Wieder einmal war ich bei Michael und Katrin zu Besuch. Ich konnte einfach nicht anders, obwohl ich mich dafür hasste. Auch jetzt zu Weihnachten musste ich es tun.
Doch heute spürte ich, dass ich unwillkommen war, zumindest bei Katrin, die zickte rum und wollte mich wohl loswerden, aber mit stoischer Gelassenheit ignorierte ich ihre Anspielungen. Stattdessen bewunderte ich überschwänglich den Weihnachtsbaum mit seinen blinkenden LED-Lichtern. Kleine Glöckchen zitterten leise an seiner Spitze, und das fand ich schön. Es erinnerte mich an etwas, aber ich wusste nicht, woran...
Ob Katrin was gemerkt hatte? Na und wenn schon, die Schlampe ging genauso fremd wie ihr Ehemann. Nur dass SIE es eher getan hatte als ER. Woher ich das wusste? Nun, ER hatte es mir erzählt. Und kurz darauf landeten wir im Bett. Es handelte sich köstlicherweise um das Ehebett des Paares, denn Katrin war nicht da, vermutlich hielt sie sich bei und mit ihrem Liebhaber auf.
Es war schön mit Michael. Seine Küsse berauschend, sein Körper vertraut und aufregend zugleich – ich hatte ihn immer angebetet, schon als kleines Mädchen. Er sah so gut aus, er war so einfühlsam, so gebildet - und so ausgehungert nach Liebe. Ich weiß nicht, ob es ihn nur nach körperlicher Liebe verlangte, vielleicht brauchte er ja das volle Paket: Anbetung, Respekt und so weiter. Von mir bekam er alles. Wie sehr musste Katrin ihn runtergebracht haben. Andererseits gibt es bei solchen Dingen immer zwei Schuldige, doch in diesem Fall war ich geneigt, alles seiner Frau anzukreiden.
Katrin ging in die Küche, und ich rutschte näher an Michael heran. Wir hörten die Haustür klappen. Seine Frau war weg. Er seufzte auf und nahm mich in seine Arme. Liebte er sie noch? Es war mir egal, ich lechzte nach ihm und überließ mich seinem Mund und seinen Händen.
Später sagte er: „Cécile, meine Kleine, ich möchte bei dir schlafen, in deinem Bett!“
„Das ist aber gefährlich“, ich musste lachen, „meine Eltern sind doch da und Tante Sophie auch, die kommt immer zu Weihnachten angereist...“ Ich wunderte mich über seinen Wunsch, es sei denn, er hätte einen Entschluss gefasst. Wollte er sich zu mir bekennen? Das kam mir unwahrscheinlich vor. Vielleicht wollte er nur ein Zeichen setzen, wenn ich nur wüsste, was für ein Zeichen…
„Ist mir egal...“, Mit diesen Worten küsste er meine Bedenken hinweg.
Es war schon spät, also brachen wir kurz darauf auf und schlichen uns ins Haus meiner Eltern. Leise, ganz leise. Ich zog einen züchtigen Schlafanzug an. Und Michael auch, er hatte einen von zuhause mitgenommen. Wir mussten kichern, als wir uns betrachteten: Wir sahen aus wie ein altes Ehepaar.
Und so lagen wir auch in meinem Bett und hielten uns fest. Vollkommen unschuldig, kein Sex, nur leise Gespräche, nur ein bisschen Streicheln, ich glaube, er hatte nicht einmal eine Erektion. Ich fand es richtig und kuschelte mich an ihn. Vielleicht war es der schönste Augenblick in meinem Leben, und ich wollte diesen Augenblick voll auskosten, Michael zu spüren, seinen Körper, seine Hände, seine Worte.
In der Nacht wurde ich von einem entsetzlichen Schrei geweckt. Ich fuhr auf. Michael lag nicht mehr neben mir. Er war bestimmt ins Badezimmer gegangen – und irgendjemanden voll in die Arme gelaufen. Im besten Fall der Tante Sophie. Im schlimmsten Fall… nein nicht der! Das wäre übel, ganz übel.
Ich vergrub mich unter der Bettdecke und wartete atemlos. Bis ich spürte, dass eine Hand nach mir tastete, es war seine Hand. „Es wird alles gut“, flüsterte Michael mir zu. Ich tauchte wieder auf und legte meinen Kopf an seine Schulter. Wie tröstlich er sich anfühlte und wie sehr ich ihn liebte. Seltsam, dass es so wehtat, jemanden so zu lieben.
Leider war der schlimmste Fall eingetreten, denn keine Minute später standen Mutter und Vater - Mutter hatte Vater zu Hilfe geholt – anklagend vor meinem Bett.
„Wir möchten euch sprechen!“
„Okay“, sagte ich. Ich erhob mich und fühlte den Blick meiner Mutter listig über meinen unschuldigen Schlafanzug wandern. Sie war bestimmt sehr enttäuscht darüber, hätte mich lieber nackt erwartet. Meine Mutter und ich - wir mögen uns nicht besonders...
„Zieh dir was an“, sagte ich leise zu Michael, er hockte neben mir auf der Bettkante, und sein Gesicht wirkte vollkommen undurchschaubar. „Ich will nicht, dass sie dich so sehen.“
Wenig später saßen Michael und ich nebeneinander auf dem altmodischen Sofa im Wohnzimmer meiner Eltern, er hatte sich angekleidet und wieder respektabel gemacht, ich hingegen fühlte mich sehr verletzlich in meinem unschuldigen Schlafanzug. Uns gegenüber meine Eltern und die permanent nach Zigarettenqualm stinkende Tante Sophie, die uns aus ihren Vogelaugen anglotzte. Der mickrige Weihnachtsbaum in der Ecke des Raumes war nicht besonders schön geschmückt, und die schwere Christbaumspitze drückte ihn noch mehr hinunter. Seltsam, was man in so einem Augenblick für Gedanken hat.
Mein Vater wirkte verwirrt, aber nicht besonders ärgerlich, vermutlich bewunderte er Michael, der als relativ alter Sack noch so ein junges Mädchen ins Bett gekriegt hatte: ‚Hat er? Und wie ist das wohl?’ Ich las meinem Vater die Gedanken von der Stirn ab - und konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. Mein Vater ist ein ziemliches Ferkel, ein Ferkel, das meine Mutter oft betrogen hat…
„Lach nicht, du Hure!“, schrie meine Mutter mich an.
„Und du bist eine ungepflegte Schlampe“, sagte ich gelassen. „Vielleicht geht dein Mann deswegen fremd ...“
Sie glotzte mich blöd an und verzog das Gesicht, als ob sie gleich weinen wollte.
Ja, ich war gemein, aber ich fühlte mich überaus stark, und ich wollte auf keinen Fall klein beigeben. Warum auch? Das Leben war eben so. Die Liebe... die war nach ein paar Jahren weg. Und der Respekt, der meiner Meinung nach viel wichtiger war als die Liebe, der war auch weg. So what? Ich weiß, ich bin manchmal zynisch, ähnlich wie die junge Cécile in „Bonjour Tristesse“, deren Namen ich zufällig trage. Die hatte die zukünftige Ehefrau ihres Vaters durch Intrigen in den Tod getrieben. Würde ich genauso rücksichtslos sein, um einen geliebten Menschen für mich zu behalten? Die Sagan hat den Roman 1954 geschrieben, seitdem ist eine lange Zeit vergangen. Und eine Siebzehnjährige von heute ist bestimmt noch viel abgebrühter...
Keiner von meiner Verwandtschaft sagte etwas, alle schwiegen dumpf brütend vor sich hin.
„Was glaubt ihr eigentlich von uns!“ Auch darauf erfolgte keinerlei Reaktion, also fuhr ich fort: „Es geht hier nicht um Liebe, ich liebe Michael nicht, und er liebt mich auch nicht.“
Ich wandte mich Michael zu, in seinen Augen stand Enttäuschung, doch dann verwandelte sich dieser Ausdruck in Erleichterung. Er verstand es, und er wusste es. Zumindest was ihn selbst anging.
Es tat mir weh, sehr weh, und umso heftiger wurde meine Rede: „Also, was wollt ihr von uns? Wir könnten ja auch noch Katrin dazubitten, die hat seit längerer Zeit ein Verhältnis. Wer trägt Schuld daran? Michael vielleicht, ich vielleicht, Katrin vielleicht ... Also haltet die Klappe! Haltet ja die Klappe! “
Und sie hielten die Klappe. Gut für sie!
Michael verließ nach kurzem Zögern das Haus, und ich wusste, es war vorbei. Fast wollte ich ihm hinterherlaufen, ihn küssen, ihn von meiner Liebe überzeugen und davon, dass ich die Richtige für ihn wäre. Aber ich bezwang diesen Wunsch und ging wieder ins Bett, als wäre nichts geschehen.
Mein Gott, was hatte ich getan? Ich liebte ihn doch, würde ihn immer lieben. Und er hatte sich doch schon für mich entschieden. Warum sonst wollte er bei mir schlafen im Haus meiner Eltern. Es war so wunderbar gewesen, und ich würde immer daran denken. Oder denken müssen. Aber mit mir konnte er nicht glücklich werden. Ich war nicht die Richtige für ihn, war viel zu jung. Ich musste ihm eine Chance geben, entweder mit Katrin, seiner Frau oder mit einer anderen, die ihn zu schätzen wusste. Oh nein, ich hasste sie alle!
Ich fühlte, wie mein Gesicht nass wurde, als ich allein in meinem Bett lag. Das Kissen war noch warm von ihm. Neben mir lag sein Schlafanzug, der nach ihm roch, ich vergrub meine Tränen darin. Michael war weg, und ich würde ihn nie wieder sehen. Oder doch? Vielleicht ein paar Jahre später, wenn ich erwachsen wäre… Nein, nicht drauf verlassen. Es war vorbei. Endgültig.
Aus dem Wohnzimmer hörte ich ein leises Klingeln, und ich stand auf. Es kam vom Weihnachtsbaum, von diesem mickrigen toten Gewächs. Die Christbaumspitze, geschmacklos wie alles in diesem Haus vibrierte vor sich hin, und es hörte sich gut an. Wie ein leises Gebet in einer Kirche. Ich liebe Kirchen, dort fühle ich mich getröstet, die Wände strahlen etwas aus, vielleicht ist es die Patina von allen Gebeten, die dort je gesprochen wurden. Seltsam, das hier in diesem Wohnzimmer zu erleben. Aber ich zweifle nie etwas an, das mich berührt. Weihnachten, das Fest der Liebe. Diesmal war es wirklich voll Liebe gewesen. Meiner Liebe …
Nachwort: Diese Story habe ich geträumt, ich schrieb den Traum auf, füllte die unverständlichen Lücken mit Worten – und widme die Geschichte Françoise Sagan und ihrem Roman „Bonjour tristesse“.