Der 11. Dezember 2015 ist ein nasskalter Tag. Es gibt keine Bäume auf dem Gipfel des Ettersberg, dem Gelände des ehemaligen KZ Buchenwald, welche Schutz vor dem Wind bieten könnten. Die Nässe kriecht unter Mäntel und Handschuhe. Eine Gruppe Schüler lacht und unterhält sich, während sie über das Gelände laufen. Das Wetter ist problematisch, sie versuchen sich durch Hüpfen aufzuwärmen. Kurz darauf verschwinden sie aus meinem Blickfeld und bald wird es wieder still auf dem leeren Schotterplatz. Ein seltsamer Farbklecks unterbricht das diesige, allgegenwärtige Grau: ein pinker Regenschirm. Ich folge dem Mann in schwarz, der ihn trägt. Er ist heute ein eher seltener Anblick, denn er ist offenbar allein in der Gedenkstätte Buchenwald. Bisher sah ich nur kleinere Gruppen und Schülerklassen unter der Leitung kommentierender Begleitpersonen.
Ich begegne dem jungen Mann in Schwarz und seinem rosa Regenschirm erneut im Gebäude des Krematoriums. Er bleibt kurz vor einer Tafel stehen, liest sie scheinbar flüchtig und geht weiter.
Es ist wirklich kalt draußen und der Nieselregen motiviert mich nicht sonderlich, das Gebäude bald zu verlassen, also bleibe ich vorerst bei den alten Öfen im Krematorium, während meine drei Kommilitonen beschließen, weiter zum Museum zu ziehen.
Einige Minuten bin ich hier alleine. Vielleicht kommt ja der Mann mit dem pinken Regenschirm zu den rot gekachelten Öfen. Vielleicht eine Schülergruppe. Stattdessen betritt eine Vierergruppe das Krematorium: eine ältere Dame und ein älterer Herr, eine Frau mit langen schwarzen Haaren und ein kurzhaariger Mann mit Brille.
Ich lehne an einem der Fenster. Sie sprechen englisch miteinander – eine ausländische Touristengruppe vielleicht? Meine Frage beantwortet sich, als der junge Mann einen kleinen 9-armigen Kerzenständer hervor holt und ihn zwischen die Öfen stellt, wo bereits ein paar Erinnerungskerzen brennen und ein Blumenstrauß abgelegt wurde. Er muss Jude sein und zum Gedenken hierher kommen, mutmaße ich, als er sieben kleine Kerzen hervorholt, in den Kerzenständer steckt und sechs davon anzündet. Dann geschieht etwas, womit ich nicht gerechnet hätte: der junge Mann, der sich mir als Shlomo vorstellt, kommt mit einer kleinen Digitalkamera auf mich zu und fragt, ob ich Fotos von ihm und seinen Begleitern machen würde, während er ein hebräischen Gebet lesen würde. Natürlich sage ich zu. Ich beobachte und fotografiere, wie Shlomo ein kleines Gebets- oder Gesangsbuch hervor holt und bald darauf in einer Art hebräischen Singsang betet. Esther, die schwarzhaarige Frau, holt eine kleine Israelflagge heraus und stimmt mit ihm ein, die beiden älteren Herrschaften scheinen einfach nur in Gedenken dabei zu stehen. Vielleicht verstehen sie die hebräischen Worte nicht, aber können die Intension fühlen. Mir geht es ähnlich. Auch wenn ich nur ein außenstehender Beobachter bin, durch die Fotos werde ich Teilnehmer des Gebetes und es ist schwer, sich an einem Ort wie diesem der ergreifenden, bedrückenden Stimmung zu erwehren. Ich verstehe kein Wort Hebräisch, sehe aber die kleinen Kerzenlichter leuchten und kann nicht verhindern, dass ich einen sprichwörtlichen Kloß im Hals bekomme. Shlomo wirkt sichtbar erleichtert. Er lächelt sogar, sieht nicht mehr so angespannt und nervös aus und geht zusammen mit den anderen Dreien zu mir.
Warum ich so begeistert bin, fragt er mich und ich erkläre ihm, dass ich Studentin der Universität Jena bin und die Feldforschungsaufgabe habe, Besucher auf dem Gelände der Buchenwald-KZ-Gedenkstätte zu beobachten, wie sie sich verhalten, was sie sich anschauen. Und an etwas so Besonderem wie diesem Gedenkgebet teilhaben zu dürfen, sei ein absoluter Glücksfall für mich. Shlomo, Esther und auch das ältere Ehepaar sind ebenfalls überrascht und begeistert.
„Was für ein glücklicher Zufall“, sage ich.
„Ja, Jesus führt immer die richtigen Menschen zusammen!“, ergänzt der ältere Herr fröhlich. Danach erklärt er mir, dass seine Frau und er Shlomo auch erst vor einem Tag per Zufall kennengelernt haben und gerne nach Buchenwald begleiten wollten.
Shlomo stammt aus Israel. Dies ist sein erster Deutschlandbesuch, erzählt er mir in ausgezeichnetem Englisch, er kam her, um einem traurigen Kapitel der eigenen Familiengeschichte zu gedenken. Einen Kreis zu schließen. Verwandte seien in Buchenwald und Auschwitz umgekommen, seine Eltern und Großeltern schweigen darüber, erwähnen sie nie, wollen nichts damit zu tun haben. Sie verboten ihm, nach Deutschland zu reisen und redeten nie über die Familiengeschichte. Ich war überrascht, dass Shlomo mir so bereitwillig davon erzählte. Er wolle den Kreis schließen, sagt er zu mir, den Verwandten, die hier zu Tode gekommen sind, endlich gedenken. Deshalb habe er sich auch entschlossen, am 6. Tag des Chanukkah-Festes herzukommen. Mein Blick wandert zu dem 9-armigen Kerzenständer, sechs Lichter brennen.
„To bring light into the darkness“, sagt Shlomo. Das ist es, was die sechs Kerzen versinnbildlichen. Eigentlich ist er nicht sehr religiös, erzählt er mir weiter und lächelt leicht verlegen – vielleicht wegen der Anwesenheit der anderen, scheint doch zumindest das ältere Ehepaar sehr christlich zu sein. Deshalb brauchte er auch das Buch, auswendig kann er den Gesang nicht.
„Sind Sie religiös?“, fragt mich der ältere Herr daraufhin neugierig. Seine Frau sagt kaum etwas – sie spricht und versteht nur schlecht englisch und kann sich deshalb nur wenig in das Gespräch einbringen. So steht sie nur lächelnd neben uns und beobachtet unsere Gesichter. Ich verneine seine Frage mit einem Kopfschütteln. Ich bin tatsächlich weder religiös noch sonderlich spirituell oder gar gläubig. Trotzdem finde ich es beeindruckend, wie gut Glaube Menschen zusammen bringen kann – in diesem Fall einen wenig religiösen Juden, der zum Gedenken nach Deutschland kam und zwei sehr christliche Deutsche. Auch wenn Esther sich in das Gespräch über Glaube und Religiosität nicht einbringt, so entnehme ich ihrer Visitenkarte, dass sie auch sehr religiös zu sein scheint.
Ich frage Shlomo, wie er sich jetzt fühlt. Er lächelt. „Better. Far better. It's like something important came to an end.“ Als würde sich endlich ein Kreis schließen. Es muss eine gewaltige Belastung für ihn gewesen sein, diese stets verschwiegene Familientragödie, die Verwandten, welche in den deutschen Konzentrationslagern ermordet worden waren. Schließlich flog er nur deshalb nach Deutschland, um ihrer zu gedenken, um sich an sie zu erinnern. Damit ihr Tod und ihr Schicksal nicht vergessen werden. Ich kann mir unmöglich vorstellen, wie sich das anfühlen muss, aber ich sehe die Erleichterung in seinem Gesicht und die offenherzige, fröhliche Art, mit der er spricht.
Leider können wir unser Gespräch nicht fortsetzen. Die Zeit drängt und ich werde zum Treffpunkt zurück erwartet, bin sogar schon zu spät. Ich frage Esther und Shlomo, ob ich ein paar der Fotos zugeschickt bekommen könnte, für meinen Bericht. Alle Anwesenden stimmen zu und Esther gibt mir eine ihrer Visitenkarten.
Zu Hause schreibe ich ihr sofort eine E-Mail. Anfang Januar erhalte ich eine Antwort:
„ein gutes und gesegnetes neues Jahr für Dich! Vielen lieben Dank nochmal für Deine Unterstützung - zur richtigen Zeit warst Du da!
Anbei ein paar Fotos und herzliche Grüße von Shlomo aus Israel!
Alles Liebe,
Esther“
Es ist dunkel draußen. Shlomo ist sicher schon wieder in Israel, hat dort möglicherweise auch Silvester gefeiert. Ich frage mich, ob er seinen Eltern und Großeltern erzählt hat, warum er in Deutschland war. Um ein Licht ins Dunkel zu bringen. Ich denke über die vielen Bedeutungen dieses Satzes nach.
Die Kerzen waren zwar klein, haben aber trotzdem ein oranges, warmes Licht in diesen dunklen Dezembertag bringen können.
Shlomo hat einen schwarzen, tot geschwiegenen Teil seiner Familiengeschichte erhellen können. Er konnte zusammen mit ein paar Christen gemeinsam den ermordeten Menschen in Buchenwald gedenken – passenderweise an Chanukka, dem jüdischen Lichterfest.
Und auch ich wäre über sein Hiersein im Dunkeln getappt, hätte nur raten können, was er und die anderen drei dort im Krematorium getan haben und vor allem: warum. Aber er hat mich einbezogen, hat mich zu einem Teilnehmer werden lassen anstelle des Beobachters und mir offen den Grund seines Hierseins erklärt – und somit auch mich sprichwörtlich erhellt.