe auch eine Zeit lang, als Strafe wegen Arbeitsverweigerung eingesperrt, in der dortigen Einzel-Zelle verbracht!

Nun bricht auch der weinende Mann rechts neben mir sein Schweigen. Er sei mit zwölf Jahren in das Heim „Heidequelle“ gekommen, erzählt er unter Tränen. Bereits in der ersten Nacht wurde er von einer Gruppe von größeren Jungen mit Laken ans Bett gefesselt und vergewaltigt. Der Schlafsaal, in dem das geschah, war nachts unbeaufsichtigt. „Ich habe fast 20 Jahre gebraucht, um es meiner Frau erzählen zu können!“
Hier darf er endlich einmal öffentlich weinen und niemanden stört es. Den Schmerz rauslassen! Endlich Sprechen dürfen!

Währenddessen höre ich von der Tischreihe gegenüber: „Und wir mussten immer diese Tabletten nehmen!“ Tabletten? Müssen? Kommt mir doch bekannt vor!

Ich bin bei meinem ersten Heimkindertreffen. Der zweite Vorsitzende eines Vereines für ehemalige Heimkinder, ein großer behinderter Mann, ist einen größeren Umweg gefahren, um mich mit der Bahn kostenlos mitzunehmen. Er wirkt auf mich ziemlich rigoros. Jemand der gelernt hat, sich zu wehren. Natürlich! Er erzählt mir im Zug, dass er ständig deutschlandweit mit der Bahn unterwegs sei, immer im Dienst der Anerkennung von Heimkindern. Obwohl er wegen seiner Behinderung kostenlos den Nahverkehr nutzen kann, hat er eine Jahreskarte für die Bundesbahn: Weil es schneller geht, wenn er nach Süddeutschland muss. Ich erfahre, dass es auch noch einen zweiten Verein für ehemalige Heimkinder gibt, von dem hält er aber nicht viel. „Um den sollte man sich gar nicht kümmern!“ Er mache die Heimkindertreffen nicht, um Leute aus der Vergangenheit wieder zu treffen, dass interessiere ihn überhaupt nicht. Ich entgegnete, dass ich mich schon freuen würde, das eine oder andere Gesicht zufälligerweise wiederzusehen; bei manchem anderen Gesicht allerdings, würde ich mich vielleicht etwas weniger freuen.
Er erzählt: „Gestern habe ich einen Mann aus … angerufen, der hat am Telefon geweint!“ – „Ja genau!“, entgegnete ich. „Das war ich!“
Mir ist nicht ganz klar, ob er vergessen hat, dass ich es war, der am Telefon weinte, oder ob der Weinende ein anderer aus meinem Ort gewesen ist? (Der womöglich noch viel mehr und viel länger geweint hatte?) Aber das ist wohl auch nicht so wichtig! „Manche sind im Heim traumatisiert worden“, habe ich am Telefon gesagt, „andere waren schon traumatisiert, bevor sie ins Heim kamen!“


Nach der Begrüßung durch den zweiten Vorsitzenden und einem Referat werden verschiedene Probleme besprochen. Unter anderem geht es um gravierende Arbeitsunfälle, die während der Zwangsarbeit im Heim geschahen und zu Todesfällen oder bleibenden Behinderungen führten. Für diese Arbeitsunfälle möchte niemand zuständig sein, denn natürlich waren die Heimkinder während der Arbeit, etwa an gefährlichen Geräten, nicht versichert. Das Gesagte erinnert mich an meinen eigenen schmerzhaften Arbeitsunfall: Hand im Förderband. Gut, dass dieser keine bleibenden Schäden hinterließ. Obwohl damals jemand sagte, die Hand hätte auch ab sein können. Doch ich will mich nicht beschweren, hatte selber mit der Arbeit vergleichsweise Glück.

Die örtliche Presse hat nicht den Weg zum Heimkindertreffen gefunden. Aber es ist ja auch eine geschlossene Gesellschaft: eben für ehemalige Heimkinder und deren Angehörige. Kaum Frauen, einige Freundinnen und Ehefrauen der Männer, dazu eine Buch-Autorin mit eigener Heimerfahrung, mit der ich ein längeres Gespräch führe.

Später geraten der zweite Vorsitzende und ein anwesender Mann in einen lautstarken Streit. „Wir sitzen doch alle in einem Boot!“ – „Verbrecher haben hier nichts verloren!“
Es geht wohl darum, dass dieser Mann in einem Fernsehinterview damit geprahlt hat, dass er nach dem Heim eine Karriere als Zuhälter gestartet habe? Und dass er selber in einem anderen Heim, aber niemals in Freistatt gewesen ist?

Die Mischung aus schwer kriminellen, leicht kriminellen und nicht kriminellen Jugendlichen in einem Heim. Der Vollwaise, dessen Eltern beispielsweise beim Verkehrsunfall starben, neben dem Einbrecher und dem Autoknacker, dem ungeliebten Kind, das vielleicht schon von klein auf im Heim war, dem Drogenhändler, dem Strichjungen, dem Ausreißer, dem ehemaligen jungen Psychiatriepatienten. Für mich auch ein Thema. Viele sehr verschiedene Geschichten!

Den Ort, wo das Heim „Heidequelle“ liegt, kenne ich gut. Glücklicherweise kenne ich es nicht von Innen! Es liegt nur wenige Schritte hinter dem Segelflugplatz in Oerlinghausen in der Senne an einem naturschönen Wanderweg. Als Erwachsener bin ich öfters an diesem Heim vorbei gewandert, ohne zu wissen, was dort passierte. In der Nähe ist heute ein Flüchtlingsheim und wohl auch eine Art Nudisten-Camp. Vom Segelflugplatz aus sieht man auf den Höhenzug des Teutoburger Waldes. Weiße Segelflugzeuge kreisen im Aufwind bis in den Himmel. Kleine Heideflächen ringsumher. Auf einer der blühenden Heideflächen sah ich einmal einen Fotografen ein Brautpaar fotografieren. Man denkt sich ahnungslos: Welch ein Ort zum Wohlfühlen! – Prima Ausflugsziel!
Natürlich weiß ich, dass der weinende Mann neben mir die Geschichte aus der „Heidequelle“ nicht fertig erzählt hat. Ich hätte einige Fragen gehabt. Wie ging es weiter? Musste er es lange in räumlicher Nähe mit den Tätern aushalten? Wie hat die Heimleitung reagiert? Hat sie es überhaupt erfahren? Kam er gleich in ein anderes Heim? Ich weiß nur, dass er irgendwann auch nach Freistatt kam. Was hat er dort erlebt? – Ich traue mich nicht, eine einzige dieser Fragen zu stellen. Traue mich auch nicht, über meine Geschichte zu reden. Aber vielleicht braucht es etwas Zeit dazu.

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Kommentare zu diesem Text


 EkkehartMittelberg (21.10.20)
hallo Thomas, wieder einer deiner aufklärerischen beeindruckenden Berichte.
LG
Ekki

 Thomas-Wiefelhaus meinte dazu am 29.01.21:
Ich sehe heute, nach der Definition von KV wäre mein Bericht gar kein Bericht. Aber ich habe es nicht so mit derartigen Einteilungen.

 franky (21.10.20)
Hi Thomas


Auch ich war in einem Internat für Blinde in Graz. Dort wurde ich mit einem kräftigen Fusstritt von unserer Knabenschwester in den Hintern bedacht, dass ich gradewegs in eine Ecke flog. Mit meinen 10 Jahren, blind und Beinprothese, konnte ich nicht viel Gegenwehr anbringen. Schmerzte mir noch wochenlang am Hintern beim Sitzen.
Als Bettnässer wurde ich von genannter Klosterschwester Mit einem Teppichklopfer verprügelt, bevor es dann in die Kirche ging, um für Barmherzigkeit zu beten. (1946)

Grüße von Franky

 Graeculus antwortete darauf am 21.10.20:
Es ist ungeheuerlich!

 Thomas-Wiefelhaus schrieb daraufhin am 22.10.20:
Leider oft passiert, dass gerade behinderte und kleine Kinder von herrischen Erwachsenen in Heimen gemobbt und geschlagen wurden!
Und das nicht nur kurz mach dem Krieg, wie bei Franky!

Ich las ein Buch von einem Betroffenen, in dem, wenn ich mich recht ersinne, eine Schwester sich nicht mehr traute, frech zu werden, nachdem sich das Kind zum ersten mal wehren konnte. Feige war diese Täterin also auch noch!

PS.:
@Franky: Vor einigen Jahren war ich mit einer blinden Frau, befreundet, die oft am Computer saß und eine Vorrichtung benutze, die den Bildschirminhalt in Blindenschrift übertrug. Hab vergessen, wie die Vorrichtung hieß, aber sie war sehr teuer!
Ist das mittlerweile billiger geworden? Oder geht es über Ton?
Stelzie (55)
(21.10.20)
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 Thomas-Wiefelhaus äußerte darauf am 22.10.20:
Danke für den guten Wunsch. Mit dem Verarbeiten haben viele Betroffene ein Leben lang zu tun.
Aber man sollte der Vergangenheit auch nicht mehr Macht und Raum geben, als sie verdient, Sonst hält sie einen - möglicherweise- von vielem ab.

 AvaLiam (24.10.20)
Heute ist kein Tag, an dem ich etwas dazu schreiben möchte...
...nur soviel: ich kann deine Worte fühlen...

LG - Ava

 Thomas-Wiefelhaus ergänzte dazu am 03.11.20:
Vielen Dank für diesen Kommentar! Ein großes Kompliment!
Agnete (66)
(04.11.20)
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 Thomas-Wiefelhaus meinte dazu am 11.11.20:
In der DDR ging es Heimkindern oft besonders schlecht. Leider habe ich wenig persönliche Kontakte. Einmal las ein Mann mir eine Geschichte aus einer DDR-Zelle vor, in der er als Jugendlicher einsaß.

Eine Bekannte aus der DDR erzählte, sie wäre als Erwachsene in einem Psychiatrie-Schlafsaal mit 50 Betten gewesen und man habe ihr aus "Jux" mal eine Toten in ihr Bett gelegt.

Grüße, auch an deinen Mann!
Hat er eine Entschädigung bekommen?

Antwort geändert am 11.11.2020 um 22:57 Uhr
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