Ich erzähle nicht allen Leuten davon, nur bestimmten. Warum? Weil ich dann immer weinen muss, und ich will nicht mehr weinen. Doch ich kann es nicht steuern, manchmal sind meine Augen nass, wenn ich aufwache. Die Haare sind natürlich weg, aber die Perücke, die ich mir beizeiten angeschafft habe, sieht gut aus. Viele Leute meinen, dass ich noch nie so gut ausgesehen habe. Das tröstet mich ein wenig - und ärgert mich, dass ich nie die passende Frisur für mich gefunden habe.
Mein Arzt hat gesagt: Drei Monate plus sehr viel länger, falls die Chemo anschlagen sollte. Drei Monate sind sehr lang. Wenn ich daran denke, wie lang drei Monate als Kind für mich waren. Es ist alles fast normal. Aber nur fast. Im Hintergrund lauert das unsagbare, ich verdränge es vorerst... Manchmal habe ich fürchterliche Schmerzen nach der Chemo, und manchmal fühle ich mich blendend.
Als meine „Mutter“ hier war, hat sie gar nichts gesagt. Und ich habe auch nichts gesagt. Manchmal frage ich, warum diese Leute mich adoptiert haben. Ich hatte bis jetzt immer gedacht, sie müssten etwas Gutes in sich haben. Aber das stimmt nicht. Von meiner Mutter gab es nur Prügel und nie den Hauch einer Zuneigung. Mein „Vater“ ist auch nicht besser: Er hatte es von meiner Tochter erfahren, und als ich ihm telefonisch zum Geburtstag gratulieren wollte, da meinte er tatsächlich: „Hast du denn auch Geld für deine Beerdigung zurückgelegt? Nicht dass andere noch für dich zahlen müssen!“
Natürlich war ich platt. Ich sagte ihm, dass das wohl meine geringste Sorge wäre und dass, falls es wirklich nicht reichen sollte, Iggy für mich einspringen würde. Dann beendete ich das Gespräch. Trotzdem kam zwei Wochen später „Mutter“ angereist. Sie nahm mich nicht in den Arm, sie fragte nicht, wie es mir geht. Aber trotzdem erwartet sie, dass ich sie anrufe. Sie liest gerne Mutter-Kind-Kitsch-Romane, aber die einzige Mutter ist und war sie für meinen jüngeren „Bruder“. Vielleicht liegt es daran, dass er ein Junge ist und Iggy und ich nur Mädchen.
Ansonsten führe ich ein ganz normales Leben, verbringe viel Zeit mit Freunden und mit meiner Tochter und meinen Enkeln. Und meine sogenannte Mutter wird mich wohl erst bei meiner Beerdigung wiedersehen. Das ist wieder ein Grund zum Weinen. Es ist alles nicht fair!