Blätterregen 12

Erzählung

von  minze

Thorsten hat einen großen, ruhigen Kopf, manchmal wirkt er so groß auf mich wie die überdimensionalisierten Köpfe von Tyrannosaurus Rexen, ich finde keinen richtigen Vergleich, nur wirkt er breiter und weil Thorsten groß ist und der einzige große Cousin, der über mir steht zugleich immer auch etwas kümmeriges hat – er ist uns vorausgegangen oder so – weil es so ist, schaut er mit seinem Kopf oft gebeugt zu mir hin. Jetzt ist sehr viel Ausdruck darin, jetzt beim Café nach Opas Beerdigung und ich suche diesen Ausdruck willentlich auf, weil ich ich ihm sagen will, Christian sitzt auch neben ihm, das nutze ich, weil ich ihn nicht direkt anspreche, nur stehen wir an diesem Tag oft Arm in Arm, er nimmt auch eines meiner Kinder, weil ich allein gekommen bin – ich will beiden sagen, Christian und Thorsten, wie stark es ist, dass sie den Sarg getragen haben und heruntergelassen. Man hat mehr die körperliche Bürde bemerkt bei den beiden, das Erstaunen, nachdem sie Opas Sarg auf dem Wagen durch den halben Friedhof gefahren haben, wie sackschwer es ist, abrupt, wie der Mann vom Bestattungsunternehmen oder vom Friedhof die Anweisungen gab, klar und kurz, war es doch nicht angekündigt, wie viel Gewicht sie zu schultern haben, an den dicken Seilen gleichmäßig justierend von links, von rechts, hinabzugeben haben.


Ich meine, die körperliche Last und Heftigkeit hat in diesem Augenblick noch das seelische überwogen, kurz und eindrücklich, aber vielleicht ging das eine ganz direkt ins andere über oder war heilend im Ineinnadernsein und Tätigsein. Thorsten sagt mir dann auf eine sehr fromme Art, aber das Fromme kann ich als Schablone einfach hinnehmen, für das, was eigentlich durchkommt, als Gefühl, dass er dankbar sei, dass er friedlich sei, dass er ruhig und gut sei mit Opas Tod. Und wie bestimmt er es sagt, mit einer Träne, die so ist: dankbar und ruhig traurig, nicht verzweifelt oder fragend oder suchend, so bin ich sehr befriedet, gleich gestimmt mit Thorsten, ich habe die gleichen Gefühle und habe sie so auch bei Oma bemerkt.

Wir drei sind beruhigt.


Ich kann so meine Kinder begleiten, entdecke Joscha neu, wir sprechen über den Tod und er fragt mich auch viel über Geburten, über die Periode, dann wieder über das Einäschern und Leichnam im Sarg beerdigen. Er hat vor einem halben Jahr noch behauptet, er würde Alpträume von Friedhöfen bekommen und weigerte sich hinein. Aber als ich ihm sage, dass ich keine Betreuung habe und wir versuchen zu dritt, Mara, Joscha, ich, zur Beerdigung zu gehen, da nickt er und wo er in so vielen Momenten sich laut wehrt, er wehrt sich nicht.


Mara will Uropa auch tot sehen, als wir ihn extra deswegen ein paar Tage vor der Beerdigung besuchen, da habe ich das Gefühl, als hätte Oma mehr Kraft zurück, als wäre sie beschäftigt und rechnend, überblickend, verstehend. Sie hat Listen von vielen Dingen und Personen angefertigt. Mara schreckt doch zurück, wie sie Opa tot aus dem Flur der Aussegnungshalle sieht. Ich gehe hinein, mehrmals und mein Frieden wird umfassend, umarmend, schlägt Wurzeln zwischen dem Eindruck von Opas Gesicht, seiner Ruhe und meiner Anwesenheit beim Toten. Ich weine Erleichterung, sein Gesicht ist wieder erwachsen, beruhigt, mit Sinn, Stolz und wissend. Ganz deutlich sind die Lachfalten und der Schalk, den hatte er auch bis zuletzt, zuletzt noch seine Witze, aber jetzt spüre ich wieder einen Hintersinn, Klugheit und Sanftheit. Die hinter dem wilden, auch hilflosen, dementen und kleinwerdenden späten Opa steckt, die eigentlich immer noch irgendwo da ist. Ich hole den Abschied nach von dem, der schon eine ganze Weile nicht mehr so da war, jetzt kann ich ihn zurückholen und so lassen.


Mara wird bei der Beerdigung ganz vorne mittig sitzen, bei meinen Cousinen, sie will alles sehen, so wird ihr frontal der Sarg präsentiert, auch da wird er hineingeschoben von Christian, Thorsten, meinem Vater und dem Patenkind von Opa.

Ich habe Joscha gleich Alternativen angeboten und wir sitzen am Ausgang, sind mit den Klebedinos beschäftigt, wenn wir aufstehen, Thorsten hat sich spontan zu uns Separierten gesessen und hält das Liederbuch, dann steht Joscha auf ohne Protest, ich spreche mit Thorsten den Psalm 23 auswendig, weil alle, auch der Pfarrer, die Lutherversion sprechen und nicht das, was komischerweise im Liederbuch steht. Und dann, wie alleine, spricht Joscha auch halb das Vater Unser mit und ich bin verblüfft, weil er es im Strudel rausspricht, er hat sich manche Worte gemerkt von den wenigen Gottesdiensten, die wir gemeinsam besucht haben, es geht ihm natürlich von den Lippen. Kurz später taucht Mara aufgelöst auf, weil sie sich es nicht so traurig vorgestellt hat, es schüttelt sie vor Traurigkeit auf meinem Schoß und wir müssen bald raus gehen, Joscha schließt sich uns an. Wir sind am Brunnen vor der kleinen Kirche im Friedhof und besprechen Regeln, was man wie in den Brunnen halten darf, hineinsegeln lassen kann, wo die Schuhe hinkommen. Als der Trauergottesdienst vorbei ist, fühlt sich alles so normal an, aber ich muss damit rechnen, dass die Kinder nicht mitkommen wollen. Ich weiß noch stärker, dass ich hinmuss, dem Sarg hinterher, mich verabschieden, die Kinder haben es tags zuvor nach dem Freibad bei Checker Tobi angeschaut: was passiert mit dem Sarg, wie ein Grab ausgehoben wird. Sie sind informiert, sie nehmen es hin, wir gehen gemeinsam, eingereiht in die Familienlinie, Opas Sarg hinterher. Es gibt einen krassen Strom zwischen Mara und Oma, als diese vom Rollstuhl aufsteht und die Rose zu ihrem Mann hinunterwirft. In deren Verzweiflung und Traurigkeit ist Mara ganz eingefasst und schüttelt sich wieder. Ich sehe es, nehme sie in den Arm und wein auch leise im Abschied, bin froh, mit meinen Kindern da zu sein. Joscha ist ein Baum. Er nickt mich aufmunternd an, er umfasst meine Hüften, er drückt seinen Kopf gegen mich, aber als Gegengewicht, nicht anlehnend, so, dass ich die Verwurzelung von ihm, von ihm und mir, von uns spüren kann, dass ich begreife, dass wir so miteinander nicht umfallen werden. Wie selbstverständlich er das mir vermittelt. Er ist acht Jahre alt. Acht Jahre.


Oma hat nur eine weißschwarze Bluse. Obwohl alle anderen Erwachsenen schwarz tragen, bin ich dankbar dafür, sie ist so festlich, sie hebt sich davon ab, das scheint mir ihrer würdig. Mara hat sich sehr schön gemacht am morgen und mir Ohrringe ausgesucht.


Ich erkälte mich bei den Autofahrten mit der Klimaanlage, aber erst zurück. Wir hören die CD Sammlung von Aladdin an, es sind sechs CDs, wir werden sie auch noch Tage später weiterhören bei der Fahrt in den Kurzurlaub. Ich habe richtig Durst danach, weil es mein Lieblingsmärchen nach dem kleinen Muck war. Und ich habe nicht mehr die Spur, warum und mit jeder CD mehr bin ich wieder mittendrin, kann ich mich reinsetzen und verstehen, als leite es zurück und nach vorne in mir, warum ich die Geschichte so mag.



Mama sagt mir, dass Christian genauso gewesen sei, als Felix gestorben ist. Thorsten spricht es auch an. Dass Opa achtundzwanzig Jahre auf den Tag nach Felix gegangen sei, zu ihm. Er glänzt, weil es schön ist. Als ich drei Tage vor der Beerdigung mit Oma über die Parallele des Todestages spreche, fasst sie eine Erinnerung auf von Thorsten, er hat immer, immer wieder über das weiße Särgle gestrichen. Ich seh's, wie er die Last von Opas schlichten, unlackierten Buchensarg hinuntergibt, den Kreis. Seine Finger, seine Hände, die es erfassen.




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