Tilde fünf oder: warum Überfälle auf Kleintransporter schlecht sind

Kurzgeschichte zum Thema Freiheit/ Unfreiheit

von  Judas

Dieser Text ist Teil der Serie  Tilde.

„Den besten Sex meines Lebens hatte ich mit mir selber und einer Shampooflasche“, erklärt sie mir.

„Ich wollte eigentlich nur wissen, ob du noch einen Cuba Libre möchtest“, sage ich.

„In der Dusche“, fährt sie unbeirrt fort, „das war dann auch mein erster Orgasmus. Das nennt sich feministische Emanzipation, weißt du? Das ist wahre Freiheit.“

„Cool“, sage ich, „aber ich muss dann auch so langsam. Ich muss noch ein bisschen was machen.“

„Ich auch,“ sagt der Mann am Nebentisch und fängt an zu weinen. Vor ihm stapeln sich Ordner. Sein Laptop ist gerade ausgegangen.

„Hier“, sage ich und händige ihm meine Powerbank. Er starrt mich fassungslos an.

„Hast du dein Leben so sehr im Griff, dass deine Powerbank immer geladen ist?“ fragt er.

Ich zucke mit den Schultern und gehe.


Draußen regnet es. Wieder rein gehen will ich aber nicht mehr, da reden die Leute entweder über Sex oder Arbeit und das ist nicht so mein Thema.

Glück ist wie eine streunende Katze, überlege ich vor mich hin. Manchmal sucht sie dich auf, manchmal wirst du ignoriert. Heute Nacht werde ich definitiv ignoriert.

Am Waldrand meine ich einen Fuchs gesehen zu haben. Wie süß der mit seinem Hut aussieht, denke ich noch so bei mir, versenke die Hände in den Manteltaschen und laufe mit gesenktem Kopf und hochgestelltem Kragen durch den nächtlichen Regen. So macht man das nämlich, schreibt das Gesetz der guten Literatur vor.

Intimschatulle, nur Graustufen:

Am Hafen hat's Sturmböen von 70 km/h.

Ein Schiff hier heißt Randolph Carter. Bin kurz amüsiert.

Seeadler gesehen.


Ich will hier weg. Raus aus der Stadt der großen Segel. Es zieht mich zurück in die Wüste, in das Land der weisen Männer mit den Bärten, der Geigen und der schwarzen Vögel. Überfallende und überfallene Kleintransporte gehören zu den schlimmsten Randerscheinungen unserer Gesellschaft.

Unter einer Straßenlampe bleibe ich endlich stehen. Fühle mich erleuchtet. Man kann doch im Leben eigentlich nur neutral sein. Man kann es doch nicht sich oder anderen verbauen. Man kann doch nicht.

„Komm mit“, sagt eine Stimme zu mir. Ich schaue nach unten. Er sieht wirklich possierlich aus mit seinem Hut und wie er da diesen Joint dreht, einpfotig auch noch. Fuchs leckt über die Klebefalte, steckt sich den Joint an den Hut und bedeutet mir, ihm zu folgen.

Wir sind am Hafen.

„Ich hasse Schiffe“, sage ich.

„Deswegen sind wir hier, oder?“ sagt Fuchs.

Da steht ein tätowierter Mann auf einer Holzkiste. Ihm fehlt eine Hand. Er erzählt Geschichten von einem Land weit weg hinter dem Meer und von Freiheit.

„Hört auf, zu der Musik eurer Ketten zu tanzen!“ ruft er.

„Ein Schäfer ohne Herde ist bloß ein Trottel mit 'nem Stock“, murmel ich daraufhin. Er hat es nicht gehört.

Wir gehen weiter.

„Ich verstehe nicht, warum alle immer Schiffe und das Meer mit Freiheit verbinden.“

„Es ist ein einfach zu verstehendes Symbol. Der Horizont geht ja immer weiter. Es kann nun mal nicht jeder auf Gräbern tanzen“, sagt Fuchs und fragt dann keck:

„Was denkst du denn über Schiffe und das Meer?“

„Jedenfalls nichts über Freiheit“, entgegne ich stumpf und trete an das Wasser, dunkelblau, fast schwarz, auch tagsüber. Jetzt unheimlich und tief. Ich sehe keine Fische.

„Ich denke an milchige Röhrenwürmer, die sich an den Holzsteg schmiegen, knapp unter der Wasseroberfläche und sich im Takt jeder sanften Wellenbewegung wiegen. Ich denke an glitschiges, grünes, algenbewuchertes Schiffstau an dem kleine Seeschnecken kleben.

„Das ist jetzt schon ganz schön Lovecraft“, kommentiert Fuchs und hätte sicher eine Augenbraue hochgezogen hätte er über Augenbrauen verfügt.

„Ja Mensch es ist doch eindeutig, was Schiffe bedeuten. Du fährst von einem Hafen zum nächsten, also von Geburt zum Tod. Und dazwischen hast du mal stürmische See und mal Sonnenschein. Das ist doch ein Symbol, das einfach zu verstehen ist. Das hat doch aber nichts mit Freiheit zu tun. So ein Unsinn immer.“

Als ich mich umdrehe, ist Fuchs schon längst einige Fuchshüpfer weiter weg.

„Wohin gehst du?“ frage ich.

„Woanders hin.“

„Mal wieder? Lass mich doch aber diesmal mitkommen. Ich hasse nämlich Schiffe.“


Erdbeerwagen, ich habe dir vertraut. Ich kann nicht schlafen, weil es regnet oder ich kann nicht schlafen, weil ich im Auto nicht schlafen kann oder ich kann nicht schlafen, weil ich eigentlich nicht schlafen will. Eine Motte klopft an das Fenster aber ich lasse sie nicht rein, ich weiß, was Motten wollen, nämlich verwirrt umher fliegen und sich an irgendeiner Lampe die Füße verbrennen.

Mit dem Blick nach draußen weiß ich:

Ich habe einst größer geträumt.

Aber meine Seele hat ihr Gewicht verloren.


Es ist ist Zeit, zu gehen. Ich hab zu lange gewartet, an den weißen Küsten.

Durch Felder aus Chrom und rostende Heimat, durch Überreste des Tageslichts und auf schwarzen Flüssen und durch Regenbögen hindurch treibt es mich irgendwo hin, vermutlich zwischen die Sterne, fünf Meilen links vom Mond, da wo man noch weiß, dass man Freiheit nicht definieren kann, irgendwo da.

Und vielleicht sehe ich von dort aus zu, wenn Welten gegeneinander prallen.




Anmerkung von Judas:

Es wurde einfach Zeit.

Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Text


 Tula (26.12.21, 20:40)
Hallo Judas
Wunderbarer Text! Andeutungsweise sogar lyrische Prosa. Da freue ich mich bereits auf den nächsten.
LG
Tula

 Judas meinte dazu am 26.12.21 um 20:47:
Was ist lyrische Prosa? :D
Dankeschön! Das ist der fünfte in der Reihe. Ich kann nicht sagen, ob's noch mehr davon geben wird. Ich dachte, dass bei vier schon Schluss gewesen wäre aber...
jetzt gibt's Nummer fünf und: wer weiß.
Danke :)

 Regina (27.12.21, 02:10)
Viel Fantasie ist in dem Text, die einzelnen Abschnitte erscheinen unzusammenhängend, das schadet aber nicht. Über die Freiheit kann der Leser am Ende selber nachdenken. Die Figuren sind sehr kurz angerissen. auch sie bleiben ad libitum. Interessant, spannend, ungewöhnlich.
Ach ja, die Überschrift. Fragezeichen?

Kommentar geändert am 27.12.2021 um 02:12 Uhr

 Judas antwortete darauf am 27.12.21 um 11:36:
Der Titel:

Die Tilde (~) (spanisch tilde, portugiesisch til, von lateinisch titulus ‚Überschrift‘, ‚Überzeichen‘) ist ein Schriftzeichen in Form einer aus zwei gleich großen Buchten gebildeten waagerechten Wellenlinie. Das Zeichen dient als Satzzeichen, als diakritisches Zeichen sowie als Symbol in einigen Fachsprachen.
Wikipedia.
Das ist eine Tilde: ~


Das hier ist Tilde Text Nummer fünf, ergo gibt es noch vier andere. Es ist quasi eine Textserie, die Texte können durchaus problemlos alleine stehen, aber sie gehören quasi alle in ein "Universum" und die Figuren kehren auch immer wieder (namentlich der planlose Ich-Erzähler und der huttragende, kiffende Fuchs). Die Texte haben auch gemeinsam, dass sie alle irgendwie immer an undefinierten, seltsame Schauplätzen statt finden, seltsame Reisen beschreiben und voller Metaphern, Referenzen und Dingen, die zwischen den Zeilen stehen, sind.
Quasi, ja, wie du sagtest: interessant, spannend, ungewöhnlich. ;) Das ist zumindest das, worauf ich ziele.
Danke!

Antwort geändert am 27.12.2021 um 11:36 Uhr

 derNeumann (27.12.21, 18:12)
Guten Abend.
Gefällt mir gut, der Text. Vielleicht ist der eine oder andere Satz etwas lang und könnte durch einen Punkt und einen großen Buchstaben in zwei Sätze verwandelt werden, aber die Atmosphäre kommt gut rüber. Letztlich kommt es nur darauf an.

es grüßt,
der Neumann

 Judas schrieb daraufhin am 27.12.21 um 18:51:
Welcher ein oder andere Satz wäre das denn?
Bin ja durchaus für Verbesserungen offen.

 derNeumann äußerte darauf am 28.12.21 um 11:45:
Versteh mich bitte nicht falsch. Ich mag lange Sätze, wenn sie dafür eingesetzt werden das (Lese-)Tempo zu bremsen. Manchmal sind Deine Sätze aber "unnötig" lang, finde ich.

Beispiel:

Wie süß der mit seinem Hut aussieht, denke ich noch so bei mir, versenke die Hände in den Manteltaschen und laufe mit gesenktem Kopf und hochgestelltem Kragen durch den nächtlichen Regen, so macht man das nämlich, schreibt das Gesetz der guten Literatur vor.

Geht auch als:

Wie süß der mit seinem Hut aussieht, denke ich noch so bei mir, versenke die Hände in den Manteltaschen und laufe mit gesenktem Kopf und hochgestelltem Kragen durch den nächtlichen Regen. So macht man das nämlich, schreibt das Gesetz der guten Literatur vor.

 Judas ergänzte dazu am 28.12.21 um 12:14:
Hm ja da hast du einen guten Punkt. Das übernehm ich direkt mal so ;)

 derNeumann meinte dazu am 28.12.21 um 16:11:
Solltest Du Deinen Text / Deine Texte überarbeiten, übertreibe es bitte nicht. Du hast ein gutes Gefühl für das Tempo eines Textes und solltest nur  vorsichtig daran arbeiten. Aus einem Teilsatz einen Nachsatz zu machen bietet sich nicht immer an, aber das Lesegefühl ändert sich sofort, wenn plötzlich nur noch kurze Sätze aufs Gaspedal drücken.
Es gibt kein Patentrezept. Nicht: 
Dialog = schnell = kurze Sätze
Handlung = schnell = kurze Sätze
Gedanke = langsam = lange Sätze
Das kann immer nur eine Richtschnur sein, scheitert aber im Einzelfall. Und gerade Du beweist sehr eindringlich, dass der nachdenkliche Teil auch in sehr kurzen Sätzen stecken kann.

 Judas meinte dazu am 28.12.21 um 16:13:
Oh das ist mir klar, keine Sorge. Die Sätze in jeder dieser Geschichten sind sehr sorgsam konstruiert. Was denkst du denn, warum ich so wenig davon publiziere. Der Scheiß dauert ;)
Das heißt aber nicht, dass mir nicht manchmal etwas entgeht, wie zB das von dir gebrachte Beispiele.
Aber danke, wirklich.

Antwort geändert am 28.12.2021 um 16:14 Uhr
Palytarol (59)
(27.12.21, 23:15)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Judas meinte dazu am 28.12.21 um 11:38:
Warum nicht?
Palytarol (59) meinte dazu am 28.12.21 um 14:44:
Diese Antwort ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Judas meinte dazu am 28.12.21 um 15:58:
ähm
Palytarol (59) meinte dazu am 28.12.21 um 17:01:
Diese Antwort ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Judas meinte dazu am 28.12.21 um 17:20:
Das "ähm" drückte meine Hilflosigkeit aus, in der Tat.

Jetzt ist einiges klarer.
Nun.
Auch Kleintransporter werden überfallen. Und das ist doch schlimm, oder?
Ich beklage relativ wenig in dem Text, nicht mal im Titel, ich komm da nämlich gar nicht vor. Der Herr Ich-Erzähler des Textes wiederum... nun, er ist auf einer seltsamen Reise und hat seltsame Erkenntnisse.
Palytarol (59) meinte dazu am 28.12.21 um 17:31:
Diese Antwort ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Judas meinte dazu am 28.12.21 um 17:46:
JETZT wo ich deinen flash auch endlich kapiert habe (ich bin halt manchmal so super langsam) find ich's auch gut. Und ja, irgendwie paradox. Überfälle auf Kleintransporte VS Überfallende Kleintransporte.
Kannste mal sehen, da ist mehr message in dem Titel, als mir selber klar war ;D

Takk takk!

 Judas meinte dazu am 09.04.22 um 11:29:
Was lange währt... Dank dir gibt es eine kleine, aber feine Änderung im Text:
"Überfallende und überfallene Kleintransporte gehören zu den schlimmsten Randerscheinungen unserer Gesellschaft"
Browiak (67)
(28.12.21, 16:19)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Judas meinte dazu am 28.12.21 um 16:33:
Ohja bitte, Madame, machen Sie es sich bequem, hier ist ein gepolsterter Stuhl :)

 drmdswrt (30.12.21, 13:36)
Einer dieser typischen Mehrfachzulesentexte aus deinen Fingern. Und wie immer passend, dass man je nach Tagesform und/oder Gefühlslage an unterschiedlichen Stellen hängen und versinken bleibt.
Ich steh voll auf den ersten Absatz, welch Wunder, und finde es schade, dass es hier nicht weiter geht, doch das Ende des Absatzes ist... eben ein Ende, dass es gar nicht weiter gehen braucht, darf, muss, aber man wünschte, dass.
Na ja, ich blablae rum. Wollte ein paar Buchstaben hier lassen statt nur einer bloßen: Empfehlung.

 Judas meinte dazu am 30.12.21 um 20:42:
Dankeschön. Und ja, wie Recht du hast! Und auch damit, dass all diese Szenen und Begegnungen.. tja. Manchmal zu früh abbrechen.
Wie im Leben, oder?

edit: ein Fuchs/Tilde Text ist immer sehr vieles. Es ist immer irgendwie eine Reise, nicht so richtig definiert und immer auch ein bisschen ein road trip, wo dieses Ich einfach nie zu lange irgendwo bleibt.

Antwort geändert am 31.12.2021 um 01:10 Uhr

 drmdswrt meinte dazu am 31.12.21 um 08:25:
Ja, das macht die Texte auch aus und lässt einen wiederkommen. Entweder, weil man irgendwo stehen bleibt und dann geht, oder weil man am Ende merkt, dass man zwischendurch mal hätte anhalten müssen. Deswegen will man auch mehr als nur ein Mal lesen.

 Judas meinte dazu am 31.12.21 um 12:12:
Dann hab ich erreicht, was ich beim Schreiben erreichen wollte.
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram