Bogen

Erzählung

von  minze

Er rennt mir stürmisch entgegen, ich liebe das, wenn ich müde bin, habe ich gelegentlich nicht die Gegenkraft, die es bräuchte, Mama! - dann windet er weiter durch den Kindergartenflur und es braucht keine Bitte, zur Garderobe zu gehen, ich frage nach der Jacke.


Er muss sich daran erinnern, dass er nicht gut allein in den Ärmel kommt. Ich glaube, seine Augen sind müde. Er schreit, die Jacke sei scheiße und ich werde tonlos – ich verliere den Ausdruck in meinem Gesicht, ich merk meine Züge sinken, so muss es auch von außen sichtbar sein – ich werde einfach tonlos und abwartend, nicht zögernd, nicht hadernd, aber ich will nicht böse sein oder schwichtigen, ich halte nur den Moment – er schreit weiter diese arschig scheiß Jacke.


Wenn wir sie gemeinsam anziehen, dann akzeptiert er sie gut momentan, er findet die Geheimtasche im Unterarm gut, er weiß, dass das für Skifahrer gemeint ist, aber er sagt mir morgens ab und an im Lachen, er könnte damit alles Mögliche in den Kindergarten schmuggeln, vielleicht Ninjago-Legos oder Süßis. Er hat es nicht getan, das verspricht er mir auch, aber es freut ihn, dass er die Möglichkeit immer wieder abwägen kann. Ansonsten hat die Jacke vorne schmale, schwarze Schlupfärmel, das verhindert, dass ein Luftzug hinein kann, das ist der Grund für den Ärger, weil er seinen Pulli hier oft nicht locker durchbekommt. Er wünscht sich vielleicht einen Griff, einen Move, der das quasi selbstätig macht, so dehnt er sich in die entgegengesetzte Richtung, wenn ich die Jacke oder ihn halte.


Heute hat er so Hunger und will gehen, er sagt aber was Gemeines zu mir, was mit Arsch wahrscheinlich und ich will, dass er so groß ist und sich zusammen reißt, ich bitte Mara, schon vorne zu warten. Er wird aber wütend und droht, was er jetzt mache, wenn ich ihm nicht erlaube, keine Jacke zu tragen, im Nebel und der Kälte nach der Mittelohrentzündung keine Jacke. Ich sage ihm, dass er sich anziehen wird und wir gehen. Ich merke, dass ich es jetzt weniger tonlos, eher mit Gefühl aushalten werde. Ich spreche ihm zu und merke schon, was alles dran hängt, an seiner Verzweiflung und kann es ihm nicht abnehmen. Ich nicke stumm, als ich es entschieden habe. Dass ich dabei bleibe, von ihm zu erwarten, dass er sich anzieht, auch nachdem er die Schuhe und die Jacke durch den Flur wirft, wir sind die letzten im Kindergarten, es bekommen nur die Erzieherinnen mit.

Nicht die, die sonst Sorgen berichten. Verena ist da, sie erzählt mir auch, was ist, aber sie hat in ihrem Gesicht und in ihren starken Armen viel Liebe für Joscha. Sie geht mit im Gefühl: mit, wenn er verzeifelt wütend ist und wenn er wild fröhlich ist, wenn er wild fröhlich ist, leidet sie nicht genervt, sondern atmet auf und hat eine auch laute Seite. Verena ist auch neu und hat sich im Team vielleicht noch nicht ganz klar positioniert, oder vielleicht hat sie auch keine Routine; ich bin froh, dass sie jetzt da ist. Sie sagt nur pragmatisch, dass Joscha sich beeilen müsse, weil bald alle gehen. Ich glaube, Sabrina hätte schon einige Male gesagt, er dürfe nicht so laut und gemein zu mir als Mutter sein, das schüttele ich mir ab, auch wenn es nur in meinen Gedanken anklingt.


Er geht und jammert. Mara hat lange gewartet, singt vor sich hin, Joscha fühlt sich nicht gut dabei, er sagt, sie würde ihn nachmachen, im Auto will er zu ihr langen, ich sage, sie müssen ruhig sein.


Ich kann sonst nicht fahren.

Er fetzt sie und sein Jammern und teilweises Schreien hat nicht aufgehört, wir sind schon zwanzig Minuten dabei, ich fühle doch Stress jetzt. Wir stehen vor der Garage und er soll ruhiger werden, ich gehe mit Mara vor, es ist kalt draußen, ich lasse das Auto offen, um ihn nicht einzusperren, er kommt erst raus, wenn er Süßes bekommt, aber er wird nichts bekommen. Ich suche eine Form von Strenge und kenne mich nicht gut damit aus. Ich kann etwas wegnehmen, womit er Unsinn macht und ein Stop formulieren, damit haben die Süßigkeiten aber nichts zu tun. Vielleicht ist es ein loses Experiment, vielleicht will ich eine Zäsur, den Moment markieren: denk daran, was heute alles passiert ist. Er wütet, ich denke mir schon, dass er einschläft dann, er schläft sehr schnell ein.


Er hat sich in die Mitte zwischen die Kindersitze gesetzt und es ist ein friedlicher und guter Moment, er ist eingeschlafen.


Nur will ich ins Haus, es ist neblig und kalt und ich will ihn auch drin haben, ich merke, in mir zerrt es und ich will mit ihm reden, ich denke oft, ich kann so viel mit ihm reden und besprechen, aber eigentlich ist es zu viel, ich will ihn anzapfen in seiner Kognition, in seinen guten Gedanken und seiner guten Art, seine Gefühle zu benennen, aber nun braucht es vielleicht Ruhe, vielleicht Trost.


Er wacht auf, als ich ihn hineintrage, denkt an das Süße, hat so Hunger, ich mache nur Käsebrot und ein Wurstbrot, er spürt darüber Schmerz, aber noch größer ist der Schmerz über alles, was ihm leid tut - ist es ein Automatismus der Strafe, ist es, weil er merkt, dass ich auch breche. Er merkt meinen Bruch sofort, seine Wut schwenkt über zur Verzweiflung über meine Hilflosigkeit, wein jetzt nicht, ich brauche dich immer, ich will nur noch bei dir sein und Mara soll weg sein. Er tut Mara aber nichts und sie sitzt nebendran und isst Kekse und er muss sehr stark sein bei dem allen, er will nicht runter von meinem Schoß und weint viel und will, dass ich nicht weine, wir weinen aber zusammen und ich habe in mir noch eine Schranke, die ihn nicht ganz offen annehmen kann. Ich will, dass du nie weg gehst und immer immer bei dir sein. Ich öffne damit, dass ich ihn immer liebe, auch wenn wir Streit haben, dass wir uns immer vertragen können und Zeit dafür sei, jetzt.



Als ich in den Sport gehe, denke ich, ich kann nicht mehr an mich halten, aber sobald die Atemübungen beginnen, bin ich woanders, weg von den Kindern und habe den Eindruck, ich habe wieder Muskeln, ich habe wieder einen Körper, der sich bewusst bewegt und so weiter, ich fühle dabei einen klaren Willen, einen einheitlichen Gestus.



Am kommenden Tag ist der Start gut, ruhig, früh. Wir essen früh und hören ein Hörbuch, bevor wir losgehen, ich denke zurück und finde es gut, wie es war, vor allem das Ende für mich, für ihn. Es war gestern okay tagsüber, sagt Verena, als ich sie morgens begrüße im Kindergarten, dann gehe ich und als ich nachmittags wiederkomme, war es nicht okay. Sabrina sagt, es ging nicht im Morgenkreis und auch nicht das Verhalten im Waschraum.

Aber mir gegenüber ist er sortiert, freundlich. Ich gehe nicht an die Süßigkeiten ran, gedanklich. Zu Hause essen sie ein bisschen Süßes, er packt etwas in seine Reservedose und ich zeige im in Garten den Bogen, den ich schon eine Weile in der Garage habe.


Letztes Mal schlug Sabrina Bogenschießen oder Tonen vor. Es gefällt ihm, danach binde ich zu spät einen Adventskranz, er schneidet mir die Äste. Der erste Advent war vor drei Tagen. Sein Vater kommt und ist genervt. Er muss mich nicht fragen, wie es mir geht. Ich bleibe draußen und werde bald fertig werden mit dem Kranz, Joscha will eine Girlande darum legen aus der Dekorationskiste zu Weihnachten. Mara will eine Lichterkette darumbinden, Joscha findet die Batterien dazu.



Wir schreiben am Abend zusammen Tagebuch, er sagt viel zu seinem besten Freund, der mich Kakapupsi nennt und schubst, mehr nicht, wenn wir uns sehen. Würde ich das streichen in meiner Wahrnehmung, könnte ich auch nur das totale Strahlen in seinem Gesicht sehen und ich versuche, den Zusammenhang emotional zu erleben.

Joscha erlebt viel Schönes und Ärgerliches mit ihm, vor allem freut er sich, dass sie endlich wieder zusammen sind, ohne, dass einer krank ist.



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Kommentare zu diesem Text


 Dieter_Rotmund (01.12.22, 15:50)
Guter Text, der eindringlich thematisiert, dass Kinder überwiegend daran interessiert sind, dass Sie Essen, Trinken und was zum Anziehen bekommen und dauerbespaßt sein wollen und Eltern angesichts dieser Erfahrung völlig abstumpfen.
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