Dartford und die Rolling Stones

Text

von  FRP

DONNERSTAG, 20.08.  DARTFORD

Tag 08:  An dem ich mir die Stadt anschaue, wo Mick und Keith ihre Darts vom Schicksal zugeworfen bekamen / Ich vormittags hin fahre, mich wie ein Dart auf meine Ziele werfe, und abends wieder fort fahre.

 

Heute gibt es keine Ausreden mehr, dass Wetter verspricht sonnig und hell zu werden, also fahre ich heute endlich wirklich nach Dartford; jener Kleinstadt südöstlich von London, in welcher Mick Jagger und Keith Richards aufgewachsen sind. Anders als Liverpool, hat Dartford weniger Leuchtkraft; natürlich auch, weil hier keine Musikszene entstanden ist, wie in Liverpool, wo es ja zum Beispiel mit dem Rock’n Roll Sänger Billy Fury schon vor den Beatles Livemusik in den Clubs gegeben hat. Trotzdem, als Liebhaber vor allem der frühen Musik der Stones sollte ich schon einmal hier gewesen sein; und anderen Fans der Band geht das natürlich ebenso. Ich nehme die Circle Line bis zum Victoria Embankment. Dann gehe ich die Villiers Street hinab bis zum Charing Cross, wo die Fernzüge fahren, und nehme den Zug um 11 Uhr. Die Fahrt selbst ist unspektakulär und dauert zirka eine halbe Stunde.

 

Ich muss daran denken, dass diese Fahrt hin und zurück zu den täglichen Pflichtaufgaben von Mick Jagger gehörte, als er noch Wirtschaft an der London School of Economics studierte. Jagger und Richards waren als Kinder befreundet, sie verloren sich irgendwann, als Micks Familie noch im Westen von Dartford wohnte, und die Richards in den tiefen Osten der Stadt in die neu geschaffene Siedlung am Temple Hill zogen, aus den Augen. So richtig geheuer war den Jaggers Micks Freundschaft zu Keith sowieso nie, da sie die Familie und den Stand der alleinstehenden Mutter von Keith (der Vater hatte sie verlassen) als unter ihrem Niveau ansahen. Irgendwann sah Keith den zirka zehnjährigen Mick wieder, wie er vor dem Rathaus Eis verkaufte (um sich etwas Taschengeld hinzu zu verdienen). Angesprochen hat er ihn damals jedoch nicht. Zu einer richtigen Begegnung mit Unterhaltung sollte es erst am 17. Oktober 1961 hier, auf dem Bahnsteig 2, von Dartford kommen, als die beiden eine neue, aufregende Sache verband (was sie schnell herausfanden), nämlich die Musik. Mick stand herum und hatte zwei Schallplatten unterm Arm, erzählt uns das Narrativ (einfach so, ohne Schutzhüllen, frage ich mich da), und Keith bemerkt interessiert, dass es sich erstens dabei um Blues und Rock’n Roll-Platten („Rockin‘ At The Hop“ von Chuck Berry, und „The Best of Muddy Waters“) handelt, und zweitens, dass er den Kerl, der da rumsteht, ja von früher kennt. Mick war unterwegs zur London School of Economics, wo er zu studieren begonnen hatte, und Keith bekam sein Gnadenbrot, indem er nach seinem Rauswurf von der Dartford Technichal Scholl das Sidcup Art College im westlichen Nachbarort besuchen durfte, weil er angeblich gut zeichnen konnte. So sind die beiden dann wohl nur eine Station mit dem Zug zusammengefahren, weil Keith ja gleich im nahen Sidcup wieder raus musste.

  

Wo hast du die tollen Scheiben her, die gibt es doch in England gar nicht! Ich bestelle sie direkt bei Chess Records aus Chicago! Was, du hörst auch Rock’n Roll und Blues? Yeah, Mann; und wie du siehst, spiele ich auch Gitarre (Keith nahm seine Klampfe täglich mit in das Sidcup Art Collage). Echt? und ich singe! Ich habe sogar eine kleine Band, „Little Boy Blue And The Blue Boys“. Yeah, Mann, habe von euch gehört, bei euch spielt doch mein Kumpel Dick Taylor? Aus dieser Begegnung resultierte die Einladung von Mick an Keith, doch gleich am Nachmittag zu ihm zum Tee, und später auch einmal an einem Samstagvormittag im Pub „Carousel“ vorbeizuschauen, wo sich Mädchen und Jungen trafen. Schnell wird in Dartford eine erste Band (als Vorläufer der Rolling Stones) gegründet. Dieses Ereignis wird hier, in Dartford, auf dem Bahnsteig 2, tatsächlich mit einer Blue Plaque gewürdigt und bedacht als elementar wichtig für die Gründung der Rolling Stones. Die Zeiten haben sich geändert, und ich hätte es mir ja gewünscht, dass mein Zug ebenfalls auf Bahnsteig 1 oder 2 einfährt, wie der damalige, aber natürlich tut er das nicht, als er nach zirka halbstündiger Fahrt hier ankommt; heute verkehrt man im mehrdeutigen Sinne des Wortes von- oder nach London auf den Bahnsteigen 3 und 4. Ich mache einige Fotos von der Blue Plaque, dem Bahnsteig, und Selfies von mir. Zwei farbigen Bahnangestellten fällt das auf, und sie bieten an, mich mit unter der Blue Plaque zu fotografieren, was ich natürlich gern annehme. Erst jetzt fällt mir (und ihnen!) so richtig auf, dass ich ja ein komplettes Beatles-Outfit mit Cape, Shirt und sogar Maske trage. Strange! Wäre ich ein reiner Beatles-Fan, könnte ich behaupten, dass man als solcher dem leicht unterlegenen Zweiten in der Hackordnung gegenüber ja ab und zu einmal großzügig gesinnt sein kann, indem man zum Beispiel auch einmal dessen Kultstätten besichtigt. Als Kind war ich eher Rolling-Stones-Fan denn Beatles-Fan, und heute bin ich ein Bewunderer der Musik von so vielen Künstlern und Bands, die kann ich gar nicht alle aufzählen.

Zu Hause, in Leipzig, habe ich mir einen Stadtplan von Dartford aus dem Internet gezogen, und die Punkte mit Jagger- oder Richards-Bezug markiert, die ich anlaufen will, und natürlich auch schon durchdacht, in welcher Reihenfolge ich die Tour unternehme. Man überquert die Schienen über eine kleine Brücke, und gelangt alsbald in den Ort. Dartford ist eine angenehme, kleine Stadt. Die ersten Geschäfte haben gerade erst nach dem Lockdown wieder aufgemacht, überall sieht man große Welcome-Back-Spruchbänder. Mein erstes Ziel ist der Stadtpark, in welchem sich eine Mick-Jagger-Statue befinden soll. Ich finde den Park, und betrete ihn, zu meiner linken befindet sich die Bibliothek. Ich lasse mich auf einer der Bänke vor der Bibliothek nieder, und trinke meine Erdbeermilch, die ich mir vorhin, in der Nähe vom Bahnhof, erworben habe. Im Vorfeld habe ich mir angelesen, dass die Statue versteckt liegt, und leicht zu übersehen ist. Wo genau im Park sie sich befinden soll; davon habe ich nicht einmal ungefähr eine Vorstellung.

 

Ich frage zwei ältere Ladys, ob sie mir eventuell ungefähr die Himmelsrichtung anzeigen können, die mich irgendwann zur Jagger-Statue bringen wird. Das können sie. Sie kennen die Statue, die ich auf einem Foto zeige, dass ich zu Hause ausgedruckt habe; sie wussten aber nicht, dass es sich dabei um Mick Jagger handeln soll. Was ich dann gut verstehe, als ich sie in natura erblicke. Wir unterhalten uns ein wenig über mich, das Reisen in den Zeiten von Corona, die Sechziger Jahre, und Politik. Vorbei an einer alten, erhaltenen, kleinen römischen Brücke tauche ich in den Park ein, und wende mich nach links, um einen umzäunten Sportplatz zu umgehen, dessen Begrenzung ich folgen soll. Irgendwo, ganz weit hinten, fast am anderen Ausgang zum See „The Brook“ Soll die Statue stehen. Schließlich finde ich sie, kann aber nicht bis ganz vor sie gehen, da der Zugang zu ihr abgesperrt ist, mit einem Gitter und rot/weißem Gefahrenband. Hinter der Statuette (mehr ist es nicht) fließt ein Bach, der vor kurzem wild geworden ist, und über das Ufer trat. Die Ehrung hier für Mick Jagger erscheint mir ähnlich respektlos, wie diejenige, welche meine Vaterstadt Richard Wagner angedeihen ließ. Die Statuette ist klein, verrostet, vernachlässigt, und hinter Gestrüpp verborgen. Neben Mick steht ein Vox-Verstärker. Richtig, die Vox-Verstärker kommen ja auch aus Dartford, und dort, wo sie gefertigt wurden, soll es auch eine Heritage-Plaque für sie geben. Ich muss den Apparat hoch über den Stacheldraht halten, und aufs Geratewohl Aufnahmen machen, verbunden mit der Hoffnung, dass irgendetwas davon gelingt. Zu Hause, als ich die Bilder am Computer in den richtigen Winkel bringe, bin ich dann nicht wirklich mit einem der vielen Fotos zufrieden, was aber weniger an mir liegt, sondern an den Gegebenheiten vor Ort. Aber zumindest eines der Bilder ist annehmbar, denke ich. Ich verlasse den Park und überquere eine stark befahrene Straße. Drüben, auf der anderen Seite, läuft man wieder hinein ins Grüne, und gelangt an einen Badesee, einen Steinbruch, der auch „The Brook" genannt wird. Hier treffe ich die beiden Damen von vorhin wieder, die am See, der in der Tat sehr malerisch erscheint, entspannen wollen. Die verbringen hier tatsächlich ihren Urlaub! Na, macht nichts; ich doch auch. Nun könnte ich es mir einfacher machen, und den See nicht umgehen, und stattdessen den Hauptstraßen folgen. Was langweilig wäre. Ich folge lieber dem Ufer des Sees Richtung Süden, und biege dann nach Westen ab. Zum ersten Mal sehe ich Verkehrszeichen (elderly people), was man auch humorvoll so interpretieren könnte: Vor dem Hunde … nein: Vor ältlichen Menschen wird gewarnt! Bin selber alt, macht nichts. Nun will ich die Oakfield Lane entlang den weiten Weg in Richtung Westen gehen, zu meinem nächsten Ziel, einer ehemaligen Wohnstätte der Familie Jagger im wohlhabenden Vorort Wilmington, das die Familie im Jahre 1954 bezogen hatte.

    

Hier, in Wilmington, gibt es die Reste einer sächsischen Kirche zu besichtigen (was ich mir leider entgehen lasse), und die Gedenkstätte eines deutsch-italienischen Kriegsgefangenenlagers, dass sich im Zweiten Weltkrieg hier befand. „The Close“ ist eine ummauerte Siedlung mit Reihenhäusern; alles macht einen sehr gepflegten Eindruck.  Ich hatte mir gemerkt, dass das Haus der Jaggers auch den Namen „New Lands“ führt. Nach einigem Suchen entdecke ich diesen Namen an der Nummer 24. Als ich die Kamera zücke, kommt der Typ, der dort wohnt, natürlich aus dem Haus, und weißt mich in die Schranken. Er hat einen Vertrag mit dem Unternehmen „Satisfaction Tours“ geschlossen, welches zahlende Kunden zu den Stätten der Stones führt. Exklusiv mit der Buchung dieser Tour kann man das Haus (und Mick Jaggers Kinderzimmer) sogar von innen besichtigen. Fotografieren dürfte ich das Haus (seiner Meinung nach) mit gehörigem Abstand, was mir aber nichts ausmacht. Von Wilmington aus bewege ich mich wieder in den Norden Richtung 41 Denver Road, einer weiteren Wohnstätte von Mick Jagger. Verglichen etwa mit John Lennons Wohnstätte im Haus seiner Tante Mimi in Liverpool wirkt das Haus der Jaggers, das Richards als luxuriös empfunden hat, recht fade. Auch einem Vergleich mit dem Haus in der Spielman Road Nummer 6, in welchem die Richards später zur Miete wohnten, hält das Haus hier nicht stand, aber offenbar waren die Jaggers auch die Besitzer, während die Richards eben immer nur Mieter waren. Nun heißt es: wieder vor zur Hauptstraße gelaufen, und die nächste Straße rechts wieder rein. Endlich stehe ich also hier vor der 33 Chastillian Road.

  

An der Hauswand prunkt eine Blue Plaque, die daran erinnert, dass Keith einst hier wohnte. In seinem wunderbaren Buch „Life“, in der deutschen Ausgabe, erschienen im Heyne Verlag, beschreibt er uns, wie er nach 35 Jahren zum ersten Mal wieder in Dartford ist, um seiner Frau Patti und seiner Tochter Angela (dem gemeinsamen Kind mit Anita Pallenberg, welches ebenfalls in Dartford, bei der Mutter von Keith, aufgewachsen ist) die Orte seiner Kindheit zu zeigen. Gegenüber gibt es einen Co-Op Laden und einen Metzger – dort wurde Keith einmal von einem Hund gebissen. Heute sehe ich keinen Hund, also kaufe ich mir im Co-Op eine Milch und ziehe mir einen Cappuccino aus der dort vorhandenen Maschine. Vor einem zum Glück geschlossenen Fish & Chips-Geschäft (ich hasse Fisch) stehen zwei billige Plastetische und –Stühle; ich setze mich einfach hin, und trinke meinen Cappuccino. Keith und Mick besuchten zunächst zusammen die Wentworth Primary School, welche sich in der Gegend um die Denver Road und die Chastilian Road befindet.

 

Leider habe ich diese Schule nicht auf dem Plan, als ich dort, im wahrsten Sinne des Wortes, Zugange bin. Und zu allem Übel laufe ich auch noch, statt die Chastillian Road weiter, und um die Ecke zu laufen, wieder vor zum Heather Drive, ohne der Schule dort an der Ecke zur Chastillian Road so richtig gewahr zu werden. Ich bin verrückt genug, nun auch noch das am weitesten entfernte Stück Weg hoch in den Norden zur Moreland Avenue zu laufen, von der ich nur weiß, dass Familie Richards eben in selbiger wohnte, ohne dass ich in Erfahrung bringen konnte, wo genau das war. In der Moreland Avenue befand sich die erste Wohnung der Richards, in welcher Keith den Krieg mit seinen Bombennächten erlebte. Die Richards kamen aus Walhamstow (nordöstlich von London) zur Schwester der Mutter, Tante Lil, die hier einen Milchmann geheiratet hatte. Weil eine Fliegerbombe das Haus, in dem die Richards zuerst wohnten, beschädigt hatte, als sie gerade nicht zu Hause waren, zogen sie ein paar Häuser weiter, in die Wohnung von Tante Lil. Dartford lag genau in der Fluglinie der deutschen Bomber, und oft luden diese hier auch ihre restlichen Bomben ab. Von diesen Horror-Nächten in den Kellern (allerdings den Nächten in Deutschland) habe ich bereits von meiner Mutter und meiner älteren Schwester gehört – Nächte, in denen man kaum einmal durchschlafen konnte, ohne dass die Sirenen einen aufweckten, und man im Keller Schutz suchte. Von der Moreland Avenue, sagt Keith, sind damals zwei Drittel weggebombt gewesen. Im Vorfeld konnte ich leider nichts darüber in Erfahrung bringen, um welche Hausnummer es sich bei dem Haus, welches die Familie Richards bewohnte, gehandelt hat. So fotografiere ich das Straßenschild, und weiträumig auch die Straße, und laufe die verschlafene Häuserreihe mehrmals ab.

 

Nirgends ein Mensch (und schon gar kein alter), den ich befragen könnte, wo genau good old Keith damals wohnhaft gewesen wäre. Plötzlich öffnet sich die Tür des Hauses Nummer 2, als ich genau davor vorbeigehe. Ein etwa fünfzehnjähriger Junge trägt den Müll zur Tonne. Hi, darf ich dich etwas fragen, so ich. Klar, meint er. Keith Richards von den Rolling Stones hat damals hier, in eurer Straße, gelebt. Habt ihr zufällig eine Ahnung davon bewahrt, wo genau das war? Ja, meint der Junge. Gleich nebenan, in der Nummer 1. Das ist das erste Haus in der Straße, welches sich genau an am Beginn derselben befindet. Glück muss man haben, denke ich, und fotografiere munter drauf los. Zu Hause frage ich mich nun natürlich, ob die Angabe des Jungen überhaupt stimmt, ob er mich, bewusst oder unbewusst, beschummelt hat (ich bin misstrauisch geworden. Ich muss mich damit abfinden; jedenfalls war ich dort. Weite Teile des Wegs muss ich nun leider wieder retour laufen, um zur Fernverkehrsstraße Shepard’s Lane zu gelangen, welche mich zurück in das Zentrum von Dartford bringen soll. Ganz am Ende der Shepard’s Lane, wenn man schon fast wieder das eigentliche Dartford erreicht hat, findet man die Grammar School for Boys, welche Mick Jagger dereinst besuchte, und in welcher es heutzutage auch ein Mick-Jagger-Centre für Tanz und Bewegung gibt. Vorher passiere ich die Grammar School for Girls, und ich glaube mich zu erinnern, dass Jagger damals auf jene ging, und die Schulen später, irgendwann, einfach die Jungs-Abteilung mit der Mädchen-Abteilung getauscht hätten. Allerdings finde ich dafür nirgendwo mehr einen Anhaltspunkt. Das Mick-Jagger-Centre wurde im Jahre 2000 von Mick Jagger und dem Herzog von Kent eingeweiht. Teil der Aktivitäten ist ein „Red-Rooster-Project“ zum Erlernen von Instrumenten. Also fotografiere ich auch diese; natürlich diskret. Das Mick Jagger Centre ist natürlich gerade geschlossen. An der Seite befindet sich ein Wappen: MJC, ora et labora, gegründet 1576. Anscheinend haben die direkt von Nostradamus erfahren, dass es einmal, in ferner Zukunft, hier in Dartford einen Mick Jagger geben wird. Mein nächstes Ziel liegt östlich vom Stadtpark.

       

 

Irgendwann bin ich mir nicht mehr sicher, und ich frage einen ziemlich kleinen, älteren Mann nach der Wegrichtung. Was ich dort wolle? Ah, Keith Richards! Ich war sein Schulfreund, sagt er. Fotografieren darf ich ihn nicht, und seinen Namen verrät er mir auch nicht. Vielleicht handelt es sich gar noch um jenen Dave Gibbs, den Keith in seinem Buch als Gefährte der Fahrradtouren in das Moorland benennt; oder um Stephen Yarde, dem unglücklichen Opfer der meisten Schulhof-Schlägereien. Als Keith neun Jahre alt war, bekam die Familie von der Gemeinde ein Haus in einer ganz anderen Gegend zur Miete zugewiesen, im Viertel Temple Hill, östlich vom Stadtzentrum, in der Spielman Road Nummer 6. Plötzlich wohnte Keith exklusiver als Mick, es handelt sich um ein wirklich schönes Haus mit Vorder- und Hinter-Garten. Jedenfalls ergibt sich der Eindruck, wenn man heute davorsteht. Keith sah das damals ganz und gar nicht so. Er spricht von einer „Mondlandschaft ohne Bäume“. Die ganze Siedlung dort war erst 1947 entstanden und eingeweiht wurden. Die Familie von Mick hingegen zog ungefähr zur selben Zeit in das vornehme Viertel Wilmington in die Straße „The Close“, die absolute wohnliche Nähe zueinander hätten sie also so oder so verloren. Er und Mick kannten sich durch die Schule, und hauptsächlich, weil sie so nahe beieinander gewohnt hatten. Nun wohnte er, nach eigenem Selbstverständnis, „auf der anderen Seite der Gleise“. Ab und zu findet man in der Literatur über die Stones auch die Behauptung, die Eltern hätten den Umgang mit Keith für Mick als „nicht standesgemäß“ empfunden. Die Anhöhe auf dem Temple Hill ist so steil, wie Keith sie in seinem Buch beschrieben hat. Als ich an den Eisenbahnbrücken ankomme, stelle ich mir vor, wie die bösen Jungs dort auf den kleinen Keith gewartet haben, um ihm entweder Geld abzuknöpfen, oder ihn zu verprügeln, falls er keines bei sich hat. Teile von Temple Hill sind noch heute eine No-go Area einer Jugend-Gang, erzählt uns Keith in seinem Buch.

   

Aber die wenigen Menschen, die ich dazu befrage, meinen alle, dass sei totaler Quatsch. Wir haben absolut keine Ahnung, warum Keith so einen Unsinn behauptet. Und wenn ich mir die Gegend hier so betrachte, kann es ja gut sein, dass das in den sechziger Jahren gefährlich für Kinder und Jugendliche war, aber heute? Alles wirkt brav und gepflegt. Selbst die Halbwüchsigen, die mir entgegenkommen, und meine große Kamera sehen, lassen mich in Ruhe. Keith erzählt uns in seinem Buch von den Mühen des Schulweges. Er fuhr zumeist mit dem Bus in die Stadt, aber das Geld für die Rückfahrt hat er so gut wie immer auf den Kopf gehauen, wie man so sagt. Also musste er laufen, entweder durch die Princes Road, oder über die Havelock Road. Und immer wartete ein älterer Junge auf ihn, der ihm Geld abknöpfen wollte. Geld hatte er nie, also wurde er verdroschen. Bis er auf die Idee kam, die Situation dadurch zu klären, dass er mit einem großen, starken Jungen, welcher in der Nähe der Richards wohnte, einen Handel abschloss. Keith erledigte dessen Hausaufgaben (man möchte es kaum glauben, dass er dazu in der Lage gewesen ist), und der große Junge verprügelte die Aggressoren, wobei Keith kräftig half, als die anderen am Boden lagen.

 

Als ich das schöne, gepflegte rote Backsteinhaus mit der für Keith Richards hier privat angebrachten, rechteckigen Gedenktafel in der Spielman Road Nummer 6 gerade fotografiere, öffnet sich auch hier wieder eine Tür, aus der eine verärgerte Lady tritt. Sie weist mich darauf hin, dass ich auf einem Privatgrundstück stehen würde, nämlich dem Nachbargrundstück, von wo aus ich mir an den Mülltonnen einen besseren Winkel erschlichen habe. Dort gibt es kein Tor, nur einen betonierten Weg. So groß kann mein Vergehen gar nicht sein, wie sie mir einreden will. Schließlich beruhigt sie sich wieder, und wir führen doch noch eine angenehme Unterhaltung miteinander. Sie fotografiert mich für ihr privates Album, bestehend aus Touristen, die den Weg hierher gefunden haben. Der letzte Tourist, den sie vor mehreren Monaten hier antraf, war eine junge Französin, die, bedingt durch den Lockdown, gerade viel Zeit übrig hatte, da sie keine Verbindung zurück auf das Festland bekommen konnte. Ich wünschte, diese wäre jetzt noch vor Ort. Die Lady meint noch, dass es ziemlich mutig (wahrscheinlich meint sie eher: leichtsinnig) von mir sei, jetzt, so kurz nach dem Lockdown, nach England zu reisen. Durch das viele Reden vergesse ich es doch glatt, ein ordentliches Foto von einem der weißen, schwarz umrandeten Straßenschilder der Spielman Road zu machen. So etwas zu vergessen ist für mich immer sehr ärgerlich; diese Schilder sind mir wichtig.

     

Nun könnte ich von hier aus auch noch in eine nach Mick Jagger benannte Straße laufen, die aber sonst zu ihm keinen Bezug hat, also spare ich mir das. Inzwischen hat man in Dartford 13 Straßen nach Stones-Songs benannt; aber auch hier winke ich innerlich ab. „Ruby Tuesday Drive“ und „Rainbow Close“ sind nicht wirklich dass, was ich unter Ehrung verstehe. Ein ordentliches Denkmal im Stadtpark würde ich mir wünschen, nicht solche Albernheiten. Statt die ganzen „Lady Jane Walks“ und Konsorten aufzusuchen gehe ich zurück in das Stadtzentrum und versuche, das Rat- oder Stadt-Haus zu finden. Vorher begegne ich noch einer Art Blue Plaque für Richard Trevithick, einem der Pioniere bei der Entwicklung der Dampfmaschine. Der Name kommt mir bekannt vor, und richtig: Ich kenne ihn (und auch die anderen großen Dampfmaschinen-Erfinder wie William Murdoch und James Watt) seit frühester Kindheit aus einem frühen Digedags-Mosaik-Comic (aus der DDR) der später als Erfinder-Serie bezeichneten Episoden, in welcher Dig und Dag ihren Freunden vom Planeten Neos auf den langen Flügen von der Erde erzählen.

 

Ich vergewissere mich dann durch mehrmaliges Nachfragen, wo genau sich das Stadthaus (Townhall) denn befindet. Auf eine offizielle Funktion deutet am Gebäude selbst nichts mehr hin, aber es wirkt noch stattlich, wenigstens für Dartforder Verhältnisse. Auf den Treppenstufen sitzen zahlreiche, teils Shisha rauchende Kinder; größtenteils handelt es sich offenbar um Migranten vom Balkan. Ich bitte sie höflich, einmal kurz zu weichen, denn ich will das Haus fotografieren. Erst sind sie genervt, doch als ich ihnen erkläre, dass der berühmte Mick Jagger genau hier als Kind manchmal Eis verkauft hat, um sein Taschengeld aufzubessern, machen sie amüsiert Platz. Ich fahre erschöpft zurück nach London, um im Hotel die Reste meines im kleinen Zimmer-Kühlschrank gelagerten Frühstücks zu verdrücken. Keine Umwege mehr; auf zum Charing Cross, in die Villiers Street, und die Circle Line von Victoria Embankment nach Paddington genommen. That’s all for today, goodbye.

 

                   Mein@Ganzen. Copyright 2020 by Fritz Rainer Polter 



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