Der Professor

Anekdote zum Thema Beobachtungen

von  Thomas-Wiefelhaus

Im Aufenthaltsraum, der an den großen Schlafsaal grenzte, hing eine Schultafel, welche sehr selten benutzt wurde. An ihr stand an einem Nachmittag ein älterer Mann, der lange Formeln an die Tafel schrieb, die für den 14-jährigenTomas völlig unverständlich waren. Beim Anschreiben erklärte er laut die Formeln mit, wobei sich seine Stimme mitunter regelrecht überschlug. Der Grund für das Überschlagen seiner Stimme war wohl darin zu suchen, dass dieser Mann zwar recht schnell reden, aber noch um einiges schneller schreiben konnte. Jedes Mal, wenn die Stimme dem Tempo der Schrift nicht mehr folgen konnte, überschlug sie sich.
Verwundert warf Tomas einem jungen Pfleger neben sich fragende Blicke zu.
„Das ist sogar ein Professor von einer Technischen Hochschule“, erklärte der Pfleger bereitwillig den ungewöhnlichen Vorgang, „er hält gerade eine Vorlesung ab!“

Eine Weile noch schaute Tomas dem eifrigen Professor bei seinem Training zu, das für die Erhaltung des hohen Arbeitstempos vermutlich notwendig war.
Nicht allein Tomas verstand nichts von dem, was da angeschrieben wurde; wohl kein anderer im Raum – außer dem Professor selber – tat das. Zwischenzeitlich ging dieser, mit hinter dem Rücken verschränkten Händen, vor der großen Schultafel auf und ab und rechnete mit noch lauterer Stimme, dann blieb er wieder stehen, schrieb das Ergebnis an, und stellte sich gleich eine neue Aufgabe.
Der Professor sah aus wie ein Professor. Genauso hätte sich Tomas einen Professor aus dem Bilderbuch vorgestellt: Er wirkte gleichermaßen konzentriert und zerstreut, und einige dünne graue Haarsträhnen fielen ihm über die hohe Stirn wirr ins Gesicht.
Welchen Grund dessen Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik hatte, entzog sich natürlich Tomas Kenntnissen. War er womöglich überarbeitet? Durch sein eigenes mörderisches Schreibtempo überfordert?



Anmerkung von Thomas-Wiefelhaus:

Ob manche Leserin und mancher Leser es schon ahnen? Es vermuten? Das vielleicht Unwahrscheinliche, – tatsächlich! – es trat ein: Etwa zwölf Jahre später wird Tomas zusammen mit anderen Studenten in einem großen Raum sitzen. Er wird der Vorlesung gerade jenes Professors folgen, und sie dieses Mal sehr viel besser verstehen. Aber über das unvermindert hohe Schreibtempo wird er oftmals stöhnen …

Dieser ungenannte Professor wird weder der erste, noch der letzte Mensch und Patient sein, dem Tomas ‚draußen in der normalen Welt‘ später wieder begegnet.

Demgegenüber hatte ein Arzt aus Bethel vom weiteren Schulbesuch abgeraten und bescheinigt: "Ich bezweifel, dass er den Hauptschulabschluss erfolgreich absolviert."

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Kommentare zu diesem Text


 Dieter_Rotmund (14.06.22, 09:19)
Guten Morgen! 

14-jährigenTomas ->  14jährigen Tomas 

Ich bezweifel -> Ich bezweifle oder Ich bezweifele
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