Daria (Leseprobe aus "Alte Steine" - Drei Wochen auf Sizilien, 2022)

Text

von  FRP

Zum letzten Mal komme ich in den zweifelhaften Genuss der altbackenen, winzigen Croissants, welche das Hotel „Montreal“ in Ragusa in Tateinheit mit schlechtem Cappuccino offeriert. Das wird heute eine durchaus beachtliche, weite und lange Fahrt für mich. Ich packe meine siebzehn Sachen, und verlasse mein angenehmes Zimmer, dessen Interieur mich ein wenig an die DDR der frühen siebziger Jahre erinnert. Dann checke ich unten, an der Rezeption, aus; und laufe den langen Weg zur „Piazza Majorana“, wo der Bahnhof steht, von welchem aus um 12.30 Uhr ein Zug nach Gela abfahren soll. Ich begebe mich so früh dorthin, dass mir noch die Zeit bleibt, die 10 Minuten hin-, und die gleiche Dauer retour in einen Abstecher zum etwas entfernter liegenden Busbahnhof zu investieren. An der verlassenen, aufgegebenen Haltestelle der Linie A.S.T. steht zu lesen, es würde 14.40 Uhr ein Bus nach Agrigento fahren. Kann ich der Sache vertrauen? Nein; ich kann es nicht, ich laufe zurück zum Bahnhof. Erst mal nach Gela, das klingt doch gar nicht so schlecht. Mit etwas Glück fährt dort gegen Abend noch ein Bus oder Zug nach Agrigent, und ich könnte mir Gela anschauen! Also begebe ich mich auf den Bahnsteig Nummer zwei, wo schon ein Herr aus Pakistan und eine junge, blonde Frau, die nichts miteinander zu tun haben, warten. Beide helfen mir (und später auch anderen) beim „Ziehen“ einer Fahrkarte nach Gela, denn einen Schalter mit einem Menschen gibt es hier nicht. Der Pakistani lebt und arbeitet in München, lobt das neun-Euro-Ticket der Deutschen, und macht Badeurlaub auf Sizilien. Wir reden zunächst ein wenig, aber er hört dann lieber „Radio Islamabad“. Die junge Frau raucht, und wird deshalb vom Bahnhofspersonal angezählt. Irgendwie kommen wir darüber ins Gespräch, und auch deshalb, weil mir ihr Pink-Floyd-Shirt auffällt. Sie ist Russin, spricht ein gutes Englisch, bewundert mein Italienisch, heißt Daria, hat einen Bekannten (einen ehemaligen Kommilitonen) in der Nähe von Ragusa, bei dem sie derzeit zu Gast ist. Vorher war sie in Paris, und würde immer nur in Städte reisen, wo sie bereits jemanden kennen würde. Sie sei schon einige Zeit auf Sizilien, aber wäre noch nie im Meer gewesen – das will sie heute ändern, indem sie nach Gela fährt, um zu baden. Somit, und auch altersmäßig, wäre sie bei dem Herrn aus Pakistan besser aufgehoben, aber sie hängt sich an mich.


Ab und zu helfen wir Reisenden, den Automaten zum Ausspucken von Fahrkarten und entsprechenden Wechselgeld zu bringen. Sie ist lockig blond und sieht slawisch aus, mit starken Wangenknochen, und sie verfügt über attraktive, ansprechend und reich gefüllte Kurven, ohne dick zu wirken. Ich taste mich vor, verbunden mit der Befürchtung, in ihr eine Parteigängerin Putins zu finden. Aber nein, sie sagt, sie hasse den Kerl, würde am liebsten im Ausland bleiben. Die Russen können in der EU kein Geld abheben, daher führt sie einen Stapel Dollarscheine in bar mit sich. Das Anreisen hierher sei kompliziert gewesen; über Istanbul, Budapest, Belgrad …. In ein paar Tagen müsse sie zurück, über Hamburg und Helsinki, gar. Sie hätte ein jüdisches Konservatorium in Moskau besucht, Sozialpädagogik studiert; doch anstatt in diesem Beruf zu arbeiten, sei sie lieber allen Konventionen und dem Druck ihrer Familie (welche ihr Studium hoffnungsvoll gesponsert hätte) entgangen, und nach Indonesien gereist, wo sie ihren Traum, als DJ zu arbeiten, alsbald verwirklicht hätte. Auch hätte sie großen Erfolg dabei gehabt, aus dem bald die Eröffnung einer eigenen Szenekneipe resultierte. Dann wäre die Mafia erschienen, und wollte Unsummen von ihr als Schutzgeld erpressen, was von ihr beim besten Willen (der aber gar nicht vorhanden gewesen sei) nicht hätte geleistet werden können. Inzwischen hätte sie einen Sohn von einem Indonesier, welcher sie miserabel behandelt hätte. Er sei nicht besser gewesen als die Mafia, meine sie; denn er wolle immer nur Geld. Genau wie ihr Sohn, der sie nun  anruft, als wir uns im Zug gegenüber sitzen. Und sie zieht nun das Floyd-Shirt aus, unter welchem sich ein transparentes Fischnetz-Teil offenbart. Was sie auflege? Na, alte Sachen, halt. Mein Herz beginnt zu hüpfen. Aber halt; unter „alten Sachen“ versteht sie die Clubmusik der Jahre 1998 bis 2010. Von Pink Floyd hat sie auch keine Ahnung. Meine Hormone sinken beinah wieder auf „Normal-Level“. Vor ein paar Jahren hätte sie genug gehabt und sie sei mit ihrem Kind zurück nach Moskau gereist. Derzeit arbeite sie innerhalb eines staatlichen Förderprogramms als Sozialkraft an einer Schule in Suchumi oder Sotchi (ich habe es mir nicht genau gemerkt) an der russischen Schwarzmeerküste. Da sie den Mund bezüglich des Verbrechers Putin nicht halten könne, habe sie die Befürchtung, dass man sie über kurz oder lang staatlicherseits „kassieren“ werde. Ich gestehe ihr, dass ich auf Sizilien auch noch nie im Meer baden gewesen bin. Von da an bittet sie mich inständig, sie doch heute an den Strand von Gela zu begleiten.


Sie klagt mir das Leid ihres Lebens, das Scheitern ihres Liebeslebens, und wir erzählen uns nun stundenlag einfach alles voneinander: wir beraten uns, verstehen uns, ertasten uns, verbal. Ich bemerke alsbald, - (und sollte ich hier einfügen: zu meinem Erschrecken?), - dass ich etwas Ernstes für sie zu empfinden beginne, und dieses nicht zu knapp; aber mein Verstand ist ein erbarmungslosester Wächter. Wohin soll das führen? Sie hat ihr gesamtes Gepäck noch bei dem Typen in der Nähe von Ragusa; und ich will unbedingt die alten Steine von Agrigento und Selinunte sehen. Meine im Voraus bezahlten Unterkünfte kann und will ich nicht verfallen lassen, und wie weit soll das überhaupt gehen mit uns? Ich sage ihr nicht, dass ich geschätzte 25 bis 30 Jahre älter bin als sie, und alles andere als wohlhabend. Müsste es aber, falls. Würde, könne, wolle, dürfe sie mit ihrem Sohn nach Deutschland kommen? Könnte sie einen alten Knacker wie mich lieben? Und wenn wir einfach nur etwas Spaß miteinander hätten, so wunderbar, wie wir uns verstehen? Sehr gern; aber ich muss heute unbedingt noch nach Agrigento, dass verliere ich für keine Sekunde aus den Augen; sosehr diese auch ausgefüllt von ihrer Schönheit sind. Ich komme mir vor wie Seume, welcher in Rom das sehnsüchtig-fragende Angebot einer schönen Frau (verbunden mit der Geste des angedeuteten Öffnens eines ihrer „Körbchen)  abgelehnt hat, und ihre Frage, ob er wirklich nichts wolle“ mit „No!“ und „Niente!“ barsch beantwortet hat. Hätte ich nur die Zeit wie Seume, ich hätte höchstens noch Angst, dass ich später keinen Ausweg aus der Emotion mehr fände. So aber ist es viel leichter für mich, und da liegt der Hase im Pfeffer, statt am katholischen, non-nudistischen Strand von Gela. Während wir ein wenig in den Straßen, in der Nähe des Bahnhofs, auf der Suche nach einem Café und einem Supermarkt herum laufen, bemerke ich die Blicke, mit denen sie von den Katholiken Siziliens bedacht wird, denn ihre Kleidung hat es an Freizügigkeit in sich – das ist man hier so nicht gewohnt. Sie trägt ein schwarzes Fischnetz-Oberteil, welches keine Wünsche offen lässt, eben weil alles offen und transparent ist. Auf dieses fallen ihre blonden Locken. Und ihre hellroten Hosen enden kurz unterm Knie. Man(n) missbilligt allenthalben ihr Outfit; kann sich aber andererseits und offensichtlich ihrer abenteuerlichen Attraktivität kaum erwehren. Daria staunt grenzenlos über meine Worte in Russisch, derer ich mich von der Schulzeit noch entsinne. Dass die Ostdeutschen einmal Russisch in der Schule lernen mussten, Brief-Freunde und – Freundinnen hatten; davon hat die „Generation Daria“ noch nie etwas gehört. Ihr Vorname sei persisch, sage ich ihr. Auch dieser Bissen von meinem Wissen freut sie ungemein.


Mit meinem Italienisch (You and your Italian!) finde ich in an der zentralen Bushaltestellebei den Fahrern  heraus, wann ein Bus für sie in Richtung Strand (und retour) fährt, denn vom Bahnhof ist es noch weit zum Strand. Sie wiederum hilft mir (und wir sind beide traurig dabei) beim „Ziehen“ einer Fahrkarte nach Canicatti; denn dort muss ich (bezüglich der Stadt Agrigento) sehen, wie ich weiterkomme. Canicatti liegt nun nicht an der Küste, sondern im Landesinneren; und somit wird es nichts mit einem Besuch des „Castello di Falconara“. Auch bin ich emotional zu angeschlagen, um bezüglich eines Eruierens der Erreichbarkeit desselben agieren zu können; mir helfen jetzt nur noch ganz einfache Lösungen. Es ist doch recht selten, dass eine Frau so schnell und so intensiv Gefallen an mir findet, und wir haben uns ungefähr drei Stunden und ohne eine jede Pause miteinander unterhalten. Es war wie ein Sog, welcher unsere Seelen ineinander schlang. Wir trinken noch je einen Cappuccino im Bahnhofsrestaurant. So langsam kippt unsere Euphorie füreinander, denn sie wird durchmischt mit der Schwere des drohenden Abschieds. Nun stockt unser Gespräch, erstmals, und wir schauen uns nur noch in die Augen. Wir können uns nicht voneinander trennen, haben die Zeit fast verpasst; und darum sind wir dann zu ihrem Bus, welcher sie zum Strand von Gela bringen soll, gerannt. Überraschend küsst sie mich, und es würde mich nicht wundern, wenn wir beide dabei leise und innerlich etwas weinen. Wir haben in der Eile keinerlei Kontakte ausgetauscht, blöd. Oder doch eher folgerichtig? Und wieder einmal erlebe ich einen Anfang, welcher gleichzeitig auch ein Ende ist.


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