Wolf und Rabe

Kurzgeschichte zum Thema Fantasie

von  GroAda

Wolf und Rabe


Ein Wolf und ein Rabe gingen zusammen ein Stück des Weges. Der Wolf trabte im lockeren Schritt und der Rabe flog wie ein Segler neben ihm. An einer Quelle erblickten sie ein Reh, das gierig Wasser trank.

“Welch ein schönes Geschöpf”, leckte sich der Wolf das Maul und versteckte sich hinter einem Baum. Der Rabe aber setzte sich auf einen Ast über ihn. Er blickte hinab zur Quelle, sah den grazilen Körper und sah das Fell, das vor Feuchtigkeit dampfte. Jemand hatte das Reh gehetzt. Der Rabe schaute sich um, aber niemand war zu sehen. Mit schrägem Kopf spähte der Rabe zum Wipfel des Baumes, die Blätter winkten ihm zu und schüttelten sich.

Plötzlich hob das Reh den Kopf. Heftig vibrierten seine Nüstern. Tief zog es den Wind durch die Nasenflügel. Im gleichen Augenblick trat das Reh von der Quelle weg und einen Schritt auf beide zu. Zornig stampfte es mit dem Huf auf den Boden und motzte: “He, komm heraus aus deinem Versteck, sonst….”

In den Augen des Wolfes loderte ein Feuer auf. Ihre Worte brachten sein Blut zum Schwingen. Und faule Schritte vortäuschend, verließ er den nutzlos gewordenen Platz. Ihm lief das Wasser im Munde zusammen und lüstern fragte er: “Sonst was?”

Das Reh erschrak. Noch nie hatte es solch einen großen und schönen Wolf gesehen. Unter seinem Fell spannten sich die Muskeln. Schweif und Kopf reckte er stolz in die Höhe.
Schon ihr erster Blick verriet ihm, dass er ihr gefiel. Langsam schlich er um sie herum, immer darauf bedacht, dass sie nur das Beste von ihm sah. Schmeichelnd flüsterte er: “ Hab keine Angst vor mir. Mein Wanst ist voll”, und blähte seinen Leib auf wie einen Ballon. Das Reh stutzte, der Wolf hatte recht.

Derweil hockte der Rabe still auf seinem Ast und belauschte beide. Es schmerzte ihn, dass der Wolf immer das bekam, was er wollte und für ihn, dem Raben, nur die Reste blieben. Er empfand sich auch als ein schönes Tier. Sein Federkleid flimmerte wie ein dunkler Spiegel und sein Schnabel war kräftig wie die Krallen des Wolfes. Mit seinen Augen aber konnte er jedem Lebewesen tief in die Seele tauchen. Dort sah er, wie sie wirklich waren.
A.GRO




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Kommentare zu diesem Text


 franky (01.12.23, 16:22)
Hi Groada 

Eine sehr gelungene Parabel, mit eigenartiger Auflösung. 
Gerne gelesen 

Grüße von Franky

 GroAda meinte dazu am 02.12.23 um 08:51:
Vielen Dank für die Rückmeldung.
Nächste Woche gibt es eine neue.

 AchterZwerg (02.12.23, 07:09)
Die Seher sind nicht immer beliebt.
Vielmehr wälzen sich die Wesen der Erde lieber in ihren Illusionen, lassen sich allzu gern täuschen. 
Vor allem über sich selbst. ;)

Sehr gelungen.  <3 <3

 GroAda antwortete darauf am 02.12.23 um 08:53:
Vielen Dank für die Rückmeldung.
Nächste Woche sende ich einen neuen Übungstext.

 Dieter_Rotmund (02.12.23, 12:00)
Nett, aber m.E. etwas zu schwülstig formuliert.

 GroAda schrieb daraufhin am 02.12.23 um 12:40:
Ich habe nicht ganz verstanden.
Was bedeutet für Dich "schwülstig"?
Ich habe die Übung meinen Lehrern gezeigt, verschiedenen
qualifizierten Probelesern und in einige Foren gestellt. Es gab Lob und Kritik.

 Dieter_Rotmund äußerte darauf am 02.12.23 um 12:47:
Die Häufung von allzu bildhaft-blumigen Adjektiven und Bildern, z.B. 
"grazilen Körper"
"die Blätter winkten ihm zu" (Bäume mit Bewußtsein?)
"Heftig vibrierten seine Nüstern"
"Sein Federkleid flimmerte wie ein dunkler Spiegel"

Ganz heftig:

"In den Augen des Wolfes loderte ein Feuer auf. Ihre Worte brachten sein Blut zum Schwingen"

Was waren denn die anderen Kritikpunkte?

 AchterZwerg ergänzte dazu am 02.12.23 um 17:35:
Es handelt sich hier um einen Fließtext, nicht um ein Gedicht, Dieter.
Und gerade bei Fabeln oder Parabeln darf man ruhig etwas tiefer in den Farbtopf greifen. Soviel ist bei mir aus der Literaturwissenschaft hängengeblieben ... ;)

 GroAda meinte dazu am 09.12.23 um 13:14:
Dieter Rotmund

Meine ÜBUNG ist inspiriert von Goethes "Reineke Fuchs" und vom Buch Mogli (Ausgabe 1952), Kipling.
Diese Übung ist KEIN Sachtext!
Ob Bäume ein Bewußtsein haben oder nicht, darüber kann man diskutieren.
In einer Fabel erhalten Tiere die Eigenschaften und Charaktere von Menschen. Ich könnte mit Dir über den Weihnachtsmarkt gehen und Dir mindestens fünf Männer zeigen, die wie Wölfe sind, bei denen die Augen lodern, wenn sie einen bestimmten Typus von Frau sehen und bei denen das Blut in allen Körperteilen zu schwingen beginnt. Mein Rabe, der mit mir in echt zusammen lebt, hat ein Federkleid, das wie ein schwarzer Spiegel flimmert. Ich hab schon mal ein Reh gefangen, dessen Nüstern vibrierten heftig, als ich es fest umschlungen hielt.
Mein Lehrer sagte mir, dass man als Schreiberling sehr gut und genau beobachten lernen muss (sehen, riechen, schmecken, fühlen).
Es gibt Leser mit Fantasie und Leser ohne. Ich habe die Fabel gewählt gerade wegen der Übertreibung. Man hat mehr Spielraum zum Spielen.
Was bei einem einzelnen deutschen Mann "schwülstig" ist, ist bei einem Russen, Araber, Inder, Asiaten, Afrikaner, Polen, Südamerikaner, Türken usw. nicht schwülstig. Schau Dir bitte deren Filme und Bücher an.
Vielleicht reagierst Du ein wenig überspannt, weil der Text in Dir etwas auslöst. Dann bitte lese meine Übungen nicht mehr! 
Kritik der anderen: Sie sind im Text "gestolpert", als ich beim Reh von es zu sie gewechselt war. Das war Kritik, die mich weiter bringt. Du stielst nur meine Zeit.

 Dieter_Rotmund meinte dazu am 13.12.23 um 15:43:
Alles, was kein Sachtext ist, muss schwülstig formuliert sein?
Und bitte hier niemanden auf sein biologisches Geschlecht reduzieren. Ich bin kein "einzelner deutscher Mann". 
Ich sehe mir übrigens viele Filme an und bin ein fleissiger und anspruchsvoller Leser.

 GroAda meinte dazu am 13.12.23 um 16:26:
Ich bin auch ein anspruchsvoller Leser.
Auf sein biologisches Geschlecht habe ich niemanden reduziert. Deine Meinung ist die Meinung eines einzigen Mannes. Du bist doch ein MANN? Und Du bist EINE Person?
Davon bin ich ausgegangen. Der Name "Dieter" suggeriert es. Wenn Du Dich als etwas anderes definierst, dann bitte entschuldige.
Literatur ist immer in Bewegung. Man liest nicht mehr wie vor einhundert Jahren. Aber in einhundert Jahren wird man nicht mehr so lesen wie heute. Dann ist "schwülstig" vielleicht modern? Eine kleine schwülstige Übung hat noch niemanden umgebracht.
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