Nøkken und der Fossegrim
Märchen zum Thema Mensch und Natur
von Judas
Wenn die Sonne untergeht und es allmählich dunkelt, wenn die Schatten der Gletscher bis zu den Wassern reichen und der Forst schwarz wird, dann feiern die Waldgeister Hochzeit. Aber weh dir, du wagst dich hinaus, denn es herrscht Finsternis. Und in der Finsternis... leben die Trolle. Dann besuchen sie einander und herrschen über die Wälder und jede einsame Seele, die es wagt, nachts zwischen den Bäumen umher zu irren.
Die Geschichte, die ich dir erzählen möchte, trägt sich in einer solchen nebeldunstigen Nacht zu. Tief drinnen im Wald, wo man nur noch wie aus weiter Ferne das Rauschen des mächtigen Furebergfossen hören kann, liegt ein verschwiegender Teich. Verlockend glitzert er zwischen den dunklen Tannenstämmen. In ihm lebt ein heimtückischer Nøkk. Manchmal, wenn der Nebel besonders dick um die Föhren kriecht, verlässt er seinen unergründlichen Tümpel und wandert zum rauschenden Wasserfall am Fureberg, um seinen Verwandten zu besuchen. So auch in jener Nacht.
Tosend stürzen die Wassermassen den Berg hinab in den dunklen Fjord hinein. Der Nøkk kriecht auf einen Felsen am Fuße des Falls, räuspert sich und erhebt dann brummend seine Stimme: „Grim, Grim, du hässliches Froschgesicht, ich bin es, dein Bruder!“ Nøkk wartet. Es scheint ihm, als würde das Rauschen des Wasserfalls leiser werden und ein Froschkonzert angestimmt. Erst leise und dann immer lauter werdend gesellt sich dann ein schriller Fiedelton dazu. Schließlich spaltet eine Gestalt den Wasserfall und tritt hervor. Fossegrim begrüßt seinen Bruder mit einem breiten, schmierigen Grinsen.
„Nøkken, es ist wie immer keine Freude dich zu sehen.“ Er spielt noch ein paar Töne auf seiner Geige, ein arrogantes Gehabe, welches Nøkk die Augen verdrehen lässt.
„Hast du es schon gehört?“, sagt Fossegrim und zupft seinen Frack zu Recht. „Ein junger Holzfäller ist mit seiner Familie in das Ænestal gezogen. In unser Tal. Es ist schon eine Weile her, dass sich ein Menschlein mit seinem Hab und Gut hier niedergelassen hat, nicht?“
Nøkk kommt eine Idee und ein heimtückisches Grinsen breitet sich auf seinem Gesicht aus.
„Grim, nicht viele Menschen wagen sich an den Fuße des Fureberg und sie tun auch gut daran. Was hältst du davon, wenn wir eine kleine Wette beschließen – darüber, wer von uns beiden diesen ahnungslosen, armseligen Tölpel als erster in seine Gewalt bringt?“
Der Fossegrim schweigt daraufhin eine Weile und zupft nachdenklich eine Geigensaite. Der Nøkk ist eine abscheuliche Kreatur, gerissen und selbst für einen Troll äußerst bösartig. Der Fossegrim seinerseits mag dem Menschen nicht immer gut gesinnt sein, aber er zieht sie nicht hinab in tiefe Tümpel, in ein kaltes, nasses Grab. Vielleicht, denkt sich der Grim, gelingt es mir, den Menschen aus dem Tal zu vertreiben bevor Nøkken sich seine Seele raubt.
„Gut gut, Bruder. Das klingt nach Spaß. Und was soll der Wetteinsatz sein?“, stimmt Fossegrim schließlich zu.
Der Nøkk sieht sich um. „Wenn ich gewinne, bekomme ich zehn deiner fettesten Kröten. Und wenn du gewinnst, dann soll ein Teil meines Tümpelschatzes Dein sein.“ Er grinst mit spitzen Zähnen, sich seines Sieges sicher. Fossegrim mag ein herausragender Fiedler sein, doch ist der Nøkk ein Verwandlungskünstler und bekannt für seine Heimtücke.
„Aber ich bin ein Edelmann, Grim“, fährt er mit falscher Bescheidenheit fort, „Und lasse dir den Vortritt. Wer weiß? Vielleicht kannst du den ungebetenen Talgast schon morgen Nacht für dich gewinnen. Es sind nur noch wenige Stunden zur Dämmerung. Auf Wiedersehen, Bruder!“ Und mit diesen Worten springt der Nøkk von dem Fels, auf dem er saß, herunter und zieht zurück in den Wald. Es nebelt und nieselt und riecht nach nassem, verfaultem Schlamm und bald schon verschluckt der dichte Forst das Rauschen des Furebergfossen und der Nøkk verschwindet in den grundlosen Wassern seines schleimigen Tümpels.
Als die ersten Morgenstrahlen schließlich die Finsternis vertreiben, die Sonne durch die schweren Wolken bricht und ein helles Glitzern auf den dunklen Fjord legt, regt sich in einer kleinen Hütte im Tal der Holzfäller Espen Askelad. Schon früh steht er auf um seiner Arbeit nachzugehen.
„Sei vor der Abenddämmerung wieder zu Hause!“, ruft ihm seine Frau Inga nach, die ein kleines Kind auf dem Arm wiegt. Askelad lächelt ihr zu, die Holzfälleraxt locker geschultert. „Sei unbesorgt. Ich fürchte die Nacht und ihre Gestalten nicht“, sagt er.
„Aber ich“, entgegnet seine Frau daraufhin. Askelad versichert ihr, gewiss zum Nachmittag zurück zu sein und begibt sich in den Wald, um Holz zu schlagen. Wenn am Tage die Sonne zwischen die Baumwipfel hindurch scheint und Vögel zwitschern, ist es kaum vorstellbar, wo unheimlich und unwirtlich der Wald des Nachts wirkt. Selbst der Tümpel des Nøkk macht im Tageslicht einen freundlichen, ja regelrecht friedlichen Eindruck, als Askelad ihn entdeckt. Er beschließt, dort seine Mittagspause einzulegen und bewundert das dichte Röhricht am Ufer und die vielen Seerosenblätter, die auf dem regungslosen Wasser schwimmen. Ein unberührter Flecken Natur, der nichts von seinem dunklen, nächtlichen Geheimnis zu verraten mag.
Wie er es seiner Frau versprochen hat, kehrt Askelad noch vor der Abenddämmerung nach Hause. Doch Nachts, als die kleine Familie bereits schläft, wird Inga vom Jammern des Kindes geweckt. Erst, als sie es aus der Wiege nimmt und in den Schlaf schaukeln will, bemerkt sie, dass dort noch ein anderes Geräusch ist. Inga hält inne und lauscht hinaus in die Nacht. Ihr scheint es, als würden die Frösche und Kröten lauter quaken als sonst und außerdem hört sie noch diesen unheimlicher Ton: gleich einem Tier, welches die Worte eines Menschen nachzuahmen versucht, seltsam schrill und doch auf eigenartige Weise melodisch. Furchtsam drückt Inga ihr Kind an die Brust und huscht ans Bett, um Askelad zu wecken. Dieser lauscht nur einige Sekunden, ehe er mit entschlossenem Blick die Axt von der Wand nimmt und nach draußen in die Nacht tritt.
Askelad ist bei Weitem kein furchtsamer Mann. Aber er weiß, dass kein Mensch es bei Nacht in die Wälder hinein wagen sollte, denn dann treiben die Trolle ihr Unwesen. Doch auch wenn sie brutal und stark sind, so weiß jedes Kind aus den Märchen, dass Trolle auch leicht zu überlisten sind. Und so schreitet Askelad mutig hinein in die Dunkelheit um dem Ursprung des eigenartigen, schiefen Konzertes zu finden.
Sein Weg führt ihn zum großen Wasserfall. Und das Schauspiel, welches sich ihm dort bietet, lässt ihn verblüfft die Augen aufreißen. Hunderte von Fröschen, Kröten und anderen Amphibien sitzen auf Steinen rund um den Wasserfall herum, im Gebüsch und sogar in den Bäumen und quaken und knarzen ein unheimliches Konzert. Doch am eigenartigsten ist wohl das seltsame Wesen, welches auf einem großen Felsen direkt im Wasserfall hockt und einer Geige schrille Töne entlockt. Es ist der Fossegrim und als er Askelad aus gelben, leuchtenden Augen erblickt, ruft er ihm zu: „Sieh an, ein Bewunderer zu so später Stunde! Sagt, werter Herr, gefällt Euch das Konzert? Ich pflege es jede Nacht anzustimmen!“
Askelad staunt nur einen kurzen Moment darüber, dass die komische Kreatur im Wasserfall sprechen und Geige spielen kann. Die Musik klingt hier, direkt an ihrem Ursprung, noch schrecklicher und unheimlicher als im Haus. Doch Askelad reagiert gelassen. Er lächelt den Grim freundlich an. „Mein Herr“, sagt er und deutet eine Verbeugung an, „in der Tat suchte ich nach dem Urheber dieser Musik, um mich zu bedanken.“
In den Augen des Fossegrim funkelt es argwöhnisch, doch er beendet sein skurriles Geigenspiel nicht. „Mein kleines Kind schläft seit Wochen so schlecht“, fährt Askelad fort. „Dies ist nun seit Langem die erste Nacht, in welcher er durchschläft. Das habe ich nur Eurer Musik zu verdanken! Wenn Ihr sie jede Nacht für meinen Sohn spielen könntet, würdet Ihr mich und meine Frau überglücklich machen.“ Bei diesen Worten verschwindet das höhnische Grinsen aus dem Gesicht des Fossegrim und macht einer wütenden Grimasse Platz.
„Nein!“, ruft er erbost und seine donnernde Stimme übertönt für einen Moment sogar das Rauschen des Wasserfalles und das Quaken der Unken. „So war das nicht gedacht! Bei unserem nächsten Treffen wappne dich – ich werde dich aus diesen Wäldern vertreiben!“ Und mit diesen wütenden Worten verschwindet der Grim zeternd und fluchend hinter dem Wasserfall. Augenblicklich verstummt das Froschgetier und flüchtet sich in die dunklen Wasser oder die hohen, feuchten Gräser. Askelad stützt sich mit einem schiefen Lächeln auf seiner Axt ab. „Das war einfach“, sagt er leise zu sich selbst und kehrt nach Hause zurück.
Wieder daheim fragt seine Frau, was der Ursprung des gruseligen Konzertes gewesen sei. Askelad erzählt ihr von seiner Begegnung mit dem Fossegrim und auch wenn Inga sich besorgt zeigt, so erklärt er ihr, dass sie vorerst nichts mehr vor diesem Troll zu befürchten haben.
Am nächsten Morgen schultert Askelad wieder seine Axt, um im Wald Bäume zu fällen. Und erneut verspricht er seiner Frau, vor der Abenddämmerung Heim zu kehren. Wie schon am Vortag macht der junge Holzfäller nach getaner, schweißtreibender Arbeit seine Mittagspause an dem kleinen, verschwiegenen Tümpel mitten im Forst. Wie zuvor bewundert er das dichte Röhricht, lauscht dem Zwitschern der Vögel und dem Surren der Libellen und während er das dunkle, stille Wasser betrachtet, fällt ihm ein eigenartiges Glitzern auf. Neugierig nähert er sich dem Ufer und bieg das Schilf bei Seite. Das Wasser ist überraschend klar und weil kein Wind es beunruhigt, kann Askelad sehen, was dort am Tümpelgrund glitzert: ein ganzer Berg Gold- und Silbermünzen liegt als ein großer Haufen am Boden des kleinen Waldteiches. Für einen Moment bewundert Askelad das Funkelspiel von Gold und Wasser, aber dann tritt er einen Schritt vom Ufer zurück. Er schultert seine Axt und will gehen. „Ich habe bereits alles, was ich brauche, um glücklich zu sein. Warum soll ich mich mühen und nach glitzerndem Tümpelgold tauchen, wenn mein Schatz doch bereits zu Hause auf mich wartet?“, sinniert er laut und schaut noch einmal über die Schulter hin zum Tümpel. Dann verlässt er die Lichtung mit einem fröhlichen Lied auf den Lippen.
Am späten Nachmittag kommt Askelad wieder nach Hause und erzählt seiner Frau von der Entdeckung im Waldteich. Sie ist froh darüber, dass er nicht nach dem Gold getaucht war – die verschwiegenen Tümpel sind tückisch und niemand hätte ihn vor dem Ertrinken retten können. „Der Wald ist voller arglistiger Geister und Trolle“, sagt sie besorgt „Und goldener Glanz am Grund eines Wassers ist manchmal nur Schein.“ Aber Askelad winkt ab und erklärt ihr erneut, dass sie sich keine Sorgen um ihn machen muss. Und das Gold interessiert ihn ohnehin nicht.
Drei Nächte und drei Tage vergehen ohne seltsame Ereignisse. Das Gold ist im Tümpel nicht mehr zu sehen, aber Askelad macht sich darüber keine Gedanken, wenn er dort seine Mittagspause einlegt.
In der Nacht des vierten Tages jedoch wird die kleine Familie durch fremdartige Geräusche geweckt. „Hörst du das?“, flüstert Inga und eilt zur Wiege, wo das Kind leise jammert. „Es ist wieder dieser schrille, unheimliche Fiedelton wie vor einigen Nächten... nur diesmal höre ich kein Unkenrufen und es scheint so nah an unserem Haus zu sein!“, fährt sie fort. Askelad nimmt entschlossen die Axt von der Wand. Er hat so eine Ahnung, wer für die nächtliche Ruhestörung verantwortlich ist. „Das muss der seltsame Geselle vom Wasserfall sein. Ich werde ihm wohl erneut eine Lehre erteilen müssen...“, sagt er. Und als er gerade zur Tür hinaus gehen will, hält Inga ihn mit einem „Warte!“ zurück. „Nachdem was du mir über diesen Troll erzählt hast, wirst du ihm mit einer Axt nicht bei kommen. Hier – nimm deine Geige stattdessen mit. Sie wird dir gegen ihn helfen. Vertrau mir.“
Und natürlich vertraut Askelad seiner Frau, denn sie ist belesen und ihre Mutter hatte ihr unzählige Märchen über die wilde Natur und das nächtliche Treiben der Trolle erzählt. So tauscht er die Axt gegen die Geige und begibt sich hinein in die nebelschwere Nacht.
Er schlägt die Richtung zum Wasserfall ein aber hat noch nicht einmal die Hälfte des Weges hinter sich gebracht, da sieht er einen Schatten zwischen den dunklen Tannen, aus dessen Richtung das gespenstische Geigenspiel zu hören ist. „He, Fiedler, eine schöne Melodie spielt Ihr zu dieser Stunde!“, ruft Askelad selbstbewusst, wenngleich ihm die unheimliche Melodie einen Schauer über den Rücken jagt. Der Fossegrim tritt zwischen den Bäumen hervor und grinst mit spitzen Zähnen stumm. „Soso kleiner Holzfäller, findest du? Es ist die Melodie, aus der ich Alpträume webe. Und niemand spielt sie so gut wie ich!“, antwortet der Grim und geht näher auf Askelad zu. Dieser jedoch weicht nicht zurück. Stattdessen hält er sein eigenes Instrument hoch. „Ich möchte das bezweifeln. Mein Vater lehrte mich vieles – auch die Geige zu spielen.“ Das Grinsen des Fossegrim wird breiter. „Du forderst mich heraus? Was für ein Narr du doch bist, Holzfäller! Wenn ich gewinne, dann verschwinden du und dein Gesindel aus meinem Wald. Und wenn du gewinnst...“, sagt der Grim wird aber von Askelads Worten unterbrochen: „... dann bekomme ich Eure Geige!“
Für einen Moment scheint es, als würde das Grinsen in Fossegrims Gesicht einfrieren, aber dann lacht er hämisch auf. „So sei es!“, ruft er und erhebt den Geigenbogen und spielt. Und wie er spielt! Von den unheimlichen, schrillen Fiedeltönen ist mit einem Mal nichts mehr zu hören. Stattdessen erklingt das schönste Geigenspiel. Für einen Moment verlässt Askelad die Zuversicht. Wie kann es sein, dass diese riesige Kröte mit einem mal so geschickt die Geige spielt und ihr solch liebliche Melodien entlockt?
Als der Fossegrim sein Spiel beendet, schaut er Askelad herausfordernd an. Dieser greift fest die Geige seines Vaters und schließt die Augen und spielt. Und wie er spielt! Es ist die selbe Melodie, welche der Grim gespielt hat nur ungleich schöner und berührender, denn Askelad spielt sie mit Herz. Als er endet, brüllt der Fossegrim wütend: „Du spielst das selbe Lied wie ich, du spielst ja mein Lied!“ Der junge Holzfäller sieht dem Ungeheuer fest in die Augen. „Natürlich“, entgegnet er, „Ihr sagtet es ja selbst, edler Fiedler: niemand spielt so gut wie Ihr. Wie könnte ich dann anders, als das schönste Lied des Landes zu spielen, komponiert vom besten Geiger jenseits dieses Wasserfalls? Oder wollt Ihr etwa behaupten, dass ich soeben nicht das schönste Lied spielte, was Ihr je hörtet...?“
Fossegrim will etwas entgegnen, aber er öffnet nur den Mund und schließt ihn wieder und sieht dabei sehr, sehr dumm aus. Was soll er sagen? Würde er Askelad eingestehen, das schönste Lied des Landes gespielt zu haben, hätte dieser kleine Holzfäller gewonnen. Anderenfalls würde er aber seine eigene Komposition als schlecht bezeichnen und das kann er nicht, denn hätte er dann nicht ebenfalls verloren? Der Fossegrim wird vom vielen Nachdenken wütend und fühlt sich hintergangen. Mit einem lauten „Nein! So war das nicht gedacht!“ zerbricht er seinen Geigenbogen! „Bei unserem nächsten Treffen wappne dich – denn dann werde ich dich aus diesen Wäldern vertreiben!“ Aber Askelad bleibt von diesen Worten unbeeindruckt. Er fordert die Geige des Fossegrim ein und geht nach Hause, wo er seiner Frau erzählt, was ihm widerfahren ist. Noch lange kann man in dieser Nacht das wütende Rufen und Tosen des Trolls hören, dessen Geschrei und Gezeter selbst den Wasserfall zu übertönen vermag.
Es vergehen einige Tage, in denen nichts Sonderbares geschieht. Dann aber, als Askelad wieder einmal seine Mittagspause an dem verwunschenem Waldteich einlegt, hat er eine seltsame Begegnung. Durch das dunkle Grün der Föhren hindurch erkennt er einen strahlendweißes Pferd. Es löscht seinen Durst am Weiher und scheint unbekümmert zu sein – trotz Askelads Anwesenheit.
Das Tier ist von wahrhaft beeindruckender Schönheit: wie Schnee an einem Märzmorgen leuchtet sein Fell und nicht ein einziger Haarknoten, ja nicht einmal die kleinste Distelknolle ist im Schweif oder der Mähne zu sehen.
Askelad nähert sich ihm voller Faszination. Das Pferd hebt den Kopf, weicht jedoch nicht zurück. Aus eigenartigen, dunklen Augen sieht es ihn klug an. Augenblicklich zieht eine neue Sehnsucht in Askelads Herzen. Auf dem Rücken dieses Schimmels über die Weiten reiten – er konnte sich mit einem Mal nichts schöneres vorstellen und wünschte sich nichts sehnlicher. Doch als er dem Pferd die Hand auf die Nüstern legt, erinnert er sich an Ingas Worte. Die Waldgeister und Trolle sind tückisch – nur zu gerne lockt der Nøkk als weißer Hengst, um ahnungslose Menschen auf seinem Rücken ins Verderben zu tragen, in die schwarzen Wälder und grundlosen Seen zu führen, auf dass sie nie wieder gesehen werden.
Aber Askelad ist angetan von der Schönheit des Pferdes, will es zähmen, so dass es sein Reittier werden könne. Nur lässt er Ingas Worte nicht außer Acht.
So ist der Schimmel überraschend friedlich, als der Holzfäller ein Seil holt und ihm um den Hals legt. Doch wie beginnt es mit einem Mal zu scheuen und sich zu gebaren, als es merkt, dass Askelad nicht auf seinen Rücken steigt! Nur unter arger Mühe gelingt es ihm, das Pferd an seiner Leine zum Haus zu führen.
Rasend versucht der Schimmel immer wieder auszubrechen und bäumt sich auf. Von der anfänglichen Friedfertigkeit ist nichts mehr zu spüren.
„Na“, sagt Askelad, als er das Pferd in die Scheune bringt, „bist du bloß wild und liebst die Freiheit oder bist du ein Nøkk im Pferdekostüm?“ Der Hengst wiehert erbost. Doch alles Bäumen und Treten ist vergebens – das Seil sitzt fest. Über Nacht würde Askelad das Pferd im Stall lassen. Morgen hat es sich dann beruhigt oder aber eine hässliche Kröte sitzt an seiner Statt in der Scheune. Er gibt dem Hengst noch einen Sack Hafer und kehrt dann Heim, um seiner Frau von seinem Erlebnis zu berichten.
Als aber schließlich die Nacht herein bricht, geschieht in der Scheune Seltsames. Das weiße Pferd verwandelt sich in die dunkle, schlammige und hässliche Gestalt des Nøkk! Zornig auf sich selbst und den jungen Holzfäller zerreißt er den Strick um seinen Hals und schlurft im Schatten der Finsternis aus der Scheune heraus, Richtung Wasserfall.
Dort angekommen trifft er auf den Fossegrim, welcher gedankenversunken und mit garstigem Gesicht auf seinem Felsen hockt wie ein fetter Frosch.
„Grim“, murrt Nøkk zur Begrüßung.
„Nøkken“, erwidert der Angesprochene ebenso mürrisch.
Eine Weile schweigen die beiden Trollvettern. Dann fällt dem Nøkk auf, dass die Geige des Fossegrims fehlt. Als er ihn darauf anspricht, jammert der Grim ganz entsetzlich. „Er hat sie mir gestohlen, das hat er! Unrechtmäßig ergaunert bei einem fairen Wettkampf! Aber dafür wird er büßen – ich denke nun schon seit Tagen über die Gemeinheiten nach, die ich ihm antun werde. Ohja!“ Nach einer kurzen Pause fährt er mit lauerndem Tonfall fort: „Aber er treibt ja immer noch sein Unwesen, dieser Mensch... hast du denn nicht auch versucht, ihn für dich zu gewinnen? Bist auch du gescheitert? Hat er dich ebenso überlistet wie mich?“ Eine Weile sagt Nøkken nichts.
„Gespielt habe ich mit ihm“, sagt er dann aber finster, „Doch das ist jetzt vorbei. Angeleint hat er mich in seiner Scheune, dieser Narr. Ich werde ihm lehren, was geschieht, wenn man versucht die unbändige Natur zu zähmen!“
Der Fossegrim nimmt seinen Zylinder vom Kopf und kratzt sich nachdenklich am Kopf. Die Worte des Nøkk klangen ernst. Ich sollte mich wohl eilen, wenn ich diese Wette gewinnen und das Leben des Holzfällers retten will, denkt er sich. Und als hätte Nøkken seine Gedanken gelesen, grinst er seinen Vetter breit und böse an. „Diese Wette verlierst du, Grim. Die Seele des Menschen wird mein sein - schon morgen!“ Und mit dieser düsteren Prophezeiung verlässt er den Furebergfossen und den Fossegrim, der am Wasser hockt.
„Ich könnte nackt vor ihm tanzen!“, meint Grim, als er wieder alleine war. „Das wird ihn gewiss vertreiben! Ha!“ Er beschließt, dass dies ein guter Plan sei und verschwindet hinter dem Wasserfall, denn die Sonne würde sich bald über den Horizont schieben und die Nacht und deren Gestalten vertreiben.
Als Askelad und seine Frau am nächsten Morgen früh zur Scheune gehen müssen sie feststellen, dass der weiße Hengst verschwunden ist. Furchtsam klammert Inga sich an den Arm ihres Mannes. „Das war der Nøkk“, flüstert sie, „Er wollte dich mir nehmen!“ Askelad winkt unbekümmert ab. „Mach dir keine Sorgen. Er hat mich ja nicht bekommen. Ich bin zu klug für ihn – er ist doch nur ein Troll und genauso einfach zu übertölpeln wie der Geselle im Wasserfall.“ Doch diesmal lässt Inga sich nicht von Askelads Worten beruhigen.
„Bitte...“, fleht sie, „...geh heute nicht zum Holzfällen in den Wald. Der Nøkk ist eine heimtückische Kreatur. Meine Mutter hat mich oft vor ihm gewarnt!“
Askelad gibt ihr einen Kuss auf die Stirn und sieht sie aufmunternd an. „Aber Inga, Liebes. Nur noch ein paar Fuhren Holz und ich kann ins Dorf reisen und es dort gut verkaufen. Du musst dir wirklich keine Sorgen machen. Und ich verspreche dir wie immer noch vor der Abenddämmerung zu Hause zu sein.“ Mit diesen Worten und der Holzfälleraxt geschultert verlässt er seine Frau, um in den Wald zu gehen.
Wie jeden Tag zur Mittagsstunde geht Askelad zu dem schönen, verschwiegenen Waldteich. Weit und breit ist kein weißes Pferd zu sehen. „Geschieht ihm Recht, zu verschwinden“, sagt er gut gelaunt zu sich selbst und macht es sich auf einem Felsen am Tümpel bequem, um zu essen. Da bemerkt er im Augenwinkel etwas auf dem Wasser. Die Seerosen blühen endlich und unweit von ihm erstrahlt die größte und schönste Blüte, welche Askelad je zu Gesicht bekommen hat. Sie ist perfekt geformt und von so weißer Farbe, dass ihm das Fell des Pferdes einen Tag zuvor wie Grau erscheint.
„Inga war heute morgen so besorgt um mich...“, sinniert er vor sich hin, „Ich sollte ihr eine Freude machen.“ Und welche Blume konnte Askelads Liebe für seine Frau besser beschreiben als diese schneeweiße Seerose?
Askelad geht am Ufer des Tümpels auf die Knie. Die Seerose ist gar nicht weit weg vom Ufer – wenn er sich streckt, dann kann er sie durchaus erreichen. Gerade berührt er mit Mühe die Blüte, da legt ein Windhauch kleine Wellen auf die Wasseroberfläche und wie in einem kleinen Tanz entfernt sich die Rose nur einige Finger weit von seinem Griff. Askelad seufzt frustriert aber verdoppelt dann seine Anstrengungen. Noch näher rutscht er an den Uferrand und noch mehr streckt er den Arm lang, um die Blüte zu greifen. Wieder schafft er es, die Seerose mit den Fingerspitzen zu berühren. Nur noch ein winziges bisschen muss er sich strecken. Er schafft es, den Stiel zu umfassen und will gerade daran ziehen, da geht stattdessen ein Ruck von der Seerose aus. Mit einem überraschten Laut stürzt der Holzfäller vornüber in den schwarzen, bodenlosen Tümpel. Einige Luftblasen steigen auf – doch Askelad nimmer mehr.
Anmerkung von Judas:
Ein Kunstmärchen, das ich einst schrieb für ein Projekt.
2015
Kommentare zu diesem Text
Aber vorab, wenn dieses Märchen dazu bebildert wäre, würde es noch einmal sehr viel dazu gewinnen. Was meinst Du?
An einer Stelle fand ich die Angst der Ehefrau, die das Kind in den Armen hält und ihren Mann in den Wald verabschiedete, mit der Antwort „Aber ich“, als der Mann ihr sagte, er habe „keine Angst vor den Nacht und den Gestalten“, spezieller Natur.
Fraglich, wie das „aber ich“ zu deuten ist, ob die Ehefrau selbst Angst vor der Nacht und den Gestalten hat, und deswegen der Ehemann die Botschaft mitbekommt, er solle vor Einbruch der Nacht daheim sein, damit sie in seiner Gegenwart keine Angst zu haben mehr um sich selbst braucht, oder ist die Antwort eher darauf bezogen, dass ihre Angst hauptsächlich ihrem Ehemann gilt, wodurch die Sorge um ihren Ehemann ausgedrückt wird, sie möchte ihn wohlbehalten zurück?
Salve.
Zu deiner Frage: die Frau fürchtet sich vor den Gestalten der Nacht, das meint das "aber ich" in dem Moment. Und weil sie die Gestalten und ihre Heimtücken kennt, sich vor jenen fürchtet, fürchtet sie auch um ihren Ehemann. Also eher Sorge um den Ehemann. Natürlich fühlt sie sich aber auch alleine in der Nacht ohne ihn auch nicht allzu wohl, eben weil sie Angst hat.
Aber es ist primär Sorge um ihn.
Dankeschön!
(btw: ich hab deine Gedichte nicht vergessen. Nur sehr viel zu tun...)