Willy träumt

Kurzgeschichte

von  JohannPeter

Als an den Bahnübergängen noch Bahnwärterhäuschen standen und die Schranken von Schrankenwärtern auf und nieder gekurbelt wurden, gab es irgendwo im sandigen Brandenburg ein Städtchen mit einem Verschiebebahnhof für Güterzüge und dazu ein Stellwerk für die vielen Gleise und Weichen und Lokschuppen, Kohlenbunker und Wasserkräne, denn es wurde noch durchs Land gedampft.

Nahebei führte eine Fernstraße vorüber, und wo die Bahn diese kreuzte, stand so ein Häuschen am Übergang mit der doppelten Kurbel für die rot-weißen Balken. 

Übern Tag und wenn sehr lange Züge gekoppelt wurden, saßen die Schrankenwärter bei gutem Wetter meist vor der Tür auf der Bank und wenn das Stellwerk läutete, gingen sie erst zur Kurbel und dann zum Telefon, denn Fahr- und Rangierplan kannten sie beinahe auswendig.

Nur nachts wurde damals nicht rangiert, und wenn das Stellwerk abends nach zehn aussah wie eine Adventsstube, drehte Willy Buscher das Licht auch im Schrankenpostenhäuschen kleiner.

Als er noch ein Lehrling war zum Stellwerks- und Weichenschlosser, träumte er manchmal von großen Fahrten, mächtigen Loks wie der 01 und eleganten Waggons mit ebensolchen Insassinnen mit Seidenschirmen und Gentlemen mit fein gebürsteten Zylindern – Orientexpress…

Er hatte davon gehört, dass irgendwann auch einmal eine Linie des Orientexpresses an diesem Posten vorbei nach Warschau geführt hatte, und Willy stellte sich vor, wie er die Kurbel gedreht und mit Signalfahne und nickelblankem Horn dem vorbeidonnernden Express salutiert hätte… - der Orientexpress - Legende, Traum, Mythos auf Schienen…

In den Abstellgleisen des Stellwerks stand irgendwann einmal ein solcher Waggon, sicher nicht vom Orientexpress, doch recht nobel ausgestattet – mit Seidenschirmen um die Wandleuchten, grünen Plüschbezügen auf den Sitzen und messingnen Aschenbechern, das Fensterglas nun aber trübe.

Keiner wusste irgendwann noch, wie der Waggon da hingekommen war. Er stand da, störte offenbar niemanden, irgendwann hatte ein Eichhörnchen eine Lufthutze im Dach zum Nest erklärt, in einer anderen nistete eine Amsel – Idyll neben der Geschäftigkeit des Waggonverschiebens.

Wenn Willy Buscher Nachtdienst hatte – zwischen abends zehn und morgens fünf passierten im Sommer drei, im Winter ganze zwei Züge den Schrankenposten -, setzte er sich drinnen in den schon bröseligen Korbsessel und legte die Füße auf die Bank vor dem Schreibplatz mit dem dicken Protokollbuch, wo alle Zugbewegungen mit Zeiten und Handlungen des Postenwarts einzutragen waren. Schlafen durfte er freilich nicht, aber in diesen Momenten des Dahindämmerns packten ihn die Phantasien fast körperlich - als donnere eben vor dem Häuschen der Orientexpress vorüber.

Auch auf dem Stellwerk, das zugleich Blockstelle war, war es nun ruhig und so entging den Stellwerkern, dass sich einmal sommernachts in drückender Schwüle, ehe sich das Gewitter krachend entlud, der Nobelwaggon in Bewegung gesetzt hatte, einige Meter nur, und – so hatte es  den Anschein – vom Gewittersturm dieselbe Strecke wieder retour. 

Einem Streckenläufer, der tags darauf auch das Abstellgleis plangemäß zu begutachten hatte, fielen einige abgebrochene und offenbar von Eisenbahnrädern überfahrene Holunderäste ins Auge, da er aber weiter keine Auffälligkeiten bemerkte, vergaß er seine Beobachtung wieder.

Als seine Frau erkrankte, konnte Willy lange keinen Nachtdienst machen, er lag dann zuhause neben ihr, lauschte, ob sie noch atmete und sank mit einem Gedanken an die Eisenbahn und dampfende, rauschende Fahrten von Paris nach Konstantinopel in dunklen Dämmer. So erfuhr er immer erst am nächsten Tag, wenn der Nobelwaggon mal wieder eine seiner rätselhaften Fahrten unternommen hatte, aber sogar die Eisenbahnverwaltung hielt die Sache für einen derben Spaß verirrter Eisenbahnfanatiker, etwas mystisch, wie die Kornkreise in Südengland.

Willys Frau starb, und einige Zeit später ging er – nun häufiger als irgendwann – wieder zur Nachtschicht. Was hätte ihn zuhause halten sollen, außer vielleicht seiner Modellbahn im ehemaligen Kinderzimmer, wo er auf zwei mal drei Metern sein Postenhäuschen und das Stellwerk samt Gleisanlage und hinter verschlungenen Tunneln einen kleinen Eifelturm und zur anderen Seite die Hagia Sophia nachgebaut hatte. Hin und wieder noch nach dem Spätdienst ließ er dann seinen Orientexpress über die Anlage rollen, und manchmal rangierte er den Zug über sein Stellwerk, an seinem Postenhäuschen vorbei, zwischen den gesenkten Schranken hindurch und ließ ihn halten, warten auf den langen Güterzug und die Kollegen in den Blaumännern auf der Draisine. Dann erst durfte die noble Gesellschaft weiterfahren.

Bis zu jener unglückseligen Nacht, als das Stellwerk eine Sonderfahrt meldete, Rangierlok mit zwei Kessel- und zwei Kühlwaggons, die gleich morgens noch in den ersten Zug gestellt werden sollten.

Willy war in seinem Korbsessel doch etwas eingenickt gewesen, hatte seinen Traum geträumt, gerade hatte sein Orientexpress den Bosporus erreicht. Das Telefon schreckte ihn hoch, er nahm die Meldung entgegen und kurbelte die Schranke herunter, dann kam auch schon der kleine Zug durch die Nacht herangeschnauft. 

Zu spät sahen sie vom Stellwerk, dass die erste Weiche zur Einfahrt in den Rangierbereich nicht frei war, der Salonwagen stand darauf, niemand hatte ihn dahin verschoben. Dennoch stand er da, reglos, aber eben im Weg. 

Es krachte fürchterlich, die Lok sprang aus den Schienen, die Waggons mit ihr. Es hatte kein Notbremsen mehr geholfen, der Lokführer war schlimm verletzt, Lok, Gut und Wagen waren verloren, der Salonwagen nur noch ein verbogenes Gebilde.

Die Untersuchung des Ereignisses ergab kein Resultat. Niemand konnte erklären, weshalb sich in lauer Frühlingsnacht auf völlig ebener und nicht ganz hindernisfreier Strecke bei einem alten Salonwagen die Feststellbremse löst und dieser antriebslos einige Dutzend Meter zurücklegt. Spuren, die das hätten erklären können, wurden nicht gefunden.

Kurz darauf ging Willy Buscher in Rente, die Abschiedsfeier mit den Kollegen vom Stellwerk fiel klein aus, zu sehr steckte allen das rätselhafte Unglück noch unter der Haut, die Reparaturen waren noch immer im Gange.

Die erste Nacht im Ruhestand fiel ihm schwer. In die Dorfkneipe mochte er nicht gehen, mit seinen Kindern zu telefonieren fühlte er keinen Grund, feiern könnten sie seinen Ruhestand, wenn er zur Ruhe gekommen wäre – darauf lautete wenigstens ihre Übereinkunft.

So fand er sich mit der Frage am Küchentisch, was denn nun in Wirklichkeit anders sei, als ehedem, außer, dass er hier nun allein und mit allem eigentlich fertig saß. 

Früher hatte er mit seiner Frau hier gesessen, sie hatten Obst oder Pilze geputzt, Anschaffungen gerechnet oder einfach Zeitung gelesen, und nur manchmal hatte sie der Alltag losgelassen, wenn die Freifahrtscheine der Eisenbahn für eine große Tour reichten. Aber es war dann höchstens die erste Klasse gewesen, an die See oder in die Berge und nur einmal ein Schlafwagenabteil über Prag nach Budapest… - ein wenig Orientexpress zumindest, der Richtung nach.

Also tat Willy Buscher an diesem ersten Ruhestandsabend, was er gewöhnlich immer getan hatte – er legte einige Sachen für den Tag zurecht, richtete den Frühstückstisch vor, für zwei, wie er es immer getan hatte, wenn Frühdienst sein würde, auch wenn er dann allein frühstückte, seine Frau noch schlief.

Und schließlich versank er in Bett und Dämmer, eine ungewisse Unruhe bewegte ihn noch einen Moment, dann spürte er das Gleis immer schneller unter sich verschwinden, die Schwellen zerflossen zu einer Art Teppich, rechts und links begrenzt vom blanken Stahl der Schienen, lautlos flog der Zug durch Felder, Wälder, an Dörfern vorbei, Städten in der Ferne, bis da nur noch ein Blau war, das zu Wasser wurde, einer Welle, die ihn aufhob, fort trug… 

Und wie er seinen Traum träumte, zum tausendsten Mal vielleicht, klickte nebenan im Kinderzimmer leise ein Relais, floß ein Strom durch dünne bunte Kabel, erstrahlten die Lichter im kleinen Stellwerk, erglommen Lämpchen im Orientexpress, senkten sich die Schranken an seinem Postenhäuschen, die Kollegen auf der Draisine zuckelten am Stellwerk vorbei, der Güterzug rollte behäbig an und als endlich das Hauptsignal freie Fahrt gab, zog der Orientexpress in respektvoll verhaltenem Tempo an der Szenerie vorbei. Und schließlich, als der Edelzug mit kurzem, dünnem Pfiff im Tunnel verschwand, bewegte sich auch der Salonwagen ein, zwei Wagenlängen in Richtung Rangiergleise…

Willy hörte im Einschlafen seine Züge rollen und meinte, dies sei schon der Traum, doch allein der am nächsten Tag nahe der Unglücksweiche stehende Salonwagen und die noch immer geschlossene Schranke bei seinem hier doch unbesetzten Häuschen ließen ihn stutzen…



Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram