Das große Kotzen

Skizze zum Thema Gesellschaftskritik

von  Milta_Svartvis

Vorwarnung


Diese Geschichte wird nicht einfach zu lesen sein. Sie wird ehrlich, offen und stellenweise ziemlich unangenehm für manche werden. Andere werden lachen, staunen, weinen oder vielleicht zustimmen. Vermutlich werden einige sogar kotzen. 

Denn darin geht es um dich. 

Und mich. 

Um uns alle.


Diese Geschichte will nicht die Welt retten.            Sie bietet kaum Lösungsvorschläge an und ist an manchen Stellen ganz schön überzogen (so ziemlich allen, um genau zu sein). Sie ist nicht das beste, schlüssigste oder gar logischste Werk der Literaturgeschichte. Sie ist nicht nett, im Gegenteil, es ist sogar ganz schön unfair und unfreundlich. Wahrscheinlich wird sie noch nicht mal von mehr als fünf Leuten gelesen werden. Wenn überhaupt. Aber diesen fünf Leuten soll sie ein Beispiel geben, was eine Überdosis Mensch mit einem machen kann. Den Schaden, den es anrichtet, unter unseres- gleichen aufzuwachsen.

Diese kleine Geschichte hier soll demonstrieren,  wie kaputt man werden kann, wenn man in einer Gesellschaft aufwächst, in der nur Status, Normen, Äußerlichkeiten und Konsum zählen. Sie wirft auch die Frage auf, wieviel Verantwortung wir als Gesellschaft für das Leben des Einzelnen wirklich haben.


Willkommen in der Anstalt.


Milta Svartvis, April 2023



Mike

Die Schwester kam ins Zimmer, schaltete das Licht an und rief „Guten Morgen!“ Dann nahm sie den üblen Geruch wahr und verzog angewidert das Gesicht, worauf sie zum vergitterten Fenster ging und es öffnete. Anschließend drehte sich die Schwester um und betrachtete den Neuzugang. „In ‚ner halben Stunde gibt’s Frühstück.“, sagte sie, bevor sie aus dem Zimmer ging und die Tür laut ins Schloss fiel. Das alles dauerte nur zwanzig Sekunden. In dieser Zeit versuchte Mikes Gehirn, seinen Verstand durch einen Nebel aus verschwommenen Träumen, halb gebildeten Gedanken und einem mächtigen Kater zu schicken. Einen Moment lang glaubte er sich wieder beim Bund, aber dann fiel ihm ein, dass sein Ausbilder weder Haare noch Körbchen- größe C gehabt hatte.

Mike drehte sich zur Seite und tastete unbeholfen mit einer Hand umher, während er die andere vors Gesicht hielt. Er stöhnte auf. Was zur Hölle war mit seinem Auge los? Vorsichtig betastete er den geschwollenen Hügel links neben seiner Nase. Das grelle Neonlicht brannte wie Feuer. Meik richtete sich auf und nachdem er sich an das Licht gewöhnt hatte, blickte er sich um. Bruchstücke der Erinnerung rauschten durch den schwarzen Rauch in seinem pochenden Schädel. Seine Frau, die ihn verlässt. Tage und Wochen, die im Alkohol ertränkt werden. Eine Flasche zerbricht an der Wand, genau da wo ihr Foto hängt. Laute Musik und Geschrei und die Nachbarn, die bei ihm klingeln, aber er geht nicht an die Tür. Er will sich erhängen, allerdings ist er so besoffen, dass er das Seil nicht mehr zu einem Strick drehen kann. Irgendwann ist da Blaulicht vor dem Fenster, es kommen Polizei und Sanitäter, die ihn vollquatschen. Kotze auf grüner Uniform. Schnüre oder Bänder die sich um seine Gelenke zerren, der grelle Schein einer Lampe an der Decke im Krankenwagen, der Stich einer Nadel, dann… Ruhe.


Was für ein Ritt, dachte Mike. Es war erstaunlich, dass er sich noch an so viele Einzelheiten erinnerte. Normalerweise soff er sich an solchen Abenden so dicht, dass am nächsten Tag nur noch ein schwarzes Loch war, wo sein Gedächtnis hätte sein sollen. Mike stand auf. Der Fußboden unter seinen Sohlen war kalt.

Und da ging ihm durch den Kopf, dass seine Füße jetzt genau so kalt wären, wenn er Erfolg gehabt hätte. Ich wollte mich umbringen. Dieser Gedanke war so kühl und simpel wie das Linoleum unter ihm. In den nächsten fünfzehn Minuten, in denen er sich fertig machte für das, was ihn jenseits des Krankenzimmers erwartete, hallte er in Mikes Kopf wieder wie ein Echo. Und je öfter er ihn dachte, umso weniger wusste er was er davon halten sollte.

Schweigsam saß er am Tisch und aß seine zwei Brötchen mit Marmelade und Aufschnitt eher beiläufig. Den Kaffee, den er sich geistesabwesend eingoss, ließ er kalt werden, denn er war zu beschäftigt damit, seine Mitpatienten zu studieren. Menschen wie du und ich, dachte er. Mike war ein wenig verblüfft; er hatte immer geglaubt, in der Psychiatrie landen nur absolute Wahnsinnige, schreiende, um sich schlagende Irre, die kichernd in Gummizellen hockten und mit Leuten sprachen, die nicht da waren. Massenmörder. Serienkiller. Doch hier im Speiseraum saßen ganz normale Leute. Fernsehen ist doch nur Verarsche, dachte er.


Abends fiel Mike erschöpft ins Bett. Er fühlte sich als wäre er stundenlang Marathon gelaufen, dabei hatte er heute Tag nur ein paar Gespräche geführt. Das erste mit dem Chef der Psychiatrie. Der hatte ihm erklärt, wie es in der hier zugeht und wenn er keine Gefahr mehr für sich selbst war, würde er auf eine offene Station verlegt werden. Außerdem hatte er seinen Chef angerufen und erklärt, was Sache war. Glücklicherweise hatte dieser genug Verständnis und wünschte ihm gute Besserung. Danach hatte er seine Schwester Britta angerufen. Zu seiner Überraschung reagierte sie mit einem Seufzer der Erleichterung. Sie hatte schon befürchtet, dass die Situation irgendwann eskaliert und war froh, dass er nun im Krankenhaus war anstatt tot oder im Knast. „Du bekommst da Hilfe, Mikey. Bitte nimm sie an.“ Seine Antwort kam zögerlich. „Mach ich.“ „Ich hab dich lieb.“, sagte sie.


Mikes Erschöpfung kam von innen.                     

Seine gegenwärtige Lage war ungewohnt, so was kannte er nur vom Hörensagen. Mike war zwar schlau, aber nach eigener Einschätzung eher simpel gestrickt. Er war Handwerker, treuer Fan des SV Werder Bremen und schraubte nach Feierabend am liebsten an seinem Motorrad. Das war sein Leben, oder zumindest war es das bis jetzt gewesen. Der Chefarzt hatte vermutet, dass Mike auf dem besten Wege war, zum Alkoholiker zu werden. Diese Einschätzung hatte ihn wie ein Schlag ins Gesicht getroffen. Jetzt lag er hier, erschlagen von Eindrücken, die er nie hatte sammeln wollen. Und was ihm noch weniger gefiel, waren die Gedanken, die sie in Gang setzten.

Frau Doktor meinte, es könnte mehr sein als die Trennung. Dass das hier nicht nur wegen Sara passiert. Und wahrscheinlich hat sie recht. Ich liebe Sara, natürlich tut es weh, dass sie die Scheidung will. Aber wahrscheinlich ist es wahr. Da ist sicher noch mehr. Schließlich bin ich nicht der erste Mann, der verlassen wird. Vierzehn Jahre… Habe ich es wirklich nicht kommen sehen oder hab ich es nicht sehen wollen? Großer Gott… was hab ich nur falsch gemacht?

Mike betastete sein Auge. Die Schwellung ging langsam wieder zurück. Zuerst hatte er geglaubt, einer der Polizisten, die ihn festgenommen hatten, wäre dafür verantwortlich und hatte schon mit einer Anzeige wegen eines Angriffs auf einen Beamten gerechnet. Mittlerweile wusste er aber wieder, dass er sich das angetan hatte. In einem Tobsuchtsanfall hatte er sich selbst verletzt, indem er sich mit dem Boden einer leeren Weinflasche geschlagen hatte, kurz bevor er dazu übergegangen war, die Wohnung zu verwüsten. Die Nachbarn hatten darauf die Polizei alarmiert. Danach war alles ganz schnell gegangen.

Vielleicht hatte ich ja Glück, dachte er.

Beim nächsten Mak springe ich vielleicht besoffen aus dem Fenster und ende als Krüppel. Für den Rest meines Lebens geistig behindert, so wie Tante Karla. Ein Pflegefall, der sabbernd und schreiend vor sich hinvegetiert und der sich nicht mal mehr den Arsch selber abwischen kann. Will ich das?

Plötzlich, von einem Moment auf den nächsten, fing Mike an zu weinen. Normalerweise weinte er nie, doch jetzt, als er allein war, verlor er jede Kontrolle und presste seine Hände aufs Gesicht. So als würde all der Schmerz, all der Kummer, den er mit dem Alkohol runtergeschluckt hatte, am Stück wieder hoch kommen. Sich entladen. Ihn übermannten Angst, Wut und Verzweiflung. Irgendwann versiegten die Tränen, und sein Atem ging wieder gleichmäßiger. Ich will nicht wie Tante Klara enden, dachte er. Ich will überhaupt nicht sterben. Ich will nur… ich will nur diesen Schmerz nicht mehr fühlen.

Mike dachte an Harald, den einzigen, den er wirklich als Freund betrachtete. Und an die Jungs im Fanclub. An Britta, die immer für ihn da war, seine Eltern. Daran wie Tante Karla vor ihrem Unfall war. So lieb und warmherzig. Das Bigos von Maria, der alleinstehenden Polin aus dem Stockwerk über ihm. Gott, hat die einen Prachtarsch, dachte er und er schmunzelte darüber, dass er in seiner miesen Stimmung plötzlich an so was dachte. Oder daran, das weiche Fell von Benno zu streicheln, Brittas dusseligem Terrier. Die Ekstase im Stadion, wenn der Bremen das Spiel gewann. All die kleinen Dinge seines Lebens, die er nie mehr erleben würde. Er stellte sich vor wie es wäre wenn man von seinem Tod erfuhr. Wie würden die Menschen in seinem Leben reagieren? In ihren Gesichtern sah er nur Schmerz. Stundenlang starrte Mike wie betäubt an die Decke. Er entschied sich bewusst dafür, weiter zu leben.


Am nächsten Tag teilte Mike den Ärzten mit dass er sich Hilfe wünschte. Später rief er Britta an und bat sie, ihm ein paar Sachen zu bringen. Zwei Stunden später wurde er auf die offene Station verlegt. Nach dem Mittagessen kam Britta mit einer Reisetasche voller Klamotten und Hygieneartikeln vorbei. Da sie rauchen wollte, gingen die Geschwister auf den breiten Balkon. Sie hatte nicht viel Zeit und versprach, ihn am nächsten Tag zu besuchen und diesmal würden sie länger Zeit miteinander verbringen. Nachdem Britta gegangen war, suchte Mike die Dusche auf. Er stank schrecklich nach Schweiß und Fusel und als er eine halbe Stunde später aus der dampfenden Kabine trat, fühlte er sich besser. Das hatte er jetzt wirklich gebraucht. Nach dem Abendessen holte er sich im Schwesternzimmer sein Medikament ab. Dort hatte man ihm gesagt, dass er jeder Zeit einen Zimmergenossen bekommen konnte, denn Bedarf für Psychiatrien war immer da. „Was denn, ist es wirklich so schlimm?“ hatte er Frau Köhn, eine dunkelhäutige, schlanke Frau in den Dreißigern gefragt. „Und wie, sagte sie, „die Anwärter stehen Schlange und viele Kliniken sind bereits überlastet.“ Frau Köhn entschuldigte sich und ging fort um nach Frau Mahrzahn zu sehen, der dementen alten Dame am Ende des Ganges. Darauf ging Mike auf sein Zimmer zurück. Der Neuzugang der 5b war von der Aussage der Schwester erstaunt und gleichzeitig etwas bestürzt. Wahnsinn, dachte er. So viele, die leiden. Bevor er sich hinlegte, warf er einen Blick aus dem Fenster. Vor ihm breitete sich der Klinik Park aus, ein breites Gelände mit zahllosen Bäumen, Gehwegen und kleinen Bächen. Ein wunderbarer Ort zum Entspannen, dachte Mike und beschloss, den Park demnächst zu erkunden. Ich könnte mit Britta dort spazieren gehen, dachte er. Unter seinem Fenster erblickte er zwei Ahornbäume, deren Laub längst das für die Jahreszeit typische Farbenspiel aus Gelb, Rot und Braun angenommen hatte. Es war surreal. Mit 13 hatte sich Mike den Arm gebrochen. Später, mit Ende 20, war er angefahren worden. Zum Glück hatte der Fahrer noch rechtzeitig gebremst, so dass er ihn zwar erwischt, Mike aber nur Prellungen und Schürfwunden davon behalten hatte. Hospitale waren für ihn also nichts Neues; aber in einer Psychiatrie zu sein hatte etwas surreales, an dass sich der Metallbauer erst noch gewöhnen musste. Ein gebrochenes Bein konnte man schienen, dachte er. Eine Schnittwunde musste man Nähen. Und womit kommen sie einem hier? Kleine Pillen. Was machen die mit mir, wenn sie erstmal anfangen zu wirken? Er gähnte, wie zur Antwort auf seine Frage. Richtig, dachte er, sie machen müde.                       Als er sich ins Bett legte und ein Glas Wasser auf den Nachttisch neben sich stellte, fiel ihm auf, dass die unterste Schublade leicht hervor ragte. Neugierig zog er sie aus und holte ein Buch hervor. Es war ein Tagebuch mit schwarzem, glänzenden Einband. Die Blanko – Seiten waren dicht und eng beschrieben worden. Mike schaltete das Licht über dem Bett an. Dem Eintrag auf der Innenseite zufolge hatte das Buch einem Serious Fakt gehört. So ein blöder Name, dachte Mike kopfschüttelnd. Wer nennt denn sein Kind freiwillig Serious Fakt? Dann fiel ihm ein, dass es sich um ein Pseudonym handeln konnte, einen Künstlernamen. Neugierig ließ er seinen Blick über eine zufällig aufgeschlagene Seite streifen und las ein paar Zeilen. Interessant, dachte er. Offenbar war der Verfasser ein ehemaliger Patient gewesen, der irgendwann einmal vor ihm in diesem Zimmer untergebracht war und der Text war eine Art autobiografischer Bericht von ihm – sei es zur Selbstreflexion oder nur, um die Zeit totzuschlagen. Vermutlich hatte er sein Tagebuch am Tag seiner Entlassung hier vergessen. Oder aber er wollte, dass man es fand, dachte Mike. Über manches, was da stand, konnte Mike bloß den Kopf schütteln. Was für ein Schwachsinn, dachte er, denn während einige Passagen und Eindrücke von Serious ihm durchaus schlüssig und logisch erschienen, waren andere komplett überzogen und realitätsfern und offenbarten eine sehr undifferenzierte, unreife Weltsicht. Und doch, je länger er darin las umso schwerer fiel es ihm das Buch wegzulegen. Da es in der Psychiatrie wirklich nicht viel Abwechslung gab, beschloss Mike, es vollständig zu studieren.


Das Tagebuch des Serious Fakt

Deutschland macht krank. Ich weiß nicht, ob es uns materiell zu gut geht und wir nur deswegen bekloppt werden um etwas zu kompensieren oder ob es an der zwanghaften deutschen Stechschritt Mentalität liegt, die alles von der Norm abweichende plattwalzt wie ein Wehrmachtspanzer die polnische Staatsgrenze. Ich vermute, es ist eine Mischung aus beidem. Keine Ahnung, wie es in anderen Ländern aussieht und ich habe weder Psychologie noch Wirtschaft studiert. Von Politik habe ich allgemein wenig Ahnung. Ich bin nur ein Typ, der zum wiederholten Male in der Psychiatrie gelandet ist, weil dieses Land einen kaputt macht. Aber davon habe ich Ahnung. Mehr als genug.

Während ich dies schreibe befinde ich mich in der Psychiatrie des St. David Krankenhauses. Ich habe letzte Woche versucht, mich umzubringen und bin aus dem Fenster meiner Wohnung im sechzehnten Stock gesprungen. An sich war mein Vorhaben recht simpel: unter Einbeziehung des "Masse mal Geschwindigkeit" - Prinzips hätte sich mein Körper wie eine Melone auf dem Asphalt vor der Haustür verteilen sollen. Nicht, dass ich einen möglichst spektakulären Abgang hinlegen wollte; es war eine spontane Aktion und eher einem Fall von durchgebrannter Sicherung verschuldet statt einem verzweifelten Hilfeschrei. Aber ich wollte ja auch keine Hilfe. 

Ich wollte sterben.

Dummerweise hatte ich vergessen, dass die Müllabfuhr wegen eines Feiertags erst am Dienstag kommen würde, und nicht wie sonst am Montag. Und so landete ich in dem blauen, ausgebeulten Müllcontainer vor dem Haus, randvoll mit Abfall, scharfkantigen Holzresten und ein paar ausgemusterten Tagesdecken. Meine Nachbarin war gerade dabei, auf dem Balkon Wäsche abzuhängen, als ich wie eine abgeworfene Bombe von oben an ihr vorbei rauschte. Mit einem lauten Krachen landete ich im Container und eine riesige Staubwolke stieg wie ein Atompilz nach oben. Ich war direkt neben einem abgebrochenen Stuhlbein gelandet, dessen steil nach oben ragende Spitze nur knapp meinen Hals verfehlt hatte. Das war ein unsagbares Glück, obwohl ich vor kurzem noch "Pech" dazu gesagt hätte. Dann schrie ich vor Schmerzen. Meine Nachbarin rief schnell den Notruf, wofür ich ihr im Nachhinein ziemlich dankbar bin. Danach rief sie noch alle anderen Hausbewohner an, aus Angst, diese könnten was verpassen.


Statt zu sterben, brach ich mir drei Rippen und mein rechtes Bein. Außerdem wusste jetzt die ganze Nachbarschaft Bescheid, dass ich bekloppt in der Birne bin. Alle standen auf den Balkonen und an ihren Fenstern und verfolgten das Geschehen. Während die Sanitäter mich auf einer Bare in den Krankenwagen luden, sah ich, wie Herr Krawallski, ein grauhaariger Herr aus dem Haus gegenüber, kopfschüttelnd und Pfeife rauchend zwischen seinen Blumentöpfen auf mich herab sah. Es war furchtbar. Ich wurde mit Schmerzmitteln vollgepumpt und ins Krankenhaus gefahren. Man kümmerte sich um meine Verletzungen und später wurde ich von einem Arzt mit Fragen gelöchert, die ich in meinem Zustand kaum mitbekam; schließlich schwebte ich dank der vielen Schmerzmittel noch immer irgendwo zwischen Jupiter und Saturn. Woran ich mich noch erinnere, ist der Moment, als der Arzt mich nach den Grund für meine Aktion gefragt hatte. Ich antwortete:

"Weil ich nicht normal genug bin."

"Wer sagt das?“

"Die Gesellschaft."

Der Arzt blickte mich forschend an.

"Und die Gesellschaft hat immer recht. Ich ein abstoßendes Monster und habe kein Recht zu leben." Aus irgendeinem Grund wollte ich lachen, doch ich konnte nicht. Anschließend wurde ich in die geschlossene Psychiatrie gebracht. Großer Gott, dachte ich. Hier wollte ich doch nie wieder hin. Ich kam mir wie der letzte Versager vor. Hier war ich also wieder. Neonlichter an der Decke, vier weiße Wände, ein ebenso weißer Nachttisch an der Seite meines Bettes und ein Knopf, um nach der Schwester zu rufen.

Nachdem diese sich erkundigt hatte, ob ich noch irgendetwas brauchte, ließ sie mich allein und ich brach in Tränen aus.


In der ersten Nacht hatte ich beschissen geschlafen. Ich bin immer wieder aufgewacht wegen einer geistig umnachteten alten Frau, die ihr Zimmer am anderen Ende des Flurs hatte und sich nonstop die Lunge aus dem Hals schrie. Es war wie in einem Horrorfilm.

Ich stand eine Woche lang unter Beobachtung. Während dieser Zeit bekam ich zahlreiche Anrufe, Nachrichten und Besuche von Freunden. Sie waren geschockt. Entsetzt. Wütend. Traurig. Und meine Leute so zu sehen brach mir das Herz. Ich versicherte den Ärzten, dass ich keine Gefahr mehr für mich selbst bin, denn nach dieser Aktion und dem, was es in anderen auslöste, war mir die Lust aufs sterben vergangen. Ich kam auf eine offene Station. Der Therapeut, der mir zugeteilt wurde, hatte nur kurz Zeit für mich, denn die Koffer für den Honolulu Urlaub standen bereits im Büro. Er stellte mir die üblichen Fragen, warum ich das getan hätte, ob ich Drogen nehme oder Alkohol trinke und dergleichen mehr.


Nein, nein, und nochmals nein, aber tun sie ruhig weiter so, als ob sie mir zuhören.


Seitdem liege ich hier und zähle. Mal die Stunden. Mal die Tage. Mal die Fliegen an der Wand. Wer glaubt, in einer Psychiatrie gehe es zu wie in einem Zirkus, der irrt. Hier ist es so langweilig wie im jedem anderen Teil des Krankenhauses. Ich liege nur im Bett, da ich erstmal mein Bein nicht belasten darf, welches in einer Schlinge liegt. Ab und zu hilft mir ein Pfleger, wenn ich duschen will oder zum Klo muss. Heute Nacht habe ich einen Zimmer - genossen bekommen. Ein Bär von einem Mann, den sie völlig bewusstlos ins andere Bett geworfen haben. Offenbar ein Säufer. Auch so einer, der vom Leben gefickt wurde. Der Kerl schnarcht so laut, dass der Putz von der Decke rieselt. Aber ich kann eh nicht schlafen. Seit Tagen gehen mir tausende von Gedanken durch den Kopf. Wie bin ich schon wieder hierher gekommen? Wann hat meine Karriere als professioneller Klapskalli angefangen? Und wer ist eigentlich schuld daran, dass ich mir mein Leben lang vorkomme wie das größte Stück Mist auf Erden? Bin das wirklich nur ich selbst? Oder habe ich dabei Komplizen? Es heißt doch, es hilft, die eigenen Gedanken aufzuschreiben, um Klarheit zu schaffen. Warum eigentlich nicht, heute Nacht werde ich wahrscheinlich eh kein Auge mehr zukriegen.


Also…


Wo fange ich nur an?


Ich glaube, ich bin ich jetzt zum zehnten Mal in einer Anstalt, aber zum ersten Mal wegen eines Selbstmordversuchs. Eigentlich denke ich jeden Tag daran, mich umzubringen, aber nicht ernsthaft daran, das auch durchzuziehen. Ich bin die Vorstellung, mir mit einer Pistole in den Kopf zu schießen oder mit einer Rasierklinge den Hals aufzuschlitzen schon dermaßen gewohnt, dass es mir gar nicht mehr auffällt. Das ist natürlich nur mein Erleben. Ich frage mich nicht mehr, ob andere Bekloppte genau so ticken. Jeder Mensch ist anders. Nicht alle leiden gleich.


Der größte Schock im Leben ist die eigene Geburt, hab ich mal gehört. Nun, ich hatte dieses tragische Ereignis kaum richtig verdaut, da folgte auch schon die erste körperliche Auseinandersetzung in meinem Leben. Und zwar mit dem Arzt, der dabei half, mich aus den Untiefen meiner Mutter zu holen. Er hielt mich an den Füßen fest wie ein Fischer, der einen prächtigen Aal gefangen hat, und schlug mir mehrfach mit der flachen Hand auf den Arsch. Und das nur, weil dieser Sadist mich schreien hören wollte. Was für ein Feigling. Ganz offensichtlich war der Typ nicht in der Lage, sich mit jemandem in seiner Größe anzulegen. Das konnte er aber auch nur, weil er das Überraschungsmoment der Geburt ausnutzen und mich in meinem erbärmlichen Zustand überrumpeln konnte. Als meine Eltern mir Jahre später davon erzählten, war ich ziemlich geschockt. Aber angeblich bezog ich diese Prügel nur, weil sich die Nabelschnur um meinen Hals gelegt hatte und ich wegen Sauerstoffmangel blauer war als ein besoffener Schlumpf. Ich weiß ja nicht. Ich traue es diesem verhinderten Engelmacher zu, dass er mich mit dem Ding erwürgen wollte. Natürlich spricht dagegen, dass er die Nabelschnur durchgeschnitten hatte, aber vielleicht nur, um mich damit tot zu peitschen? Meine Mutter war jedenfalls keine große Hilfe. Statt ihr Neugeborenes wie eine taffe Löwenmutter zu beschützen, lag sie nur schlapp und träge auf dem Tisch herum.


Das dramatische Resultat dieses frühkindlichen Feindkontakts mit der Menschheit war, dass ich monatelang nicht laufen konnte. Da haben wir’s. Erst greift mich dieser staatlich examinierte Folterknecht aus dem Hinterhalt an und dann schlägt er mich auch noch zum Krüppel! Ab da wusste ich, dass ich in eine unbarmherzige, feindselige Welt hinein geboren worden bin. Vielleicht sollte ich den Arzt, der mich auf die Welt gebracht hat, wegen schwerer Kindesmisshandlung verklagen.


Die ersten dreieinhalb Jahre verbrachte ich in einem kleinen Kaff in Nordrhein-Westfalen. Ich erinnere mich nicht wirklich daran, aber meine Eltern sagten, ich war ein fröhliches, lebhaftes Kind. Sehr lebhaft. Und so schaffte ich es irgendwann, den großen breiten Röhren - Fernseher vom Tisch zu befördern. Darum habe ich mit vier Jahren das erste Mal eine Psychiatrie von innen gesehen. Ich hatte Angst und verstand nicht, was ich dort sollte. Ich wollte nur zurück zu meinen Eltern. Diese wollten verstehen, was mir fehlte, warum ich so überdreht und rastlos war. Die Diagnose lautete: ADHS. Ich weiß nicht, ob ich mal Ritalin bekommen habe oder nicht. Ich schätze, meine Alten lebten einfach damit.

ADS und ADHS waren früher richtige Modediagnosen. Ich frage mich heute, wie viele Kinder wirklich hyperaktiv waren und wie viele einfach nur sehr lebhaft gewesen sind. Und wie viele Eltern einfach nur froh waren, dass das Kind dank Ritalin endlich mal das Maul hält. Und aufhört, Fernseher von Tischen zu befördern.


Meine Eltern liebten mich und taten, was sie konnten. Aber manchmal glaube ich, dass sie nicht nur mit ihrer Ehe, sondern auch mit mir überfordert waren. Sowieso war es ein Rätsel, was die beiden aneinander fanden. Mein Vater war ein ernster, aber trotzdem humorvoller Mann, der als Ingenieur für Klimaxxx Industries arbeitete, während meine Mutter eine naive, weltfremde Hausfrau und ehemalige Schreibkraft war. Trotz seiner gelegentlichen Grübelei war mein Vater ein großer Optimist, während meine Mutter ängstlich war und sehr negativ dachte. Ich bin sozusagen das Resultat einer unwahrscheinlichen Verbindung, denn die beiden hätten unterschiedlicher nicht sein können. Ich erinnere mich, dass zwischen meinen Eltern oft eine unterschwellige Anspannung herrschte, die hauptsächlich von meinem Vater ausging, der ständig von der doof-naiven Art seiner Frau genervt zu sein schien. Denke ich darüber nach, komme ich zu dem Schluss, dass er nicht wirklich glücklich war, trotz seiner oft fröhlichen Art. Er sprach nicht offen über seine Gedanken und Gefühle. Das erste und einzige Mal, als er das tat, war vor 9 Jahren, zwei Wochen, bevor er meiner Mutter ins Grab folgte. Wenn man bei einem Mann Ende 50 Darmkrebs fest stellt sollte man vielleicht auch mal den restlichen Körper röntgen. Könnte Leben retten. Aber wer bin ich denn, irgendwelchen Kurpfuschern im Krankenhaus was zu erzählen? 


Den Darmkrebs hatte mein Vater überstanden. Den Lungenkrebs und die Unfähigkeit seiner Ärzte nicht.

Meine Mutter war selbst eine gequälte Seele gewesen. Wegen einer Gehbehinderung wurde sie von ihrer eigenen Mutter nur „der Krüppel“ genannt. Darüber hinaus machte es meiner Oma Spaß, ihre Tochter zu misshandeln. Nicht nur verbal; wenn sie gut drauf war, jagte sie ihr einziges Kind durch das Haus in dem Wissen, dass das „olle Hinkebein“ (ein weiterer von Omas Kosenamen) nicht weit kam. Für Oma war es ein Spiel namens „Fang den Quasimodo“. Wenn sie meine Mama erwischte, gab es Schläge. Und sie erwischte sie immer. Aus ihren Erzählungen weiß ich, dass meine Mutter ihren Vater innig geliebt hat. Er soll ein freundlicher, aber passiver, stiller Mann gewesen sein. Mir scheint, es machte keinen Unterschied, ob er da war oder nicht. Mütterlicherseits scheint sich soziale und seelische Zerstörung durch die Blutlinie zu ziehen wie der sprichwörtliche rote Faden. Meine Oma soll nämlich ihrerseits von ihrer Mutter kaputt gemacht worden sein. Uroma Falk soll ein noch ekelhafterer Mensch als ihre Tochter gewesen sein, wie man mir sagte. Offenbar liegt es mir im Blut, gestört zu sein. 


Meine Mutter wurde durch das Mobbing zuhause und auch in der Schule zu einem unsicheren, überängstlichen Menschen. Sie war derart voll mit Sorgen, dass man nicht mal entspannt in den Urlaub fahren konnte ohne dass sie sich schon tausend Szenarien ausmalte, was alles schreckliches passieren könnte. Noch bevor sie ins Auto gestiegen war, ergab sich zwischen meinen Eltern eine Art Frage-und-Antwort Spiel, das mich immer an Ping Pong erinnerte: „Haben wir den Herd angelassen?„

„Nein, Schatz, den hab ich vorhin noch ausgemacht.“

„Vielleicht sollte ich noch mal nach gucken ob die Tür auch wirklich abgeschlossen ist…“

„Du hast sie zehn Minuten lang abgeschlossen. Ich glaube, die ist dicht.“

„Was, wenn wir unterwegs einen Platten kriegen?“

„Ich hab 'n Ersatzreifen da.“

„Bist du sicher, dass das Futter für die Katzen reicht?”

„Zehn Randvoll gefüllte Näpfe sollten übers Wochenende reichen.“

„Was ist wenn wir im Stau stecken bleiben? Wenn wir nicht um Punkt 15:00 einchecken könnten sie unsere Reservierung stornieren!“

„Die werden nix stornieren. Haben sie die letzten drei Male auch nicht.“

„Rieche ich da Gas?„

„Du stehst hinterm Auspuff, Schatz.“

„Brennt das Auto?“

„Wir rauchen im Auto, seit 13 Jahren.“

„Oh… Aber was ist, wenn ein Flugzeug abstürzt und direkt auf uns drauf landet?“

„ Unwahrscheinlich, Flugzeuge brettern bevorzugt in irgendwelche Hochhäuser rein.“


Wäre Mutter doch mit dem Haushalt so gewissenhaft gewesen wie bei der Pflege ihrer Ängste. Denn unsere Wohnung war meist ein Saustall. Und mein Vater, der sowieso schon durch das ganze Pendeln erschöpft war, musste immer wieder hinterher räumen. Meine Cartoons glotzte ich auf einem Sofa, dass mit getrockneter Katzenrotze übersät war, weil unsere Miez an einer Hausstaub Allergie litt. Für mich damals ganz normal. Eines Sommers half ich meinem Vater dabei, die Küche aufzuräumen. Fliegen waren auch so eine Sache. Als wir einen Stapel alter Sonntagszeitungen vom Tisch hoch hoben, tummelten sich Maden auf der orangen Plastikdecke. Gut, dass wir immer im Wohnzimmer aßen. Vorm Fernseher, der in meiner Kindheit eine große Rolle einnehmen sollte.


Meine Erziehung war mangelhaft, aber nicht so katastrophal wie in manch anderen Fällen. Ich musste nie hungern oder frieren. Doch manchmal glaube ich, dass zumindest meine Mutter es zu gut mit mir meinte, denn sie verhätschelte mich sehr. Im Nachhinein glaube ich, dass das nicht so gut war. Ich hab mal gehört, wer selbst eine beschissene Kindheit hatte, neigt dazu, seine Kinder zu sehr zu behüten. Nun, mein Vater sagte mal, dass Mutter mich unter einer Glasglocke groß gezogen hat. Bevor wir umgezogen sind, war mein Vater Pendler, das heißt, ich hab ihn oft nur am Wochenende gesehen. Meine Mutter dagegen war damit beschäftigt, sich mit Oma am Telefon zu streiten und sie zu beschimpfen. Ich wurde also hauptsächlich vom Fernseher erzogen. Das war meine Zuflucht aus einer Welt aus Mobbing, Einsamkeit und einem immer kaputterem Elternhaus.


Ich war schon im Kindergarten auffällig. Als kleiner Junge liebte ich Dinosaurier und hab die Leute genervt, weil ich schon morgens den Tyrannosaurus Rex aus einer Fernsehserie imitiert oder sie mit allen möglichen Infos vollgequatscht habe, die ich aus irgendwelchen Dokumentationen aufschnappte. Ich war ein Träumer, konnte aber auch ziemlich pragmatisch sein. Wenn ich draußen gespielt habe und der Weg zur Toilette zu weit war, hab‘ ich einfach in den Rinnstein geschissen. Ich konnte nicht verstehen, warum ich dafür lebenslängliches Lokalverbot im Kugelbecken bekommen habe; schließlich hätte ich mich auch mitten auf dem Gehweg erleichtern können. Oder ins Kugelbecken.


Später besuchte ich eine Sonderschule, weil ich in einer normalen Schule überfordert gewesen wäre, hieß es. Meine Zeugnisse kann man als durchschnittlich mit ein paar herausragenden Fächern beschreiben. Die besten Noten hatte ich in Kunst und Geschichte. Deutsch war okay. In diesem Fach hatte ich Noten, die heutzutage wahrscheinlich gar nicht mehr erreicht werden. Liegt vielleicht daran, dass ich zur letzten Generation gehöre, die noch richtig deutsch sprechen kann.


Ich pack halt nicht in Rucksack, Digga, geh Haus, du Huansooon.


Der andere Grund für meine Abneigung gegen Schulen war Mobbing. Es begann, als ich einem neuen Fahrdienst zugeteilt wurde. Wir worden ja nicht in normalen Schulbussen zum Vorhof der Hölle gekarrt, sondern mit einem Fahrdienst. Als ich etwa zehn Jahre alt war, wurde ich mit einem Haufen Halbstarker zusammen gepfercht. Gleich am ersten Morgen nach den Sommerferien ging das Mobbing los. Ich hab mich noch nicht mal hingesetzt, da schnauzt mich schon ein Typ an, dass ich seinen Klamottenstil kopieren würde, weil ich zufällig die gleiche Hose anhatte. Doch das war erst der Anfang. Sie beschimpften mich als alles mögliche, weil ich angeblich nach Katzenfutter stinken gestunken habe. Bei den Verhältnissen zuhause glaube ich Ihnen das sogar. Regelmäßig zu duschen ist mir aber auch nicht beigebracht worden. Das war für mich nicht normal. Doch die Fahrt zur Schule dauerte immer eine Stunde, weshalb ich schnell lernte, mich öfter um meine Hygiene zu kümmern. Jeden Tag als Kröte beschimpft und wie ein Stück Scheiße behandelt zu werden, war gewissermaßen motivierend.

Nicht, dass das etwas genützt hätte. Ich glaube nicht mal, dass den Kids aufgefallen ist, dass ich nicht mehr nach Whiskas roch. Es war ihnen völlig egal. Sie hatten jemanden zum schikanieren. Punkt. Und wenn man ein zehnjähriges schmales Hemd ist, das in einem Bus mit acht hormongesteuerten Höhlenmenschen eingesperrt ist, jeder zweieinhalb Köpfe größer und breit wie eine Mauer – dann überlegt man sich schon mal, ob man aufmuckt. Leider hab ich damals nicht geschnallt, dass sich tot zu stellen nicht gleichbedeutend mit unsichtbar sein ist. Der Busfahrer? Der fand das saukomisch. Unternommen hat er natürlich nichts.


Ich wurde zwar nur einmal geschlagen, aber auch verbale Dresche tut weh, vielleicht sogar mehr als körperlich misshandelt zu werden. Dass eines Morgens meine Mutter mit nach draußen kam und bei allen „Dududu“ machte, verbesserte meine Situation entgegen ihrer Intention so ziemlich gar nicht. Irgendwann erreichte ich den Punkt, an dem ich jeden Abend im Bett lag und dem nächsten Morgen mit einer Mischung aus Angst und Traurigkeit entgegen blickte. Die Gewissheit, in ein paar Stunden wieder mit diesen Bestien zusammen sitzen zu müssen, hing wie die bedrohliche Klaue eines Monsters über meinem Schlaf.

Meine eigenen Klassenkameraden waren ein Thema für sich. Mal mochten sie mich, mal behandelten sie mich ebenfalls wie einen Freak und nannten mich dann einen „Spinner“, „Spasti“ oder „Wahnsinnigen“.


Freunde hatte ich nicht. Nein. Durch die Erfahrung in der Schule hatte ich eine gewisse Scheu vor anderen Kindern entwickelt und hielt mich fern von ihnen. Für mich waren die meisten Kinder potenzielle Feinde, die mich ebenfalls bedrohen, beschimpfen oder mich auslachen würden. Und wenn ich doch mal versuchte, bei den Dorfkindern zu Hause Anschluss zu finden, stieß ich sie meistens mit meiner sonderlichen Art zu reden ab, da ich immer wieder irgendwelche Charaktere aus dem Fernsehen oder aus Comics nachahmte. Wenn ich draußen spielte, dann immer allein im Wald. Ich mied Gleichaltrige, als hätten sie Lepra. Es war mir damals nicht bewusst, aber ich war einsam. Außer meinen Eltern war da niemand. Meine anderen Verwandten hatte ich sehr gern, sah sie aber selten. Nirgendwo konnte ich Wurzeln schlagen. Vielleicht ist das auch der Grund, warum mir Nationalstolz am Arsch vorbei geht; was bedeutet es schon, Deutscher zu sein, wenn ich mich nicht mal der menschlichen Spezies zugehörig fühlen kann?


Die eigene Kindheit nochmal schwarz auf weiß vor Augen zu haben, erfüllt mich mit Entsetzen, weil mir die Klarheit des geschriebenen Wortes schonungslos zeigt, wie verkorkst bereits mein Eintritt ins Leben war. Und es ist bitter zu wissen, dass ich nicht der einzige bin, der sowas erleiden muss. Hass. Ausgrenzung. Demütigung. Einsamkeit. Verwahrlosung.

Es dauerte nicht mal ein Jahr, dann bekam mein Verstand den ersten Riss.


Mobbing, das hieß für mich ein Leben in Angst, Machtlosigkeit und endloser Demütigung. 2 Stunden pro Tag. 7 Tage die Woche. 4 Wochen im Monat, 2 Jahre lang. Als mein Vater das Pendeln zwischen zwei Bundesländern leid war, beschloss er, endlich Kind und Kegel mitzunehmen. Wir zogen also weg. Und ich dachte der Terror würde ein Ende haben. Ich war überglücklich.


Arschlecken.


Nichts wurde besser. Meine Probleme, so schien es, waren mir nachgefolgt. An der neuen Schule war ich genauso ein Außenseiter wie an meiner alten, hier hatten mich sogar noch mehr Leute auf dem Kieker. Die Gründe dafür waren so zahlreich wie trivial: weil ich Pickel hatte (ich war mittlerweile 12 und hatte ein Gesicht wie ein Streuselkuchen); weil ich keine coolen Klamotten trug, wie die meisten Kids sie damals trugen; weil ich sonderbar wirkte, wenn ich still war; weil ich sonderbar wirkte, wenn ich mal nicht still war; weil ich im Gegensatz zu den anderen keine halbe Stunde brauchte um einen sechszeiligen Absatz aus einem Buch vorzulesen; weil ich generell zu den Klassenbesten gehörte, was den Neid dieser zurückgebliebenen Halbaffen ja provozieren musste; und weil ich mich generell nicht an ihrem Tun beteiligte, denn ich hatte bereits gelernt, Gleichaltrige zu meiden wie der Teufel das Weihwasser. Wenn ich doch mal mit ihnen sprach und auf ihre Fragen antwortete, dann nahmen sie sich aus meinen Aussagen das heraus, was ihnen nützte, um mich weiter damit aufzuziehen. Es war das übliche Spiel: Beleidigungen. Witze auf meine Kosten. Entmenschlichung. Einmal wagte ich, mich verbal zu verteidigen. Gegen einen Typen namens Mike Schmitt. Er und seine Kumpels starrten mich an als ob ich beim Gottesdienst ins Weihwasserbecken gepinkelt hätte. Wie konnte ich es wagen, mich gegen den Olymp zu erheben? Dann drohte mir Mike mit Schlägen, wenn ich nicht mein Maul halten würde; er könne nämlich auch ganz andere Saiten aufziehen. Die Lehrer erlebte ich in dieser Sache als eher passiv und hilflos. Es war nicht so, dass sie mir nicht helfen wollten; sie konnten es offenbar einfach nicht, warum auch immer.


Interessanterweise waren meine Mitschüler überraschend freundlich zu mir, wenn sie mal alleine mit mir waren. Es war erstaunlich; statt mich als „Flasche“ oder „Hackfresse“ zu beschimpfen, haben sie sich ganz normal und mit mir unterhalten. Offenbar konnten sie vereinzelt durchaus nett sein, wenn gerade keine Clique in der Nähe waren, vor denen sie die eigene Menschlichkeit verbergen mussten. Das hat mich bis heute immer wieder mal beschäftigt, genau wie die Frage, warum sie waren wie sie waren? Es heißt immer, Kinder sind nun mal grausam. Das mag ja sein. Dennoch stellt sich mir die Frage, ob sie nicht zusätzlich von ihren Eltern zu Arschlöchern erzogen werden.


Kinder sind asoziale Terroristen, das wissen wir alle. Es liegt in der Natur der Sache, denn wenn wir auf die Welt kommen, sind wir eine plärrende, selbstsüchtige Rohmasse, die rein auf ihre Bedürfnisse fokussiert ist. Es ist die Aufgabe der Erwachsenen, dem Nachwuchs zu zeigen, wie man verantwortungsbewusst handelt. Nicht nur anderen gegenüber, sondern auch sich selbst. Jedes Individuum wird von der Gesellschaft geprägt, in der es aufwächst. Eine Gesellschaft kann jedoch nicht ohne Individuen existieren. Folglich müssen Individualismus und Gesellschaftskonformität miteinander in Einklang gebracht werden. Nur um sich selbst zu kreisen macht auf Dauer einsam. Aber eine Gesellschaft, die ihre Mitglieder dazu drängt, alles in ihrem Wesen und der Lebensart unterdrücken, was sie als ‚unnormal‘ betrachtet, handelt nicht nur verantwortungslos, sondern schadet sich langfristig selbst. Nicht umsonst ist extreme Konformität ein Merkmal faschistischer Gesellschaftsmodelle.


Wir lebten schon damals, in meiner Jugend, in einer materiell orientierten und zunehmend oberflächlichen Gesellschaft, in der der äußere Schein wichtiger war als innere Qualitäten. „Kleider machen Leute“, so heißt es doch. Und wenn bereits Kinder und Jugendliche ihre Mitmenschen an der Marke ihrer Handys oder Anziehsachen messen, ist die Frage berechtigt, von wem sie das haben.

Ich erinnere mich wie Mike Schmitt mir mal kurz vor Schulschluss eine Aufnahmekassette aus der Hand riss, die ich gerade in meinen Walkman stecken wollte. „Die is‘ ja nicht mal von Sony!“, rief er angewidert. Er warf mir die Kassette an den Kopf und sah dabei aus, als hätte er versehentlich in einen verfaulten Apfel gebissen. Der Typ hielt sich für was besseres, weil er immer angesagte, teure Klamotten an hatte und die neuesten Konsumartikel, hatte aber stets beschissene Noten und las im Deutschunterricht so langsam, dass ich einmal dabei sogar eingeschlafen bin.


Aber ich war derjenige, der ausgegrenzt wurde.

Das sagt viel über den angeblich zivilisierten Westen aus.


Es klingt abgedroschen, die Eltern für alles verantwortlich zu machen und sicherlich ist das auch nicht gerechtfertigt. Da aber die Erziehungsberechtigten den größten Einfluss auf die Gestaltung der Persönlichkeit haben - ob sie wollen oder nicht-, nehme ich mir einfach mal die Frechheit heraus, sie zumindest als eine Ursache für Mobbing auszumachen. Sei es, dass die Eltern dazu ermutigen, sei es, dass sie es vorleben. Oder sei es, dass sie wegschauen, weil sie nicht akzeptieren wollen, dass ihr „lieber kleiner Engel“ in Wahrheit nur ein beschissenes Arschloch ist, das Schwächere aus Spaß an der Freude mit dem Kopf voran gegen eine Mauer schleudert. Manche erziehen sie vielleicht auch einfach derart tugendhaft und streng, dass Mobbing eine Art von Ventil darstellt.


Ich bin der Meinung, man müsste den Umgang mit Emotionen bereits in der Schule unterrichten. Vielleicht als Teil des Ethik Unterrichts. Oder gleich im Kindergarten damit anfangen. Vielleicht klappt’s dann auch mit der Empathie. Vielleicht müssten zukünftige Generationen irgendwann nicht mehr in Therapie. Die arme Pharmaindustrie würde natürlich gewaltige Verluste machen, weil der Bedarf an Medikamenten dann zurück gehen würde. Wen kümmert’s? Sollen sie doch in Therapie gehen und ihre Pillen schlucken. Doch bis dahin wird der Wert jedes einzelnen weiterhin an seiner Arbeitskraft, seinem sozialen Status und der Anzahl an Followern auf seinem Scheiß - Tik Tok Account gemessen.

Die Würde des Menschen ist unantastbar? Nicht in einem Deutschland, in der man die kommerzgeile Fixierung auf Status und äußeren Schein bereits anerzogen bekommt. Der Mensch zählt bei uns nichts. Kapitalismus ist alles.

Eigentlich ein Wunder, dass man die Armen und Anpassungsunwilligen bei uns nicht erschießen lässt.


(unleserlich)


(durchgestrichen)


Ich war elf, als ich verrückt wurde. Mein Kopf füllte sich mit zornigen, hasserfüllten Gedanken. Voller Wut, gegen alles und jeden. Diese Gedanken zwangen sich mir regelrecht auf, es war, als würde man mir einen viel zu engen Hut über den Kopf stülpen. Meine Gedanken schienen fremd und nichts zu sein, was ich von selbst denken würde. Im Geiste beleidigte ich einfach alles und jeden, nicht nur Menschen wie meine Lehrerin Frau Fafner oder die Asozialen im Schulbus. Auch um meine Eltern, meine Familie, meinen Großvater, Gott, die Welt, um all dies drehten sich die heftigsten Schimpfwörter in meinem Kopf. Ich nannte das damals „böse Gedanken“. Ich verstand nicht, was da mit mir geschah. Ich hatte Angst, verrückt zu werden. In meiner Fantasie sah ich mich schon in einer Gummizelle sitzen, lachend und sabbernd, während ich in einer Zwangsjacke stecke. Ich hatte solche Angst. Ich durfte das nicht denken, ich durfte nicht so sein. Doch das war meinem Kopf völlig egal. Es war, als würde sich ein zweiter Serious Fakt in meinem Kopf melden, einer, von dessen Existenz ich bisher nichts wusste. Einer, der kein braver Junge war, einer der fluchte, schrie und andere Leute beschimpfte, einfach, weil er’s konnte.

So etwas wie eine dunkle Seite in meiner Seele gab es nicht für mich. Sowohl der Fernseher als auch meine einfältige Mutter vermittelten mir immer nur ein einfach gestricktes Schwarzweiß Muster von der Welt. Und in dieser Welt gab es nur gute und böse Menschen, Normalen und Verrückte. Und wir alle wissen doch aus Filmen, dass der Gute immer auch der Normale ist. Meine Mutter tat das zuerst als erstes Anzeichen der Pubertät ab. Wie mein Vater darauf reagiert hat, weiß ich nicht mehr. Was diese Jahre betrifft, ist er in meiner Erinnerung nur bedingt präsent. Als wir endlich fortzogen, wurde es nicht besser. Ganz im Gegenteil, ich entwickelte zusätzlich eine Reihe von Ticks und litt zunehmend an Paranoia. 


Zum Beispiel hatte ich Angst, von bösen Menschen verfolgt zu werden, oder dass meinen Eltern etwas schlimmes passiert, wenn ich nicht dreizehn Mal mit Zeige- und Mittelfinger auf mein rechtes Knie tippte. Was genau dieses Schlimme war wusste ich selbst nicht. Es war nicht mehr als ein vages Gefühl.


Als ich dreizehn Jahre alt war wurde es jedoch so schlimm dass ich schließlich in eine Psychiatrie für Jugendliche eingewiesen wurde. Die Therapeutin, die für mich zuständig war, erklärte mir, dass ich an sogenannten Zwangsgedanken litt; diese gäbe es in verschiedenen Formen. Meine Zwangsgedanken, erklärte sie mir, waren wahrscheinlich entstanden, weil ich den Frust und den Ärger durch das Mobbing nicht vernünftig verarbeitet, sondern immer nur runter geschluckt hatte. Schließlich habe ich schon als kleiner Junge gelernt, das Maul zu halten. Wer sich wehrt, stirbt, so ist das in Deutschland nun mal. Sie meinte, mein Zustand wäre das Resultat unterdrückter Wut, und diese suche sich nun ein Ventil in Form von zornigen, hasserfüllten Gedanken. Ich war also nicht verrückt, sondern angepisst? Das musste ich erst mal verarbeiten.

Sozusagen.

Und dazu hatte ich jede Menge Zeit, denn ich sollte insgesamt 9 Monate in der Psychiatrie bleiben.

Gebracht hat mir damals leider nichts. Ich bin sofort wieder in die alten Muster zurück gefallen, weil ich wieder in die alte Umgebung zurückgekehrt war, die meinen Zustand erst gefördert hatten. Ehrlich gesagt ging es mir sogar noch beschissener als vorher.


Ich wurde weiterhin in der Schule gemobbt. Ich begann mich zu ritzen und von Selbstmord zu fantasieren. Ich wurde depressiv und begann mich zu hassen, da ich nicht normal war. Wie sehr vermisste ich meine Mitpatienten, die einzigen Freunde, die ich bis dahin je hatte. Mittlerweile hatte ich meinen eigenen Fernseher, eine kleine, kompakte Kiste. Ich zog mich stundenlang in mein Zimmer zurück und guckte alles mögliche an Filmen, die meine immer düsterer werdende Fantasie beeinflussten. Teeniefilme hatten es mir am meisten angetan und als weltfremder Junge, der noch weniger Ahnung von der realen Welt hatte als andere Jugendliche, nahm ich das, was ich da sah, für bare Münze. Ich glaubte wirklich, dass das Leben von normalen jungen Menschen darin bestand, jedes Wochenende zu saufen, Party zu machen und morgens neben jemand fremden Bett aufzuwachen. Auf die Idee, dass das alles überzogen und übertrieben dargestellt wurde und nicht jeder in diese Schublade passt, darauf kam ich gar nicht. Wie denn auch? Ich hatte keine Clique, keine Leute mit denen ich um die Häuser ziehen und mir die Hörner abstoßen konnte. Ich hatte keine gleichaltrigen, sozialen Kontakte, mit denen ich irgendwelche wichtigen Erfahrungen hätte machen können. Vielleicht hätte ich dann gelernt, dass das Leben keine Regeln kennt, nicht so festgefahren und schwarz-weiß ist; und dass es da keinen richtigen oder falschen Lebensweg gibt, egal, wie alt man ist.


Hätte, hätte. Es lief, wie es lief, und ich entfremdete mich zunehmend von der ganzen Welt. Durch meinen übermäßigen Fernsehkonsum entwickelte ich eine sehr schiefe Sicht auf die Dinge, in der alle GUTEN Menschen NORMAL waren. Und NORMAL bedeutete für mich, so zu leben wie die Kids aus dem Fernsehen. Das war schließlich gefühlt mein einziger Zugang zu Gleichaltrigen. Wenn ich also GELIEBT und ANGENOMMEN werden wollte, wenn ich DAZU GEHÖREN wollte, musste ich so werden wie sie. Aber gleichzeitig wollte ich immer weniger mit anderen zu tun haben. Menschen waren eine Bedrohung, die es zu meiden galt. Wenn ich stillschweigend im Klassenzimmer saß und den anderen zuhörte, wie sie mit ihren Bett- und Saufgeschichten prahlten, sah ich meine Weltsicht bestätigt. Sitze ich heute in einer Bar, kann ich darüber schmunzeln. Ich sehe Männer und Frauen in meinem Alter, die noch immer ihr Sexleben wilder darstellen als es ist und denke, dass sich seit der Schulzeit nichts geändert hat; nur die Umgebung ist eine andere.

Die Pubertät hatte mich nun voll im Griff, aber anstatt Scheiße zu bauen und gegen meine Eltern zu rebellieren, tat ich gar nichts. Ich ertrug das Leben, mehr oder weniger, still und leise, in der Hoffnung, es würde mich nicht bemerken und irgendwann vergessen, dass es mich gab. Meine Eltern stritten sich immer mehr. Meine Mutter verfiel dem Alkohol und irgendwo zwischen dem Whiskey und dem täglichen Anrufbeantworterkrieg mit meiner Oma hatte sie Zeit, zu weinen. Dann klagte sie, wie sehr sie ihren Papa vermisst. Und ihre Freundin Tina, die im Rheinland lebte und die sie noch aus der Schulzeit kannte. Sie war traurig darüber, das Tina soweit weg lebte und sie kaum noch Kontakt hatten. Und auch, dass ihre Ehe nicht gerade die beste war. Ich bin mir sicher, da war noch viel mehr, was sie im Alkohol ertränkte. Da waren sicher auch die Verletzungen aus ihrer eigenen Kindheit, all der Hohn, der Spott und der Hass, der ihr von ihrer eigenen Mutter als auch von anderen Kindern für ihre Behinderung entgegenschlug. Sie war unglücklich und suchte zunehmend die Erlösung von ihrem Schmerz in den zahlreichen Bier-flaschen, die sie in der ganzen Wohnung versteckte. Währenddessen entfremdete sich ihr Sohn auch immer mehr von ihr. Wenn ich im Schulbus nach Hause fuhr, fragte ich mich, ob sie heute wieder umgänglich sein würde, oder lallend und heulend und unerträglich. Unerträglich, ja, das war das passende Wort. Irgendwie musste ich unterschwellig gespürt haben, dass mein Zuhause auseinander fiel. Und mit Zuhause meine ich die Sicherheit und Geborgenheit, die von der Familie, den Eltern ausgehen sollte. Ich fühlte mich in meinem Zuhause nicht mehr sicher. Ich fühlte mich nirgendwo mehr sicher; in der Schule war ich der Schikane meiner Mitschüler ausgesetzt und danach einer durch den Suff unberechenbar gewordenen Frau. Kam mein Vater von der Arbeit, war das Gefühl von Sicherheit kurzzeitig zurück; aber vielleicht war es auch nur tröstlich, die Alte nicht mehr alleine ertragen zu müssen. Aber dann gingen die Streitereien los und ich hatte irgendwann Angst, dass er sie vielleicht schlagen könnte. Mittlerweile hatte ich nämlich genug Menschen kennen gelernt, in deren Elternhaus so etwas vorkam. Und auch das Fernsehen ist ja voll mit Gewalt in der Ehe, nicht wahr?


Noch heute bekomme ich große Ohren und werde wachsam, sobald ich auf der Straße irgendwelche Streitereien zwischen Paaren mitkriege. Irgendein Teil von mir kann sich nicht vorstellen, dass der Kerl nicht zuschlägt. Oder dass die Mutter, die ihr plärrendes Kind zurechtweist, es nicht verprügelt. Dafür habe ich viel zu viele Menschen aus kaputten, gewalttätigen Haushalten und toxischen Beziehungen kennen gelernt. Ein Gutes hat diese Angst ja: ich habe selbst meine jeweiligen Partnerinnen nie geschlagen. Als vernunftbegabter, zur Empathie fähiger Mensch sollte man diese Konsequenz auch ziehen können.

Auch in meinem Freundeskreis kommt so was zum Glück nicht vor. Doch statt mich darüber zu freuen bin ich verwirrt, denn ich fühle mich, als würde ich zwei übereinander gelegte, transparente Fotografien betrachten. Das erste Foto ist ein altes Schwarzweiß - Bild aus meiner Kindheit, in der die ganze Menschheit verdorben, feindselig und intolerant ist. Das zweite ist ein HD Foto; es zeigt die komplexe Realität und ist bunt, vielfältig und zeigt neben dem bekannten menschlichen Müll jede Menge freundlicher, selbstloser Leute, die einander die Hand reichen.

Ein Glitch in der Matrix, so nennt man das glaube ich.


Damals hatte ich durchaus versucht, Freunde zu finden. Naja, ein paar Male zumindest. Wenn ich auf den Schulbus wartete, versuchte ich, mit Leuten in Kontakt zu treten, hatte aber mit meiner schüchternen, unbeholfenen keinen Erfolg. Meine Versuche, ein Mädchen anzusprechen, waren ebenso bescheiden. Irgendwann gab ich es dann einfach auf. Offensichtlich war ich ein Versager und hatte verdient, bis in alle Ewigkeit einsam und allein zu sein. Aber wollte ich das nicht vielleicht auch?

Immerhin war alleine zu sein der einzige Trost, den ich damals hatte: Zuflucht in der Isolation zu finden. Wenn es mir zu viel im Elternhaus wurde, nahm ich immer meinen Walkman mit und streifte dann ziellos durch das Dorf und die dahinter liegenden Wälder. Und selbst das gab mir nicht immer Sicherheit vor anderen Menschen. Irgendein Idiot konnte mich immer noch aus einem vorbei fahrenden Auto beschimpfen oder mich absichtlich im Vorbeigehen anrempeln. Was stimmte nicht mit diesen Leuten? Warum konnten die mich nicht einfach ignorieren und in Ruhe lassen? Nicht nur die Schulen schienen eine Brutstätte für Arschlöcher zu sein, sondern auch die Dörfer. Oder vielleicht waren einfach alle Menschen so. Alle Menschen schienen nur nach schwächeren zu suchen, um an ihnen ihre Minderwertigkeitskomplexe auszuleben.


Währenddessen träumte ich bei meinen einsamen Streifzügen um die ländlichen Felder und Äcker unter dem Einfluss von Musik in ein besseres Leben. Dann sah ich meine Freunde aus der Psychiatrie wieder. Ich stellte mir vor, mit ihnen zusammen zur Schule zu gehen, abzuhängen und Spaß und Freude zu haben. Da fand ich Geborgenheit, Verbundenheit, Liebe und Anerkennung und Sicherheit. All das, was mir im realen Leben fehlte. Fantasie hat eine unglaubliche Kraft, sagt man. Vielleicht waren diese einsamen Spaziergänge und Tagträume das einzige, was mich damals am Leben hielt. Doch wurden meine Fantasien immer finsterer. Immer häufiger stellte ich mir vor, mir die Pulsadern aufzuschlitzen oder mich zu erhängen oder zu erschießen. Ich verfluchte mich jeden Morgen beim aufwachen dafür, dass ich immer noch lebte.


Eines Nachmittags war ich wieder mit dem Schulbus nach Hause unterwegs. Er war so überfüllt, dass ich mitten auf der Treppe saß, weil kein Sitz mehr frei war und ich mich nur ungern neben eines der anderen Kinder setzen wollte. Der Bus hielt noch bei einer anderen Schule an und als die Tür sich vor meinen Augen öffnete, stürmte eine Horde von lachenden Jungen herein, die mich beschimpften und mich auf dem Weg nach oben fast umrannten. Beißende, brennende Wut stieg in mir hoch und ich stellte mir vor, wie ich ein Maschinengewehr aus meinem Rucksack holte und diese ganzen Penner einfach abknallte. Vor meinem geistigen Auge sah ich das Leid und Entsetzen dieser Arschlöcher und fühlte mich gut dabei. Damals war der Amoklauf von Columbine in allen Nachrichten präsent und die Täter waren für mich Helden gewesen. Ja, Helden. Natürlich denke ich heute nicht mehr so, aber damals, mit 15, da fand ich, man hätte den Tätern Orden verleihen sollen.

Aus meiner Perspektive waren sie Opfer von Mobbing, so wie ich, und haben den wahren Bösewichten, ihren Mitschülern, nur gegeben, was sie verdienten: den Tod. Aus meiner Sicht war das kein Mord gewesen, sondern gerechtfertigt. Dass Dylan Klebold und Eric Harris mehr waren als nur zwei Mobbingopfer und auch Menschen ermordeten, die ihnen nie was getan hatten, wusste ich nicht - aber das hätte mich damals auch nicht interessiert. Ich war damals bereits so tief in einem Strudel aus Hass und Bitterkeit abgesunken, dass ich mir das im Geiste schon irgendwie zurecht gelegt hätte; wahrscheinlich hätte ich das so interpretiert, dass die besagten Unschuldigen ja weg geguckt oder nichts unternommen hätten, um den beiden gepeinigten Kindern gegen die Mobbingtäter zu helfen. Somit hätten sie sich durch ihre Passivität mitschuldig an ihrem - an meinem - Leid gemacht und den Tod damit genau so verdient wie alle anderen. So verdreht im Kopf war ich früher. Heute weiß ich es besser. 


Heute weiß ich, dass Eric und Dylan keine Helden, sondern Feiglinge waren, nichts anderes als Mörder, und dass Mobbing zwar bestraft werden sollte, aber angemessen. Jemanden durch die Flure einer Schule zu jagen wie Freiwild und dann hinzurichten ist weder angemessen noch gerecht. Anstatt Leid zu lindern erzeugen solche Aktionen einen Strudel aus Gewalt und Zerstörung. Das sieht man bereits am Trend, den die Columbine Killer mit ihrer Tat gesetzt haben. Amokläufe an Schulen und anderen Einrichtungen gab es schon vorher, aber Dylan und Eric haben es irgendwie geschafft, eine richtige Welle loszutreten, die mit Robert Steinhäuser 2002 auch Deutschland erreichte. Und weil der Mensch nun mal von allem, was er als böse erachtet, magisch angezogen wird, dauerte es auch nicht lange, bis die Columbine Jungs zu Posterboys der Internet Subkultur aufstiegen. Auf zahlreichen Foren werden sie wie Heilige verehrt und agieren als posthume Antihelden. Der Amokläufer ist seitdem zu einer Art "Stock Character" geworden. Er verkörpert den gesellschaftlichen Außenseiter, der vom ignoranten Mainstream solange entmenschlicht und gedemütigt wird, bis er sich in die Ecke gedrängt sieht und zurück schlägt. Er stellt vermeintlich die Gerechtigkeit wieder her und holt sich von seinen Opfern die Menschenwürde zurück, die sie ihm durch das Mobbing raubten.

Dabei ist unerheblich, ob Clayborn und Harris wirklich Mobbingopfer waren, was heutzutage ja angezweifelt wird. Das vorherrschende Narrativ ist es, was sich in den Köpfen der Menschen festbrennt. Ein alternatives Narrativ, eine andere Art von Geschichte als die, die uns die Gesellschaft erzählt. Nicht unbedingt realistischer, aber reizvoll für unzählige Menschen.


Was sagt sowas über unsere Zivilisation aus?

Wie kann eine Gesellschaft, die permanent und in immer kürzeren Zeitabständen solche Leute hervorbringt, ernsthaft von sich behaupten, sie sei geistig gesund? Natürlich sind diese Killer in erster Linie selbst verantwortlich für ihre Taten. Jeder hat die Wahl, zu entscheiden, wie er mit Mobbing und seelischen Qualen umgeht (viele wissen jedoch nicht mal, dass es überhaupt Optionen gibt - wie sollen manche Menschen denn eine Entscheidung treffen, wenn sie gar nicht wissen, dass sie eine Wahl haben?) Außerdem ist nicht jeder Amokläufer ein Opfer von Mobbing. Und diejenigen, auf die das zutrifft, sind noch eine Minderheit. Die meisten Mobbingopfer greifen meines Wissens nach nicht zur Waffe. Ansonsten würden hier wahrscheinlich bürgerkriegsähnliche Zustände herrschen.

Trotzdem muss gefragt werden, ob die Wurzeln solcher Tragödien wirklich nur bei den Killern oder beim Mobbing zu suchen sind, oder ob wir als Gesellschaft ebenfalls das Blut der Opfer dieser Blutbäder an den Händen haben. Einfach weil wir eine Weltanschauung fördern, in der wir alles, was von der Norm abweicht, als böse und unerwünscht brandmarken.


DURCHSCHNITTSJOCHENS

(durchgestrichen) 

Die Ultras unter den Normalos

Manchmal glaube ich, es gibt keine Normalos, sondern nur genug Bekloppte, die sich dafür halten. Fanatische Geisteskranke, die alles daran setzen, sich einzureden, mit ihnen wäre alles in Ordnung und dass sie nicht aus der Reihe tanzen. Wurde eigentlich jemals ein Zensus erhoben oder eine empirische Studie durch-geführt, die erfasst, wie viele normale Menschen es auf der Welt gibt? Oder kann man nur erfassen, wer sich als normaler Mensch identifiziert?


Ich glaube, es gibt solche Menschen, solche Typen, die immerzu vehement abstreiten, dass etwas an ihnen ungewöhnlich sein könnte. Diese Leute haben Angst vor allem, was ihren beschränkten Horizont übersteigt. Ich nenne eine solche Kreatur „Durchschnitts-Jochen“. Weibliche Exemplare könnte man ganz politisch korrekt natürlich "Durchschnitts-Jochine" nennen. Durchschnitts-Jochens sind die Ultras unter den Normalos. Sie pochen explizit darauf, was ihrer Meinung nach normal ist, wobei NORMAL auch hier immer mit GUT identifiziert wird. Politisch sind das interessanterweise oft Konservative bis Rechtsradikale, meist etwas älter, die den Spießbürger zum nationalen Kulturhelden verklären, (ich glaube, Jochens gibt es aber auch in jedem anderen Teil des politischen Spektrums). Sie alle haben eine starre, einseitige Denkweise, in der die "natürliche Ordnung" gleichzeitig so instabil ist, dass es nicht viel braucht, um die Welt ins Chaos zu stürzen. Da reicht meist schon eine unverheiratete Singlemutter, die mit ihrem Kind ins Haus gegenüber einzieht, und schon ist die Menschheit erledigt. "Nä, also sowas gehört sich doch nicht! Ein Kind alleine groß zu ziehen, und dann auch noch als Frau! Also, sooo was hätt' es damals nicht gegeben. So was gehört sich doch nicht!" Lustigerweise gibt es nicht "den" Durchschnitts-Jochen, denn jeder von ihnen hat eine leicht andere Sicht davon, was normal ist und "gut " und "tugendhaft." Trotzdem sind sie oft in Rudeln unterwegs, welche in der Größe variieren können. Meist reichen schon zwei Exemplare um ein solches Rudel zu bilden. Dann werden die Nachbarn beobachtet, ob die sich auch ja anständig benehmen oder Menschen kommentiert, "wie die nur so rumlaufen können", während man sich von der eigenen Selbstgefälligkeit ernährt wie Maden von Scheiße. Die natürlichen Lebensräume des Durchschnitts-Jochens sind meistens Bäcker, Altenheime, Hausflure, Stammtische, Kioske, Schützenfeste, Balkone, Gartenzäune oder Fernsehzimmer. Doch ist dieser Menschenschlag sehr anpassungsfähig, so dass man sie praktisch überall finden kann. Zum Beispiel auf Schulhöfen, im Raucherraum oder im Büro.


Wer übrigens meint, dass die Durchschnitts - Jochens immer durchschnittlicher werden, je ländlicher sie leben, irrt; das Gegenteil ist der Fall. Erst in den Großstädten, wo die menschliche Evolution die größte Diversität und Vielfalt hervorbringt, kann sich der Durchschnitts-Jochen so richtig radikalisieren. Vor allem Stammtische werden als heilige Stätten genutzt, um sich von der Gesellschaft zu separieren. Es entstehen Parallel-Gesellschaften von Extremisten, die sich regelmäßig in den Kneipen und Altmänner-Lokalen einfinden, um sich gegenseitig wie in einer Echokammer gegenseitig zum Hass auf alles anzustacheln, was in ihrem Weltbild keinen Platz hat. Dabei kommt es vor, dass sich verschiedene Gruppen gegenseitig diskreditieren, da sie verschiedene Auslegungen darüber haben, was normal ist und was nicht. Den gemäßigteren Normalos, die nicht ganz so feindselig auf alles fremdartige reagieren, wird von den meisten Gruppen die Normalität aberkannt. Gemäßigte Normies gelten als verloren und dekadent, sie machen vielleicht sogar noch mit den „Transen“, „Geisteskranken“ und „Heiden“ gemeinsame Sache, um die normalen Menschen auszurotten. Ich kann sie mir richtig gut vorstellen, wie sie halb besoffen im Bierkeller sitzen, Verschwörungstheorien austauschen und darüber schwadronieren, was alles anders laufen würde, wenn sie das Sagen in Deutschland hätten.


Leider ist so etwas in der Art schon mal bittere Realität in Deutschland gewesen. Den Preis für die Ignoranz und den Hass der konformen Massen mussten die Außenseiter der Gesellschaft im KZ mit dem Leben bezahlen. Extremer Konformismus ist ein Merkmal des Faschismus. Aus lächerlichen Ideologien kann ganz schnell tödlicher Ernst werden kann. Die Nazis sind das Musterbeispiel dafür.


Meiner Einschätzung nach vernichtet der Mensch gerne und oft, was er nicht kennt, wenn er glaubt, seine kranke, kleine Welt damit schützen zu können. Die einen nutzen Gaskammern, die anderen Mobbing und Ausgrenzung.

Aber zurück zu Jochen. Den ich auch Jens, Steve, Ali oder Jaques nennen könnte, denn alle Menschen sind zur Diskriminierung fähig, auch wenn sich die ach so toleranten Deutschen gerne das Gegenteil einreden und damit die fucking Nazis mit rhetorischer Munition für ihre nächsten Hetzreden versorgen. „Gut“ gemacht, Deutschland!

Während die Mainstream - Normalos nicht groß darüber reden, sich für normal zu halten, muss Durchschnitts - Jochen seinen Status laut deklarieren. Er klärt die ganze Welt darüber auf, dass es „so was“ zu seiner Zeit nicht gab und dass man „sowas“ früher weg gesperrt hätte. Dieses „sowas“ kann auf eine Vielzahl von Dingen angewendet werden, die Jochen fremd erscheinen und daher Unbehagen bereiten:

Ausländer.

Farbige.

Andere Religionen.

Crossdresser.

Mischehen. Nerds.

Transgender Menschen.

Ein Anderer als er selbst an seinem Stammplatz im Lokal.

Behinderte.

Usw.


Der Durchschnitts- Jochen hat Angst vor diesen Leuten, denn was der Bauer nicht kennt, frisst er nicht. Durchschnitts- Jochen ist in der Hinsicht ein stehengebliebener Höhlenmensch. Und Höhlenmenschen mussten in der Steinzeit noch aus nachvollziehbaren Gründen alles Unbekannte misstrauisch beäugen, auch Fremde, die nicht zum eigenen Rudel gehörten.


Heute, im 21. Jahrhundert, ist das alles ein bisschen anders. Der Großteil der Menschheit lebt in größerer Sicherheit als je zuvor, trotz all der Kriege und Terroranschläge in TV und Zeitung. Und trotzdem reagiert Durchschnitts - Jochen noch immer mit Angst und Hass auf alles, was er nicht kennt. Sein Affenhirn sieht ein schwules Pärchen auf der Bank rumknutschen und hat Angst, dass die Menschheit ausstirbt. Wir sind fast acht Milliarden Menschen auf der Welt, von denen nur drei Prozent homosexuell sind. Yup, wir sind eindeutig eine gefährdete Spezies. Aber dann kann Durchschnitts-Jochen ja noch auf die Tierwelt gucken. Affen poppen sich ja auch nicht gegenseitig in den Arsch und Kaninchen auch nicht. Die haben ganz klar reinen Heterosex, wie es die Natur vorgesehen hat. Der Mensch dagegen greift nach jedem Strohhalm, den er findet. Dabei hat die Forschung Homosexualität bei mehr als 1500 Tierarten festgestellt.

Naja, dann verhalten sich diese ganzen Stockschwulenten und Gayraffenpaare halt unnatürlich!


Zumindest laut Durchschnitts-Jochen, der aber neben lesbischen Meerschweinchen noch ganz andere Sorgen hat. Die ganzen Ausländer zum Beispiel, die in Scharen nach Deutschland kommen und wegen denen unserrre schöne teutsche Mutterrsprrrache immer mehr Fremdwörter aufnimmt. Es sind diese Fremdwörter, wegen denen Durchschnitts-Jochen sich bald nur noch mit Händen und Füßen am Zeitungskiosk verständigen muss, also, die zersetzen ja die ganze abendländische Kultur. Durchschnitts-Jochens Prognose für die Perspektiven unserer Nation: unsere Kultur wird bald schon exterminiert. Aber so ein Durchschnitts-Jochen leidet von Natur aus an mangelndem Geschichts- bewusstsein. Ansonsten wüsste er, dass die Worte "Prognose", "Perspektive", "Nation", "Kultur" und "Extermination" alle lateinischen Ursprungs sind. Gerade die rechten Durchschnitts-Jochens sind für so etwas anfällig. Wären sie wirklich so vernarrt in die deutsche Sprache, wie sie behaupten, würden sie ihre Angst wenigstens als "Vorhersage für die Aussichten unseres Volkes: unsere Lebensweise wird bald schon ausgelöscht." Das wäre zumindest konsequentes, hoppla, ich meine, folgerichtiges Deutsch. Zum Glück sind die meisten Durchschnitts-Jochens zu bequem und zu feige, um ein faschistisches Reich der Genormtheit aufzubauen. Es würde ja ohnehin schon in der Planungsphase scheitern, weil sich die Jochens nicht einigen könnten, welche Definition von Normal sie zum Maßstab eines pankonventionellen Gesellschaftsideals nun durchsetzen sollen. Wahrscheinlich würden sie sich nur gegenseitig ausgrenzen und nie wieder miteinander sprechen.

... 


Kurz vor der Jahrtausendwende war mein Leben einsam, traurig und scheinbar aussichtslos.

Während andere Jugendliche ihr Leben genossen, Spaß hatten und feierten, verbrachte ich meine Freizeit damit, mich stundenlang von Gott und der Welt abzuschotten und in einem schmutzigen, vernachlässigten Haus in den Fernseher zu starren um ein kleines bisschen Weltflucht zu betreiben.

Wenn ich morgens aufwachte, verfluchte ich mich dafür, dass ich noch lebte. War ich unter Menschen, versuchte ich unsichtbar zu sein. Denn die Angst, wieder sinnlos von irgendwelchen Sadisten verletzt zu werden, war immer ein bisschen größer als der Wunsch nach Zugehörigkeit und Freundschaft. Und diese Sadisten waren gefühlt überall. Ich begann, mich innerlich vorzubereiten - auf die nächste Beleidigung, auf den nächsten Anrempler, auf den nächsten Schlag. Den nächsten Spruch, der mich vor allen Anwesenden zum Gespött machte und mich entmenschlichte. Andere Jugendliche betrachtete ich nur noch als Feinde, als Haufen von sadistischen Tieren, die immer nur im Rudel auftauchen, auf der Jagd nach dem nächsten Pickelgesicht, der nächsten Brillenschlange oder was auch immer die Gesellschaft damals sonst noch so zum Abschuss frei gegeben hatte. Etwas anderes können Jugendliche doch eh nicht, oder?

Und schaue ich mir die Kiddies von heute an, fühle ich mich elend. Ich dachte, meine Generation wäre schon scheiße. Aber dann lese ich in der Zeitung von Teenagern, die einen alten Mann an einem Bahnhof zu Tode prügeln, weil er sich schützend vor einen Schwächeren gestellt hat. Ich sehe die Leichtigkeit, mit der sie andere als Hurensöhne beschimpfen und stelle mir vor, was man mit ihnen in anderen Ländern gemacht hätte, wenn sie sich so was erlaubt hätten; wahrscheinlich wären Prügel noch eine Gnade gewesen, denn nicht alle Menschen zucken mit den Schultern, wenn die eigenen Eltern so entehrt werden. Aber wir sind in Deutschland; hier kümmern sich die Menschen eh alle einen Scheiß umeinander.


Und wie die Kiddies miteinander reden... "Ey, pack ma Handy in Rucksack, Digga!"


Oh mein Gott. Wir haben wenigstens noch die Zähne auseinander bekommen beim sprechen. Und das schlimme ist, Erwachsene fangen mittlerweile an, genauso zu reden.

Wer sich traut, in der Öffentlichkeit so zu sprechen, kann doch nur bei allen Umstehenden den Eindruck erwecken, entweder ein Asi oder geistig leicht behindert zu sein.

Gut, letzteres ist ja kein Verbrechen.


Doch während ich in meiner Schulzeit regelmäßig von Menschen mit fragwürdigem IQ und noch fragwürdigerer Erziehung drangsaliert wurde, spielten Erwachsene, von meinen Eltern abgesehen, für mich keine Rolle. Sie waren wie Geister oder Silhouetten. Meine Lehrer taten nicht viel um zu helfen außer das übliche Du-Du-Du zu verteilen. Ansonsten schienen sie genauso hilflos wie ich.

Als ich nach dem Schulsportfest einmal auf offener Straße von meinen Klassenkameraden verprügelt wurde, weil ich beim Sportfest den Basketball nicht schnell genug abgegeben hatte, reagierte niemand. Alle Erwachsenen sind einfach weiter gegangen oder haben gegafft wie zehn Meter Feldweg. Aber niemand ist eingeschritten.


Übrigens hat der Begriff Zivilcourage keinerlei deutsche Wurzeln.


Irgendwann reichte es mir. Mein Leben war scheiße. Soweit ich mich erinnere, habe ich mit 15 bereits keine Gedanken mehr an meine Zukunft verschwendet. Ich hab' mich nie gefragt, was ich werden will. Wo ich eine Ausbildung machen möchte oder was ich noch alles im Leben gerne machen würde. Für mich gab es nur sehnsüchtige Tagträume, Selbsthass und Gedanken an Selbstmord. Ich fühlte mich vom Leben verarscht und ausgegrenzt. Immer wieder fragte ich mich: Warum ich?

Warum HASST mich das Leben so sehr?

Warum grenzt mich das Leben aus und schneidet mich von allem Glück ab?

Was habe ich getan um so ein Scheiß-Leben zu verdienen?


Damals hatte ich natürlich nicht die Erfahrung und Einsicht, die ich heute habe. Ich habe all das schlechte im Leben nur auf mich bezogen und kam zu dem bitteren Schluss, dass ich durch meine bloße Existenz schuld bin. Dass ich irgendetwas an mir haben musste, irgendeine Art Fluch oder etwas, dass mich in meiner Vorstellungswelt zu einem kosmischen Paria machte. Vielleicht, so dachte ich, war dieses Leben eine Bestrafung weil ich meine Geburt überlebt hatte. Vielleicht hatte das Schicksal eigentlich vorgesehen, dass ich an der Nabelschnur um meinen Hals ersticke. Und irgendetwas war dann damals schiefgelaufen und hat dem Leben einen Strich durch die Rechnung gemacht. Und nun musste ich dafür büßen. Ein bisschen wie in dem Film Final Destination. Der Preis, den ich dafür zahlte, dass ich es gewagt hatte, zu leben, sah so aus, dass ich keinen Zugang zum Rest der Welt hatte sondern eine Quasimodo - artige Schattenexistenz unter der Glasglocke führte, die meine überbehutsamen Eltern über mich gestülpt hatten. Und egal, was ich versuchte, um etwas an meiner Situation zu ändern, musste scheitern, weil das Leben, Gott, oder wer auch immer, es irgendwie nicht zuließ. Dass ich es vielleicht nur öfter versuchen musste oder einfach noch nicht den richtigen Weg für mich gefunden hatte, kam mir damals nicht in den Sinn. Dass ich mit solchen Gedanken überhaupt nicht allein war, erst recht nicht. Ich inter-pretierte alles so, dass ich entweder ein totaler Versager war oder das alleinige Mobbing Opfer des Universums.


Wenn es so etwas wie umgekehrten Größenwahn gibt, dann bin ich der Beweis dafür. Minimanie könnte man das nennen.


Mein Innenleben war damals ein einziges Ping - Pong Spiel der Schuldzuweisung. Mal hatte ich Schuld, dann wieder die Welt oder Gott oder was auch immer. Und eines späten Nachmittags saß ich mal wieder in meinem Zimmer und sah mir irgendein Live-Konzert an. Ich weiß nicht mehr, wer auftrat; aber ich erinnere mich, wie die Kamera diese riesige, große Menschenmasse zeigte. Und alle schienen glücklich. Der Schmerz, den ich empfand, war gewaltig. In meinem Kopf war alles leer. Nur ein einziger Gedanke blinkte immer wieder in meinem Kopf auf wie eine Neon-Reklame in der Nacht:

So müsstest du eigentlich sein, du Stück Dreck!

Ich bekam einen Heulkrampf. Und dieser schien ewig zu gehen. Meine Eltern hörten mich nicht. Niemand hörte mich. Die einzigen Geräusch in meinem Zimmer waren Musik, jubelnde Menschenmassen und mein Geflenne. Als ich endlich fertig war und mir die Rotze aus dem Gesicht gewischt hatte, ging ich in die Küche und nahm das größte Küchenmesser, das wir hatten.

Auf dem Weg zurück ins Kinderzimmer streichelte ich kurz die Katze, dann ging ich hinein und machte die Tür zu. Ich hatte mich zuvor schon geritzt, gewöhnlich mit Rasierklingen und Scheren, aber immer nur ein bisschen und an Stellen, wo es niemand sehen würde. Diesmal schnitt ich mir jedoch so große und tiefe Kerben ins Fleisch, dass der Arzt später erklärte, das weiße zwischen dem roten sei mein Körperfett.


Meine Interpretation der Welt war die einer glücklichen Menschheit, in der vor allem alle zwischen 14 und 25 ihr Leben genossen, sich die Hörner abstießen und jeder eine wilde, unbeschwerte Zeit hat. Wie ich auf diese Zahlen kam weiß ich heute selber nicht mehr. Aber das ist, was ich für normal hielt. Für gut. Für liebenswert. Und vor allem glaubte ich, dass ALLE Menschen so waren. Außer mir natürlich. Ich schien aus irgendeinem Grund aus der Art geschlagen zu sein und entsprechend bekam ich das beschissene Dasein, welches mir zustand. Ich glaubte auch, dass die Gesellschaft das von mir erwartete. Nicht, dass ich jemals jemanden darauf angesprochen hätte. (Durchgestrichen) Es war meine verdrehte Art, 1 und 1 zusammen zu zählen. Die Schlussfolgerungen, die ich aus meiner Erlebniswelt als Heranwachsender zog, einem Konglomerat aus medialer Gehirnwäsche, Fehlinterpretation, Ausgrenzung und den Lügengeschichten, die Halbstarke und Erwachsene gleichermaßen einander auftischen um sich besser zu fühlen.


In Wahrheit war ich jedoch ein vernachlässigtes Kind, das unter sozialer Ausgrenzung litt und dies mit übermäßigem Fernseh-Konsum kompensierte, wodurch ich ein zunehmend realitätsfernes Weltbild entwickelte, unter dessen Einfluss ich mich langsam immer weiter selbst zerstörte.

Und meine Geschichte ist nur eine von vielen in Deutschland.


Es dauerte es nicht lange, bis ich wieder in die Psychiatrie eingewiesen wurde. Es war seltsam. Der selbe Ort, andere Mitpatienten, aber das gleiche Gefühl von Vertrautheit. Als wären psychisch Kranke die einzigen Menschen, die keine Gefahr für mich darstellten, sondern mich so nahmen, wie ich war. Natürlich gibt es auch zwischen uns mal Spannungen und Konflikte, und natürlich gibt es auch intolerante psychisch Kranke. Aber im Großen und Ganzen scheint es, als wären die meisten von uns in irgendeiner Weise schon mal an den gesellschaftlichen Forderungen zerbrochen und nur deshalb landen sie in einem Institut wie diesem hier. Wenn sich zum ersten Mal die Stationstür hinter einem schließt und man seine Koffer aufs Krankenbett legt, weil man hier für's erste bleiben wird, ja, dann hat man endgültig den Mainstream der menschlichen Rasse verlassen. Dann ist man nämlich "einer von denen", ein "Bekloppter" und "Verrückter".   Das denken die Normies doch alle, nicht wahr? Und die Psychiater? Ich bin mir sicher, die auch. Oh, ich weiß, natürlich kann man ihnen weniger Vorhaltungen machen als anderen Normies. Nur weil sie ihr Geld damit verdienen, Leute wie mir zu helfen, wieder klar zu kommen, schließt das nicht aus, dass wir in ihren Augen auch nur Abschaum sind. Für mich sind sie immer noch Normies und damit der gottverdammte Feind.

 
Was ich sagen will ist, sobald man einmal in einer Psychiatrie gewesen ist, fallen viele Illusionen in sich zusammen, die man sich bis dahin gemacht hat. Und man lernt mehr oder weniger bewusst, andere zu nehmen wie man ist. Es hat schon was von einer unausgesprochenen Zwangsläufigkeit. Und je häufiger man seine Runden dreht, umso gewohnter ist man den Anblick von Abgemagerten, Fresssüchtigen, Junkies, Alkoholikern oder Menschen, die sich so oft verstümmelt haben, dass man glauben könnte, sie hätten einen Köpper in den nächsten Häcksler hingelegt.
Aber das Gefühl der Vertrautheit war diesmal nicht vollkommen.


Dieses Mal war ich irgendwie ... ich weiß nicht. Ein bisschen, wie in einer Runde der einzige Single am Tisch zu sein und sich wie das fünfte Rad am Wagen zu fühlen. So ungefähr jedenfalls. Ich wurde angenommen, akzeptiert, schloss auch wieder schnell mit vielen der anderen Teens Freundschaften - aber diesmal war ich eher ein Fremder unter Freunden. Es war wie am Ende meines ersten Aufenthalts, nur mit dem Unterschied, dass ich diesmal genau deswegen hier war. Und ich hatte damals keine richtigen Begrifflichkeiten zur Hand um meine Gefühlslage zu beschreiben. Damals gab es noch keine Begriffe wie "Fomo" und vom sogenannten "Sozialen Schmerz" hatte ich auch nie gehört. Dabei umschrieb das meine Lage, glaube ich, ganz gut. Aber am Anfang war ich vor allem angepisst. Ich war an jenem September Abend keine zwei Stunden da und hatte nur kurz mit ein paar der anderen Kiddies gesprochen, als ich hörte, wie mein Zimmernachbar, ein Punker aus Magdeburg zu einem der anderen flüsterte: "Alter, ich find's so scheiße dass er nicht raucht."


Oh wow, danke, du Arschloch, dachte ich. Jetzt bin ich also schon ein Außenseiter nur, weil ich Nichtraucher bin. 

 
Nach dem Abendbrot luden mich die anderen ein, mit ihnen fernzusehen. Ich folgte ihnen ins Fernsehzimmer und bemerkte, dass die vergilbten Wände noch immer einen neuen Anstrich gebrauchen konnten. Jemand holte eine Videokassette aus dem Schrank. American Pie. Ich lächelte schief, sagte aber nichts dazu. Einer meiner Mitpatienten fragte mich wie alt ich sei. "Fünfzehn", sagte ich. "Und du?"                           "Auch fünfzehn. Wann bist du geboren?"                    "Im Februar.", sagte ich.                                          "Yesss, ich bin älter!", rief er aus und strahlte übers ganze Gesicht so als wäre er gerade beim Olympia Marathon Erster geworden. Warum auch immer das wichtig ist, dachte ich. Bevor der Film losging, unterhielten wir uns noch eine Weile über dies und das, bevor er mir eine Frage stellte, die mich innerlich ziemlich aufwühlte.

"Wie lang' ist eigentlich deine letzte Beziehung her?"
Ich wusste erst nicht, was ich sagen sollte. Ich hatte noch nie zuvor eine Beziehung gehabt. Was erwartete dieser Kerl jetzt von mir zu hören? "Ein paar Monate", sagte ich, damit ich nicht gleich am ersten Abend wie ein Außenseiter unter Außenseitern rüber kam. Die Frage dieses Jungen mag ja aufrichtig gewesen sein in der kumpelhaften Art, in der er sie gestellt hatte. Aber für mich war es, als hätte man mich mit einem Pfeil durchbohrt. Mitten ins Herz. Dieser Typ signalisierte mir damit, dass alle Fünfzehnjährigen schon mal mindestens eine Beziehung gehabt haben mussten. Die Konsequenz daraus war: wer das nicht hatte, nun, mit dem stimmte was nicht. Das zumindest leitete ich daraus ab. Ich hatte jedenfalls keinen Spaß an dem Film, den ich schon so oft in meinem Kinderzimmer geguckt hatte; ich saß nur in meinem Sessel und fühlte mich fremd. Am liebsten wäre ich gegangen, weil ich nicht hierhin gehörte. Schließlich war ich die abartige, unnatürliche, dreckige Beziehungsjungfrau. Ich hatte den Tod verdient.
Diesmal blieb ich ein halbes Jahr lang in der Jugendklapse. 


Viele Erinnerungen habe ich nicht mehr daran, außer, dass ich erneut das Gefühl nicht los wurde, nicht zum Rest der Bekloppten zu gehören. Der Umstand, dass mich zuhause weder feucht-fröhliche Partys warteten noch irgendwelche Freunde oder Partner besuchen kamen schien eine unsichtbare Trennwand zwischen mir und meinen Leidensgenossen und -genossinnen aufzurichten. Ich habe mir aber nie die Mühe gemacht, dieses Thema mit meinen neuen Freunden zu besprechen. Ich war der Auffassung, dass sie es eh nicht verstehen würden. Sie waren perfekt, denn sie entsprachen diesem unrealistischen Comic- Standard, den ich mir in meinem kaputten Kopf zurecht gezimmert hatte. Ich hatte gar nicht das Recht, mich darüber bei den anderen Jungen und Mädchen darüber auszuheulen. Deswegen wich ich auch allen Fragen nach dem Grund für meine Einweisung aus. Ich sagte immer wieder, ich wolle nicht darüber sprechen. In Wahrheit war es mir so unangenehm, dass ich es lieber für mich behalten hätte. Wer von denen hätte mir auch schon Verständnis entgegen bringen können? Die kannten das doch gar nicht! Ich war ich nur eine jämmerliche Kreatur, die ihr Mitgefühl gar nicht verdient hatte. Ich schwieg. Und was die Therapeutin mir zu sagen hatte, brachte mir auch nichts mehr. Ich glaube, es waren ein und die selben Floskeln, mit denen man mich die nächsten zehn  Jahre versorgen sollte: Ich könne das doch noch alles haben, warum meldest du dich nicht in einem Sportverein an, du hast doch noch dein ganzes Leben vor dir, Serious, bliiiblaaablub.


Ich glaube, ab da bin ich irgendwie geistig stehen geblieben und habe die Hoffnung einfach aufgegeben. Ich zog in eine andere Stadt und kam in ein Wohnheim für schwer erziehbare Kinder und Jugendliche. Ich machte meinen Hauptschulabschluss, wofür ich noch mal vier Monate eine neue Schule besuchen musste. Auch da passte ich wieder nicht ins sozialchauvinistische Bild der meisten Schüler und bezog nonstop Hass, Verachtung und  Demütigung. Das gleiche widerfuhr mir im Berufsvorbereitungsjahr.
Bis zu meinem achtzehnten Lebensjahr schien ich in einer Art Endlosschleife zu leben: in den Schulen war ich der gemobbte Außenseiter und in allen anderen Lebensbereichen empfand ich mich als Außenseiter. Egal wohin ich ging, egal was ich auch machte, ich war niemals genug. Und in den Schulen war es wirklich jedes gottverdammte Mal das Gleiche: gleich am ersten Tag war ich nur deshalb zur Zielscheibe geworden, weil ich schon rein äußerlich nicht zum Rest der Klassen passte. Ich wurde nur an der Qualität und der Art meiner Kleidung gemessen, daran, wie oft ich mich rasierte und ob ich einen angesagten Haarschnitt trug.


Ich lehne mich mal kurz aus dem Fenster und behaupte, dass ich mir zumindest ansatzweise vorstellen kann, wie sich Minderheiten in Deutschland fühlen müssen. Nur mit dem Unterschied, dass ich etwas an dem, was mich in den Augen meiner Umwelt "anders" machte, hätte ändern können, wenn ich gewollt hätte. Aber Farbige können nicht mal eben die Hautfarbe wechseln um sich der Mehrheit anzugleichen. Schwule könnten nicht auf Knopfdruck hetero werden, selbst wenn sie wollten. Und Juden können es sowieso keinem Recht machen, erst recht nicht in Zeiten wie diesen, in denen Antisemitismus wieder in unserem Land wuchert wie ein Krebsgeschwür.


Klar, als jemand, der zur weißen, christlich geprägten Hetero-Mehrheit gehört, weiß ich nicht wirklich, wie es ist, als Schwarzer oder Homosexueller in diesem Land zu leben. Ich habe keine Ahnung, wie es ist, ein Migrant, transsexuell oder Jude zu sein. Aber wenn Mobbing schon so schlimm ist, wie beschissen muss erst gesellschaftliche Ausgrenzung für Minderheiten sein?


Während meiner Zeit im Jugendheim war ich zwar weit weg von meinem Elternhaus, aber immer noch einem besseren Leben nicht näher gekommen. Zweimal im Monat fuhr ich übers Wochenende nach Hause, nur um festzustellen, dass die Ehe meiner Eltern immer weiter zerfiel. Irgendwann um meinen achtzehnten Geburtstag herum ließ sich mein Vater scheiden. Die Alkoholsucht meiner Mutter hatte ihn noch weiter von einer Frau entfremdet, mit der er offenbar von vornherein nicht zu viel gemein zu haben schien. Jetzt, wo ich die beiden nicht so oft sah, schien ich den Zerfall meines Elternhauses sogar schneller wahrzunehmen als vorher. 


Meine Jahre im Heim waren relativ gleichförmig; ich lernte jede Menge anderer Jugendliche kennen, die dort lebten und lernte zum ersten mal die Grundlagen der Selbstversorgung, wie regelmäßige Körperpflege, aufräumen und sauber machen. Alles Dinge, die mir zuhause nie jemand richtig beigebracht hatte. Ich fing ein paar Beziehungen an, aber eigentlich waren das eher kurze Liebeleien. Ich glaube, ich war mit diesen Mädchen nur zusammen, weil ich mich normal fühlen wollte. So nach dem Motto: Seht her, ich hab' eine Freundin, ich gehör' jetzt zu euch! Das ist natürlich der denkbar schlechteste Grund um mit einem anderen Menschen eine Bindung einzugehen.


Ich hatte nur wenige, echte Freunde zu der Zeit, aber diese waren mir lieb und teuer. Dennoch konnten sie nicht mehr den Schaden beheben, der in den Jahren zuvor angerichtet wurde. Und auch die Pädagogen und Erzieher kamen nicht mehr an mich heran. Ich ließ sie nämlich nicht. Jedes mal, wenn man versuchte, mir zu erklären, dass ich ein ganzes Leben voller Möglichkeiten vor mir hatte, verneinte ich das. Wenn man mir sagte, dass die Welt nicht so schwarz - weiß ist, wie ich glaubte und es so etwas wie "normale, stereotype Menschen" nicht gäbe, lehnte ich es ab, so, als würde man mir ein Glas Gift anbieten. Dabei war ich in Wahrheit kurz vorm Verdursten. Aber irgendetwas in mir klammerte sich an die verkrusteten Denkmuster und Weltbilder wie an einen Rettungsring. So, als hätte ich Angst. Aber vor was? Ich meine, eigentlich wäre es doch für jeden in meiner Situation toll, zu erfahren, dass die Welt nicht so scheiße ist, wie man geglaubt hat, oder? Aber vielleicht hatte ich auch nur die Befürchtung, noch schlimmer dran zu sein als vorher. Das Glück hat doch auch vorher auf mich geschissen. Warum sollte es mir jetzt auf einmal die Hand reichen? Da konnte doch was nicht stimmen. In meinen Tagträumen stellte ich mir das Leben als eine menschenartige Gestalt vor, die mir die Hand reicht und dabei scheinheilig lächelt. Doch hinterm Rücken hält es ein Messer bereit, jederzeit bereit, mich abzustechen und zu töten, sobald ich nur naiv genug war, ihm zu vertrauen. Nein, sagte ich mir dann, du kriegst mich nicht, du verlogener Bastard. 


Im Laufe der Jahre wurde ich also ziemlich geschickt darin, Argumente gegen Optimismus und Glück zu finden. Egal, was jemand sagte, um mir zu zeigen, dass sich positives Denken lohnt, ich fand immer noch ein negatives Gegenargument um es zu toppen. Ich wurde darin so gut, dass all meine Gesprächspartner nach einer Diskussion mit mir zum Zahnarzt mussten, denn sie bissen sich an mir die Zähne aus. Das führte dazu, dass erste Stimmen leise zweifelten, ob ich überhaupt richtig von den Ärzten diagnostiziert wurde. Es wäre ja nicht der erste Fall von professioneller Pfuscherei. Ärzte glauben, unfehlbar zu sein und gebt nicht gerne zu, wenn sie Scheiße bauen.


Was mir im Wohnheim auffiel, war die Anzahl an Kindern aus wirklich kaputten Familien, von denen viele einen ähnlich beschissenen Start ins Leben hatten wie ich. Da gab es welche, deren Mütter während der Schwangerschaft Pillen eingeworfen oder gesoffen hatten. Deshalb sahen sie selbst im Alter von 16 aus wie 9. Da waren Mädchen, die von ihren Vätern geschlagen oder von vermeintlichen Freunden vergewaltigt worden waren. Und auch Mobbingopfer befanden sich dort. Das Heim befand sich auf einem weitläufigen Gelände am Stadtrand in der Nähe eines Parks, in dem sich viele der Kids zum kiffen und saufen trafen. Mit den meisten von ihnen kam ich ganz gut klar und langsam taute etwas auf. Aber ich hatte nur zu wenigen meiner Mitbewohner ein wirklich inniges Verhältnis. Wir waren zu viert, drei Jungs ein Mädchen. Keine Rivalitäten ums Mädchen, da sie lesbisch war und eine Fernbeziehung in Berlin hatte. Wir saßen meist irgendwo rum, rauchten oder hörten Musik zusammen. Manchmal gingen wir auch auf den Spielplatz und machten da irgendeinen Blödsinn. Mit irgendetwas muss man die Langeweile in einer öden Kleinstadt ja bekämpfen. Trotzdem hatte ich auch in unserer Clique das Gefühl, nicht zu 100 Prozent dazu zu gehören. Alle waren irgendwie gefühlt immer weiter, erfahrener und besser als ich. Ich sprach mit meinen Freunden darüber, aber erst, nachdem sie mich dazu überredet hatten. Sie sagten, sie verstünden mich, aber ich glaubte das nicht. Wie sollten sie auch? Sie waren nicht ich. Sie gehörten zu den perfekten, natürlichen Menschen, die ich so bewunderte. Und egal, wie sehr sie mich integrierten, nichts daran würde was ändern.

Aber es war okay.

Wenigstens hatte ich jemanden, der mich mochte, wie ich war.


Irgendwann war ich zu alt fürs Jugendheim und ich kam in ein Wohnheim für psychisch Kranke. Ich nannte es immer liebevoll "Die Bekloppten-Absteige". Das Heim gehörte zu einem Verband mehrerer Pflege - und Betreuungseinrichtungen. Es lag in einem von diesen Dörfern, in denen der sprichwörtliche Hund begraben lag. Und was soll ich sagen....ich weiß nicht, wen ich gruseliger fand, die Heimbewohner oder das Pflegepersonal. 


Ich lebte mit etwa zwanzig Personen zusammen, die meisten waren zwischen vierzig und sechzig.

Schizophrene. Bipolare. Borderliner und Demenzkranke. Ehemalige Junkies. Und ich mit meiner Falschdiagnose mittendrin. Ich hatte damals in der Jugendpsychiatrie den Stempel der "Schizophrenie" aufgedrückt bekommen. Und diesen Stempel wirst du dann erst mal nicht mehr los. Denn Ärzte haben schließlich immer und überall Recht, selbst wenn sie falsch liegen und nur Blödsinn verzapfen. Das Zusammenleben mit so vielen kranken Menschen stellte sich für mich als sehr anstrengend heraus. 


Gleich am ersten Tag stellte sich mir ein Bewohner vor mit den Worten: „Guten Tag, ich bin Gott." Ich dachte erst, der will mich verarschen, aber dem war nicht so. Der meinte das wirklich ernst. Gott war also ein stämmiger Ostdeutscher und ehemaliger Mechaniker, der früher zu viel gekifft hat. Das erklärt einiges, dachte ich, aber ich sprach es nicht aus, weil ich nicht gleich am ersten Tag Gottes Zorn aus mich ziehen wollte.

Gott hielt sich für die Wiedergeburt von Jesus und wie ich in den folgenden Jahren feststellen sollte, hatte er noch ganz andere interessante Ideen. So glaubte der, dass Satan sein ehemaliger Nachbar sei aus der Zeit, als der Allmächtige in einer kleinen Ein – Zimmer Wohnung in Brandenburg gelebt hatte.

Eines morgens tauchte Gott auf der Raucher-Terrasse auf, hatte sein Handy in der Hand und grinste über beide Ohren. "Ich hab grad' mit meinen Leuten gesprochen. An Silvester ist Satan fällig. Endlich kriegen wir den Scheißkerl bei den Eiern." Es war gruselig. Ein anderes Mal saß ich in Gottes Zimmer, wo er mir auf seinem PC eine Webseite zeigte: Merlin.de. Das ist eine von diesen Spaß-Seiten im Internet, in denen man irgendwelche x-beliebigen Fragen in die Suchleiste eingeben kann und das Programm spuckt dann eine entsprechende Antwort aus. Was auch immer Gott der Allwissende Merlin gefragt hat, er nahm die Antworten vollkommen ernst. Allerdings war Gott auch felsenfest davon überzeugt, eines Tages mit der Popsängerin Christina Stürmer zusammen zu kommen. Ja ja, dachte ich, dein Wille geschehe... Wenn man jedoch andeutete, dass er an Wahnvorstellungen litt, reagierte Gott darauf mit Unverständnis. Dafür machte er sich große Sorgen um die Welt, denn er versuchte eine Zeit lang, E-Mails an den damals amtierenden Präsidenten Barack Obama zu schicken, mit der Bitte, um jeden Preis einen dritten Weltkrieg zu verhindern. 


Außer dem himmlischen Vater liefen noch andere bemerkenswerte Gestalten durch dieses Wohnheim. Da war zB. Herrmann, der eines morgens meinte, es sei lustig, einen Porno im DVD Player abzuspielen und damit das ganze Wohnheim zu beschallen. Morgens um halb sieben. Das laute Gestöhne und Geklatsche hatte Herrmann auf volle Lautstärke gestellt. Die diensthabende Nachtbetreuerin stürmte zu Herrmanns Zimmer, nur um es leer vorzufinden. Sie stellte das Georgel ab und suchte anschließend nach Herrmann. Dieser saß telefonierend in der Rezeption und grinste sie breit an. Herrmann war es auch, der irgendwann beschloss, seine Medikamente nicht mehr zu nehmen und eines Nachts mit seiner Videokamera ums Heim herum zu schleichen. Er filmte schließlich einen Bewohner durchs Fenster, während dieser schlief. Später drehte Herrmann dann ganz durch und lief davon. Die Polizei wurde benachrichtigt und griff ihn bald wieder auf; er war stundenlang durchs Dorf gelaufen und wurde von den Beamten schließlich in die Klinik begleitet.

Wahnsinn. (Durchgestrichen) (Durchgestrichen)

Zu den normalsten Heimbewohnern zählte noch eine junge Frau, mit der ich für eine kurze Zeit zusammen war. Eine Schizophrene, die Stimmen hörte und sich selbst als "Oberhexe von Deutschland" bezeichnete. Diese Oberhexe war auch Cannabis nicht abgeneigt, was wahrschein- lich der Grund für ihre Krankheit war. Als sie sich eines Tages auf den Weg zu ihrem Dealer machte, habe ich vergeblich versucht, ihr das auszureden, da abzusehen war, dass sie bald wieder Stimmen hören würde. Wenig später konnte ich meiner Partnerin sagen: "Ich hab's dir ja gesagt."


Es war zum kotzen, in so einem Schuppen zu leben.

Als ich die Heimkasse verwaltete, musste ich immer wieder denselben Leuten hinter her rennen, weil sie ständig ihren Beitrag nicht zahlten. "Jaa, kriegste nächste Woche, Serious."

Zum Abendbrot gab es Aufback-Brötchen. Kaum, dass die Dinger aus dem Ofen im Brotkorb gelandet waren, standen manche Bewohner um einen herum wie Paparazzi vorm Liebesnest eines C-Promis und griffen sich Brötchen heraus wie ausgehungerte Tiere. Nach dem Motto Scheiß doch auf die anderen, Hauptsache ich hab alles!


Zuverlässigkeit und Rücksichtnahme waren Fremdwörter, stattdessen herrschte der Egoismus.

Wir hatten einmal die Woche ein Gruppengespräch, in dem wir solche Sachen ansprechen konnten. Ich hab es irgendwann aufgegeben, da ich irgendwann sah, dass die meisten Bewohner entweder zu dumm oder zu unwillig waren, um etwas zu ändern. Einmal übernachtete ich übers Wochenende bei meinem Kollegen Mario in dessen Bekloppten - Absteige, drei Dörfer weiter. Und komischerweise klappte dort die Zusammenarbeit unter den Bewohnern. Ich wäre am liebsten gleich da geblieben.


Aber das Highlight war ein Kerl, den ich aus Scherz immer "Mark Twain" genannt habe, weil er ein großer Fan dieses Schriftstellers war. Augenscheinlich war Mark Twain ein harmloser Spinner, der nur zum Rauchen herunter kam und sich ansonsten in seinem Zimmer aufhielt. Er beklagte sich immer bei mir darüber, dass seine Eltern ihn schon wieder respektlos behandelt hätten. Das kam mir irgendwann seltsam vor, denn ich hatte noch nie erlebt, dass Mark jemals das Heim verließ, geschweige denn das Dorf. Auch hatte ich nie gesehen, dass ihn seine Eltern mal besuchen kamen. Nach einer Weile dämmerte es mir, dass sich das alles nur in seinem Kopf abspielte. Twain war ein Ex- Kiffer und da hier viele Leute lebten, die sich mit Drogen ihre geistige Gesundheit ruiniert hatten, zählte ich Eins und Eins zusammen.


Dann kam der Tag, an dem Mark versuchte, eine Bewohnerin zu vergewaltigen.

In Tränen aufgelöst erzählte sie uns dies eines Nachmittags auf der Raucher- Terrasse, dem sozialen Dreh-und Angelpunkt des Heims. Wir waren alle total entsetzt. Wenig später jedoch spielte sie Marks Verhalten seltsamerweise herunter, es sei ja "nichts passiert, ich konnte mich ja schnell genug von ihm losreißen und weglaufen."

Glauben sie, das hatte für Mark Konsequenzen?

Es geschah nichts dergleichen. Kein Rausschmiss, keine Anzeigen, nichts.

Später suchte ich den Heimleiter in seinem Büro auf und sprach ihn darauf an. Der meinte nur zu mir, ihm seien die Hände gebunden. Wenn die angegriffene Bewohnerin drum bat, nichts zu unternehmen, könne er nichts machen. Ich wies ihn darauf hin, dass Mark offensichtlich eine Gefahr für die Bewohnerinnen des Hauses und für Frauen generell darstelle und dass es kein Unterschied mache, ob ihm sein Vorhaben geglückt sei oder nicht. Allein der Versuch einer Vergewaltigung sagt alles, erklärte ich, und eigentlich dürfe man Mark nicht frei herumlaufen lassen. Wenigstens eine Anzeige müsse erfolgen. Der Heimleiter hob nur die Hände und wiederholte, er könne nichts machen. "Vergessen sie's", erwiderte ich und ging frustriert auf mein Zimmer.


Das war der Punkt, an dem ich mein Vertrauen in das Pflegepersonal verlor. Die Leitung zog es offensichtlich vor, nichts zu tun anstatt die Heimbewohner vor einem Vergewaltiger in ihren Reihen zu schützen. Vielleicht habe ich aber auch nur eine andere Auffassung von Richtig und Falsch.

Jedenfalls war ich zutiefst enttäuscht, denn ein Mann, der mir was von Verantwortung erzählen will, sollte nicht wegsehen, wenn ein Triebtäter in seinem Verantwortungs- bereich herumläuft. Ging ihm aber offenbar am Arsch vorbei. Ist jedenfalls meine Interpretation.


Das war jedoch nicht der einzige Vorfall, der mein Vertrauen in Institutionen im Allgemeinen zerstörte. Da gab es eine Reihe von Ereignissen, die mich jedes mal ein bisschen desillusionierter zurück ließen. Angefangen bei meiner Diagnose, die mir wie erwähnt im Kindesalter verpasst wurde. Ich bekam schon in jungen Jahren Psycho-pharmaka und hinterfragte die Diagnose lange Zeit nicht. Als ich fast 20 war, bekam ich in einer Tagesklinik ein neues Medikament verpasst. Doch damit ging es mir nur schlechter, denn ich bekam davon Wahnvorstellungen und Panikattacken. Sie kamen schubweise und ich war jedes Mal verwirrt und am zittern und redete wirres, zusammenhangloses Zeug. In meinem Kopf hämmerte Musik, ich hatte Ohrwürmer von mehreren Musikstücke gleichzeitig; es war als würden ganze Orchester in meinem Kopf gegeneinander anspielen. Diese Schübe kamen ganz unwillkürlich und waren so schlimm, dass ich eine Weile lang überlegte, mich umzubringen. Aber ich ließ es bleiben. Ich wollte nicht in einem Heim sterben, zwischen lauter Verrückten, die sich für Jesus hielten oder übereinander herfielen. Obwohl ich mit der Genugtuung abgetreten wäre, dass sich die Heimleitung doch noch mal für ihre Inkompetenz hätte verantworten müssen, war es mir das nicht wert gewesen. Ich wollte leben.


In diesen Tagen, so hatte ich das Gefühl, wurden mir nicht mal die einfachsten Freuden vergönnt.

So besuchte ich mal mit einem Kollegen ein Festival. Doch wir waren kaum angekommen, als ich schon wieder zurück musste; die Psycho-Schübe setzten wieder ein und mit meiner Verfassung ging es rapide abwärts. Eine Weile versuchte ich, mich in einem Zelt auszuruhen, überlegte währenddessen, ob ich vielleicht doch Suizid begehen und meine gesamte Medikamentenpackung am Stück fressen sollte. Genug Wasser zum runterspülen war da. Hätte ich das gemacht, wäre mein Gehirn wahrscheinlich kollabiert und entweder wäre ich gestorben oder hätte mich in einen sabbernden Zombie verwandelt. Ich schaffte es, im Wohnheim anzurufen und meine Lage halbwegs verständlich zu schildern. Zwischen unserem Dorf und dem Festival Gelände lag eine halbe Stunde Zugfahrt. Als ich die diensthabende Betreuerin bat, mich mit dem Auto abzuholen, sah sie das nicht ein. Sie sagte: "Wenn du in deinem Zustand fähig bist, mich anzurufen, dann kannst du auch alleine wieder zurück fahren."


Halten wir fest: ein Typ, der gerade einen psychotischen Schub erleidet, der zittert, der ängstlich und verwirrt ist und kaum weiß, wo vorne und hinten ist, ruft eine Person an, die rechtlich dazu verpflichtet ist, für seine Sicherheit zu sorgen. Und diese Person lehnt seine Bitte um Hilfe ab. Stattdessen ist der Psychotiker darauf angewiesen, das Risiko einzugehen, in seinem Zustand alleine nach Hause zu fahren, wobei ihm ernsthaft etwas zustoßen könnte.

Ganz großes Kino, ehrlich.


Wie man sich denken kann, hab ich es dennoch lebend ins Heim zurück geschafft. Ich bin aber nicht mit dem Zug gefahren. Nachdem ich das Festival-Gelände verlassen hatte, folgte ich einem Pärchen in den nächsten Shuttlebus und fuhr zurück zum Bahnhof. Ich hatte genug Geld für ein Ticket, kam in meiner Verwirrung jedoch nicht mit dem Karten - Automaten zurecht. Daher nahm ich mir ein Taxi und gab dem Fahrer all mein Geld, was mehr war, als ich bezahlen musste. Anschließend wankte ins Wohnheim zurück. Dort kotzte ich erst mal ausgiebig bevor ich eine heiße Dusche nahm.

Es hat ein paar Minuten gedauert, bis ich realisierte, dass ich vergessen hatte, mich auszuziehen.

Das mit den Psycho-Schüben wurde irgendwann so schlimm, dass ich deswegen eingeliefert wurde. Die Diagnose war immer noch Schizophrenie. Allerdings kam mir langsam der Verdacht, dass ich alles andere als schizophren war. Ich war ja nicht blöd: man lebt nicht so lange mit Psychotikern unter einem Dach, ohne eine grobe Grundkenntnis der Symptome zu erlangen. Weder hörte ich Stimmen, noch sah ich die heilige Jungfrau in meinem Waffeleisen.

Ich litt an Depressionen, was etwas ganz anderes ist als eine Psychose. Die alten Zwangsgedanken aus der Kindheit waren mit der Zeit verschwunden, worüber ich heute noch verwundert bin. Die Wahnvorstellungen, die ich damals im Wohnheim hatte...nein. Es ist besser, nicht darüber zu schreiben. Das möchte ich nicht noch mal rekapitulieren. Es ist vorbei, und das ist das Wichtigste. Interessant ist jedoch, dass ich diese Schübe erst hatte, nachdem ich in der Tagesklinik auf das neue Medikament umgestellt wurde. Der Witz war jedoch, dass meine Bedarfsmedikation aus dem selben Zeug bestand, dass die Psychose erst auslöste. Das ist, als wolle man einen Heroin Junkie mit noch mehr Heroin von der Sucht befreien. Ich hatte langsam den Verdacht, dass irgendetwas mit meinen Wunderpillen nicht stimmte. 


Eines Abends konnte ich nicht mehr und bat darum, eingeliefert zu werden. Die diensthabende  Psychiaterin war eine kräftige Russin, mit einem Akzent so breit wie der Eiserne Vorhang. Während sie mich untersuchte, teilte ich ihr meinen Verdacht mit, dass vielleicht die Medikamente meine Schübe auslösten. Frau Doktor lächelte nur und schüttelte den Kopf. "Nein, nein, nein, Herrrr Fakt, die Medikamänte sind guut fürr sie, nähmen sie die nur waiiter."


Bekommt man für's blasen eigentlich auch einen Doktortitel? Oder warum lässt man eine solche Stümperin auf die Patienten los? Dass diese Frau für ihren Beruf ernsthaft studiert hat, kann ich mir nämlich nicht vorstellen. Da ich ihre deutschen Kollegen für genauso unfähig halte, schließe ich nationale Unterschiede im Bildungsgefälle aus. Professionelle Armut kennt schließlich keine Hautfarbe und kein Vaterland. Immerhin waren fast alle Ärzte, denen ich mich anvertraute, Deutsche. Und fast alle haben meine Lage eher verschlimmert. Vielleicht liegt es auch am Arztkittel. Der sitzt womöglich zu eng und schnürt den Blutfluss zum Gehirn ab. Anders kann ich mir das Versagen der Therapeutenzunft nicht erklären.

Ich erinnere mich:


- Die erste Ärztin benutzte mich als Versuchskaninchen für eine Droge, von der man noch gar nicht wusste, was sie mit einem macht.


- Der zweite Pfuscher stellt mir eine falsche Diagnose, weshalb ich jahrelang falsch behandelt wurde. Ich will nicht wissen, was diese Psychopharmaka in meinem Teenager-Gehirn alles beschädigt haben. Vielleicht wäre ich heutzutage kerngesund, wenn der Typ seinen Job richtig gemacht hätte.


- Von der nächsten Ärztin wurde ich später auf ein Medikament umgestellt, dass in mir Psychosen auslöste.


-Und die vierte Terrorpeutin nahm meine Bedenken als Patient gar nicht ernst und ermunterte mich ohne jede zweite Überlegung dazu, weiterhin das Gift zu fressen, welches mich erst in ihre Anstalt brachte.


Erst Psychiaterin Nummer 5, eine, die ich in Anspruch nahm, während ich das Wohnheim verließ, die hatte es drauf. Die nahm meine Sorgen wegen der Medikamente nicht nur ernst, ich bekam unter ihrer Aufsicht ein anderes, um zu probieren, ob es mir damit besser ginge.

Die psychotischen Schübe hörten auf.

Sie kamen auch nie wieder, nicht mal, als ich vorübergehend ohne jede Medikation war (ich hatte es mal ausprobiert, ging aber nicht gut; offenbar bin ich noch nicht soweit). Seitdem bin ich nur noch bei ihr in Behandlung, weil sie nicht von oben herab so tut, als wäre sie unfehlbar. Zumal sie die erste war, die ganz klare Zweifel an der alten Diagnose der Schizophrenie hatte. Denn ich zeige völlig andere Symptome als die, welche für die Diagnose benötigt werden. Vorläufig lautet mein inoffizielles Krankheitsbild Depressionen mit Verdacht auf Borderline Störung.


Doch wie gesagt, Schizophrenie ist ein Stempel, den wird man schwer wieder los. Und dank diesem Stempel bin ich über fünfzehn Jahre lang mit den falschen Tabletten und den falschen Methoden behandelt worden. Wenn ich in der Klinik war, musste ich regelmäßig einen sogenannten Psychose Kursus besuchen. In diesem Kursus, der von einer Psychiaterin geleitet wurde, kamen zweimal die Woche alle Patienten mit der Diagnose Schizophrenie zusammen, um anhand von Gesprächen und aufklärenden Videofilmen alles wichtige über diese Krankheit zu lernen. Ich finde es gut, dass es so was gibt, aber ich stelle mir gleichzeitig vor, wie viel Zeit und Energie ich an diesen Nachmittagen verschwendet habe, nur weil irgendjemand zu blöd war, mich seiner staatlich anerkannten Ausbildung entsprechend richtig einzuschätzen. Die Themen der Kurse wiederholten sich ständig und nach einer Weile kannte ich alles auswendig und schlug die Zeit damit tot, der hübschen Arzthelferin auf den Arsch zu glotzen.


Mir ist klar, dass ich voll ausstudierten Medizinern nicht erklären kann, was sie zu tun haben.

Aber wenn ein Arzt sich für unfehlbar und allwissend hält, und es nicht ernst nimmt, wenn seine Patienten Einwände und Bedenken äußern, dann haben sie ihr Recht auf Ausübung ihres Berufes meiner Meinung nach verloren. Denn dann sind Ärzte nur noch eine Gefahr für alle, die ihnen im guten Vertrauen auf ihr Wissen und Können ihre Gesundheit anvertrauen.

Patienten brauchen Hilfe. Patienten wollen Hilfe. Und hoffen, dass man ihnen wirklich zuhört und man sie für voll nimmt. Wir wünschen uns, von ihnen ernst genommen zu werden. Ich zumindest kann nicht noch jemanden gebrauchen, dem das Wohlergehen seiner Schützlinge am Arsch vorbei geht. Aber ich werd' ja sehen, ob der Doc hier ein richtiger Arzt ist oder wieder jemand, der sich nur für das Geld interessiert.


Mit den Jahren bin ich zynisch geworden, was ich manchmal bedauere. Wenn man so oft von anderen enttäuscht wurde, dann hinterlässt das Spuren. Vor allem, wenn man immer wieder von Systemen oder Institutionen hängen gelassen wird, die sich eigentlich um einen kümmern sollten. Doch leider bin ich dieser Ignoranz viel zu oft begegnet, ausgerechnet in Einrichtungen, wo solche Verhältnisse nach deren Satzungen eigentlich keinen Platz haben dürften.


Lachhaft!


Später kam ich vom Wohnheim in eine WG für psychisch Kranke. Diese lag in der Stadt und gehörte zur selben sozialen Einrichtung wie das Heim. Ich hatte nun mit den Pflegern, Betreuern und Klienten - so nannte man uns da - der sogenannten Zentrale zu tun. Und mittlerweile erfuhr ich allerhand Interessantes über den Ort, der mich so kaputt gemacht hat. Zum Beispiel, dass "das Dorfloch", wie das Wohnheim von den Betreuern der Zentrale scherzhaft genannt wurde, sich bei selbigen nicht gerade großer Beliebtheit erfreute. Wenn sie dort mal aushelfen mussten, waren sie froh, wenn sie wieder weg konnten, denn sie beschrieben die Atmosphäre in dem Haus als unheimlich und toxisch. Aha, dachte ich. Und mir wollte man immer weismachen, dass ich lediglich ein Schwarzseher sei, der alles grundsätzlich schlecht mache. Ein Angestellter der Zentrale meinte mal im Vertrauen zu mir, dass er es unfassbar fände, dass ich dort so lange gewohnt habe; an meiner Stelle wäre er nach ein paar Monaten durchgedreht und hätte auf alles geschossen, was dort rumlaufe. Es sei schwer zu fassen, was da für Gestalten vor sich hinvegetieren. Interessanterweise sagte mir der Chef der Zentrale mal, dass er nicht glaubte, dass ich schizophren sei. Anhand meiner Beschreibungen müsse ich an irgendetwas anderem leiden, was genau, könne er aber nicht sagen. Das war, bevor meine jetzige Therapeutin später zum selben Schluss kam.


Aber auch die Zentrale war kein Versammlungsort von Heiligen. So bekam ich ungewollt mit, wie einer Auszubildenden gekündigt wurde, weil heraus kam, dass sie selbst psychisch krank war. Ich finde das äußerst verlogen. Inklusion sieht für mich anders aus.


Ich erinnere mich an einen Klienten, einen schweigsamen alten Mann, den ich im Geiste "Kippen - Kalle" getauft hatte. Und zwar deshalb, weil er Tag und Nacht nichts anderes machte, als durch die Stadt zu fahren und sämtliche Mülleimer nach Zigarettenresten abzusuchen. Kalle hatte seine Wohnung über der WG und ich bekam mit, wenn durch seine Qualmerei die Feueralarme in seiner Wohnung angingen. Normalerweise ging nur einer los und jedes mal, wenn ich bei Kalle dann klingelte, hatte er aufgemacht und mir mit leiser Stimme versichert, dass alles in Ordnung sei. Als ich eines Tages von der Arbeit nach Hause kam, konnte ich im Hausflur alle Alarme dröhnen hören. Ich überlegte kurz, ob ich wieder umsonst hochgehen oder es ignorieren sollte. Aber diesmal klingelten alle Feueralarme, was selbst für Kalle ungewöhnlich war.

Ich ging vorsichtshalber nach oben und klingelte und klopfte, jeweils einmal, was normalerweise völlig ausreichte. Aber diesmal war es anders. Kein Kalle, der die Tür öffnete und mich aus verquollenen Augen ansah. Ich klingelte und klopfte erneut, mehrere Minuten lang, und rief seinen Namen. Jetzt machte ich mir wirklich Sorgen. Zwar sah ich keinen Rauch unter dem Türspalt hervor kommen, aber das musste nichts heißen. Ich hatte keine Zeit für lange Überlegungen. Ich trat die Tür ein, lief in die Wohnung und rief nach Kalle.

Der saß rauchend in seiner Küche am Tisch und sah mich an wie drei Meter Feldweg.

Mir blieb die Spucke weg.

"Alles klar, fick dich, Kalle.", murmelte ich kopfschüttelnd, drehte mich um und ging raus. Unterwegs begegnete ich dem Hausmeister, als die Feuermelder nacheinander verstummten. Dieser schüttelte auch den Kopf und meinte nur, dass er aus Kalle ebenso wenig schlau werden würde wie aus einem sprechenden Sack Bohnen.


Da war aber noch etwas auffälliges an ihm, und ich krieg' das seitdem nicht mehr aus dem Kopf.

Eines Tages, bei einer gemeinsamen Bespaßungs- maßnahme mit den anderen Klienten war Kalle ungewohnt redselig und lebhaft gewesen. Das war mir aufgefallen und während die andere Mini-Golf spielten, ging ich zu ihm und sprach ihn darauf an. Kippen-Kalle beugte sich über den Tisch zu mir und senkte die Stimme. "Ich hab' heute meine Medikamente vergessen. Behalt's aber für dich, ja?"


Ich will nicht behaupten, dass es Kalle besser ginge, wenn er gar keine Medis mehr nehmen würde. In meiner Zeit im Wohnheim habe ich oft erlebt, dass Bewohner ihre Medizin eigenhändig und ohne Absprache mit Fachärzten absetzten und wenig später im Krankenhaus landeten.


Aber nachdem ich gesehen habe, was es bei Kalle für einen Unterschied machte, war ich ziemlich erschüttert. Der Typ war klar im Kopf und verhielt sich ausnahmsweise wie ein menschliches Wesen, und nicht wie eine geistlose Kartoffel auf Beinen.

Wenn man Kalle einfach mal etwas anderes verabreichen würde, vielleicht würde er dann aufhören, sein Leben lang in Mülltonnen nach Zigaretten-Stummeln zu suchen. Niemand kann mir ernsthaft erzählen, dass die Zentrale darüber nicht Bescheid weiß. Und trotzdem unternimmt niemand was dagegen. Aber vielleicht wollen manche Einrichtungen auch gar nicht das Leben ihrer Klienten verbessern. Es bringt ihnen ja Geld, menschliche Wesen mit Drogen zu betäuben, damit aufzuhören würde eventuell das Bankkonto schmälern. Aber so läuft das nun mal in der Vorzeige - Demokratie Deutschland, nicht wahr? Die Würde des Menschen ist unantastbar, es sei denn, es geht um Geld.


Ich finde das erschreckend. Soziale Einrichtungen sind dafür da, um genau so etwas zu verhindern. Stattdessen fördern sie die existenzielle Verwahrlosung von Menschen wie Kalle, indem sie einfach weg schauen oder sie ausbeuten.

Aber wahrscheinlich sind ihnen mal wieder die Hände gebunden...


Ja... 

Serienkiller und Amokläufer. 

Wo die alle herkommen... 


Es soll ja noch immer Leute geben, die sich wundern, woher all die Amokläufer kommen.
Nun, ich gehöre nicht dazu. Ich glaube, wenn ich während in meiner Schulzeit Zugang zu einer Waffe gehabt hätte, wäre ich ebenfalls zum Mörder geworden. Entweder hätte ich meine Mitschüler über den Haufen geschossen oder, naja, zumindest mich selbst. Und es hätte mir um keinen einzigen Toten leid getan.

 
Heute denke ich: zum Glück hatte ich damals keine Waffe.
Vielleicht hätte ich tatsächlich etwas wirklich, wirklich schreckliches getan.


Aber damals, mit 15, erschien mir der Gedanke durchaus verlockend. Da spielten sich finstere Szenarien von Mord und Folter in meinem Kopf ab. Davon, gleich morgens einem meiner Peiniger beim Eintritt ins Klassenzimmer den Kopf gegen den Tisch zu hauen, bis nicht mehr bleibt als eine blutige Masse. Und wenn die ganzen anderen Trottel aufmuckten, nun... dann würde die Affenjagd beginnen. Dann würde ich nämlich eine Pistole aus der Jacke ziehen und einen nach dem anderen abknallen.

Aber ich würde sie nicht gleich alle umbringen. Nein. Denjenigen, die mich am miesesten behandelt hatten, würde ich erst in die Kniescheiben schießen, so dass sie nicht mehr laufen können. Dann in die Hände. Dann in die Genitalien. Und dann würde ich sie zwingen, sich bei mir zu entschuldigen für all das, was sie mir angetan haben. Es wäre halb so wild, wenn sie dabei etwas nuscheln würden. Schließlich lässt es sich mit einer Pistole im Mund nur undeutlich reden.
Die letzte Kugel wäre dann für mich. Und alles, was die Bullen finden würden, wäre ein Massaker. Die Straftäter, alle sorgsam ihrem ehemaligen Opfer, hingerichtet.

 
So in etwa spielte sich der Film in meinem Kopfkino damals ab. Und ich hielt noch lange an dem Glauben fest, dass das der einzig richtige Weg wäre, mit Mobbingtätern umzugehen. Die Columbine-Jungs,  Robert Steinhäuser, Eric Auvinen... sie waren Helden für mich. Als ich von der Schießerei in Winneden hörte, war ich der Meinung, dass man diesem Tim Kretschmer einen Orden verleihen sollte. Schließlich habe er die Welt nur von bösartigem Ungeziefer gereinigt.
Amokläufer taten das in meinen Augen einzig richtige.
Keine Sanktionen, keine Diskussionen. Denn mit diesen Viechern kann man nicht diskutieren. Das war mein Standpunkt gewesen: Mobbingtäter sind keine menschlichen Wesen. Erst recht keine, die  ein Recht zu leben haben.


Wie viele Menschen in Deutschland mögen so denken? So verbittert und wütend sein? So verblendet von Zorn?
Ich glaube, es sind eine ganze Menge, nicht nur an den Schulen, sondern in den Banken, den Werkstätten, den Buchläden, überall. Überall können potenzielle Massenmörder herumlaufen, die irgendwann die Schnauze voll davon haben, zu leiden. Und es dann an ihren Mitmenschen abreagieren. Vielen geht es dabei noch nicht mal um Rache, jedenfalls nicht nur. Viele Amokläufer wollen einfach nur gesehen werden. Wahrgenommen. Nach dem Motto: „ Seht her! Seht, wie stark ich sein kann, wie sehr ich euch in der Hand habe! Seht, wie sehr ihr mich unterschätzt habt!“ Es verwundert daher nicht, dass sie ihre Taten oft an den Orten begehen, wo sie am meisten ignoriert oder wie Scheiße behandelt werden. Denn auf eine verdrehte Weise wollen sie endlich die Achtung der Mobbingtäter erlangen. Oder zumindest das Gefühl von Hilflosigkeit überwinden. Sie wollen ihre Selbstachtung zurück erlangen, wollen zeigen: Hier, schaut her, schaut was ich kann und was geschieht, wenn ihr meine Grenzen überschreitet.


Diese Amokläufer wollen Respekt. Respekt von einem Umfeld, dass ihnen jahrelang nur Missachtung und Abwertung entgegen brachte.
Inzwischen ist aber auch mir bewusst, dass dies bei weitem nicht auf alle Täter zutrifft. Einige haben sich auch durch elitäres, arrogantes Auftreten sozial selbst ins Aus geschossen oder sich im Internet radikalisiert. Es ist auch keineswegs so, dass es bei solchen Massenmorde ausschließlich die Mobbingtäter trifft. Meist scheint es den Mördern scheißegal zu sein, ob wen sie erwischen. Heutzutage erscheint mir das Thema viel komplexer als ich ursprünglich angenommen hatte.
Dennoch glaube ich, dass Mobbing wenigstens eines von mehreren wichtigen Motiven in den meisten Fällen spielt, zumindest, wenn es um Amokläufen an Schulen geht. Wenn einem jahrelang von Gleichaltrigen nur Hass, Spott und Gewalt entgegen gebracht wird, dann macht es einen krank. Nicht selten gehen Mobbingopfer daran seelisch zugrunde, werden drogen- oder alkoholsüchtig oder unfähig zu einem gesunden Sozialleben.


Und das nur, weil man nicht normal genug ist.
Normal ist gut in der deutschen Gesellschaft, und damit zieht sie sich die Mörder ihrer Kinder selbst heran. Wir investieren unglaublich viel Zeit und Mühe darin, uns und der ganzen Welt zu zeigen, wie tolerant wir sind. Anspruch und Wirklichkeit klaffen hier weit auseinander, und überhaupt:
wenn wir ach so tolerant sind, warum müssen wir es dann so penetrant zur Schau zu stellen?
Bei der ganzen  penetrant zur Schau gestellten Toleranz allen Menschen gegenüber mokieren wir uns immer noch über Dicke und Fette, spotten hinter vorgehaltener Hand über das Mädchen mit den vielen Sommersprossen und nennen sie "Streuselfresse".


Ich glaube, der Mensch ist in Wahrheit immer noch ein Tier. Und Tiere neigen dazu, die Artgenossen, die ihnen suspekt sind, zum Wohle der Masse zu töten.
Und ich persönlich glaube, wenn sie plötzlich nicht mehr an das Gesetz gebunden wären, würden die meisten Normalen ohne zu zögern alle töten, die nicht dem gesellschaftlichen Standard entsprechen.


Ist das radikal?


Fragen wir mal die Emos, die 2008 durch eine Stadt in Mexiko gejagt wurden. Und zwar von Anhängern anderer Subkulturen, wie Heavy Metal oder Punk. Menschen also, von denen man erwarten sollte, zu wissen, wie es ist, von anderen für ihr bloßes Aussehen oder ihre Art zu leben angefeindet zu werden. Trotzdem schlossen sich damals mehrere Mitglieder zu einer Hetzjagd zusammen, auf Menschen, denen man mittels einer Verleumdungskampagne Homosexualität und damit einhergehend eine vermeintliche Gefahr für das Image der Gegend nach sagte.             

Offenbar sind solche ach-so-unangepassten Szenen genauso gleichgeschaltet und geistlos wie die Massen, die sie angeblich ablehnen. Schafe in Wolfspelzen. Von Irokesenschnitt und Langhaarmatte ist es dann nicht mehr weit zum Hitlergruß und Hakenkreuz - Tattoo. Und Subkulturen brauchen ja offenbar ein Feindbild, sonst sind sie offenbar nicht lebensfähig. Das Ende der mexikanischen Emo - Treibjagd waren jedenfalls vier Verletzte. Es wurden achtundzwanzig Personen verhaftet. Keine Ahnung, wie viele Emos es waren, aber es wurde damals von etwa tausend Verfolgern berichtet. Tausend! Zum Glück ist niemand getötet worden. Aber ich bin sicher, dass es Tote hätte geben können.


Ob jetzt Homosexualität oder die jugend- kulturelle Zugehörigkeit der Verfolgten  ausschlaggebende war, ist für die Täter, glaube ich, sekundär gewesen. Man war Teil einer größeren Masse und hatte jemanden, an dem man seinen Vernichtungstrieb ausleben konnte; ich glaube nicht, dass jeder der tausend Jugendlichen sich wirklich darum geschert hat, ob die Emos schwul oder überhaupt Emos sind. Ich habe das damals einem Freund von mir gezeigt, der sehr großer Heavy Metal Fan war. Er war so beschämt, dass er sich nie wieder mit seines gleichen abgegeben hat. Zum Zeichen des Bruches mit dieser Szene ging er noch am selben Tag zum Friseur und ließ sich einen Bürstenschnitt verpassen.

 
Ich habe den Eindruck, sobald man Teil einer größeren Gruppe von Menschen ist, schaltet das Hirn automatisch auf Leerlauf. Man denkt nicht mehr für sich selbst, sondern vernichtet instinktiv alles, was vermeintlich anders ist und nicht dazu gehört. Wir ach-so-zivilisierten Menschen sind nichts weiter als Bestien. Wir sind kein Stück weiter als unsere in Höhlen lebenden Vorfahren. Unsere Zivilisiertheit ist nur Fassade. Wir belügen uns selbst und wünschten, es wäre anders. Aber es ist so. Und haben wir keine Tiere zum quälen, nehmen wir eben andere Menschen, nach dem alten "Suchen und vernichten" - Prinzip. Alles, was ein bisschen zu individuell ist, wird dann zur Gefahr deklariert und schon geht der wütende Mob auf den Emo los, als wäre er oder sie das Frankenstein Monster. Und würde es das Gesetz nicht verbieten, ich bin mir sicher, die Straßen wären gepflastert mit den Leichen der Nerds, Cosplayer, Emos, Vegetarier, Muslime, was weiß ich. Oh, und dank Onkel Putin auch mit tausenden von Russen, die jetzt alle über einen Kamm geschert und mit ihm und seiner Ukraine - Politik identifiziert werden.


Manche, mit denen ich darüber gesprochen habe, meinten, das könne man nicht so radikal sehen; dass wir doch mittlerweile eine ziemlich individualisierte Gesellschaft wären. Dass es Gegenden gibt, in denen die persönliche Freiheit gar nichts bedeutet und wo Menschen tatsächlich für vermeintliche Andersartigkeit verfolgt und getötet werden. Dass all die Freiheit, die wir hier hätten, unsere ganze Freizügigkeit, bunten Haare, Piercings und unsere Diversität all meine Behauptungen Lügen strafen würden.


BULLSHIT!

 
Nur weil deine Individualität nicht gesetzlich verboten ist, heißt das nicht, dass die Gesellschaft dich akzeptiert wie du bist. Frag mal die Juden. Antisemitismus ist zwar illegal in diesem Land, wuchert aber immer noch wie Tumor in deutschen Köpfen.


Die deutsche Gesellschaft ist nicht toleranter geworden.
Sie hat ihre Lust zu hassen nur auf etwas anderes verlegt.
Davon bin ich überzeugt. Wir jagen zwar keine Emos durch die Stadt, aber das müssen wir auch nicht. Wir töten die angeblich Abartigen verbal auf dem Schulhof, am Arbeitsplatz, in der Stammkneipe oder der Dorfgemeinde.
Weil wir Angst haben.
Weil in jedem von uns immer noch ein Höhlenmensch lauert, der in allem unbekannten eine Gefahr sieht. Und was er nicht versteht, davor muss er entweder fliehen oder es vernichten, sogar die eigenen Artgenossen, obwohl er damit jedes mal einen Teil von sich selbst tötet.
Statt mit der Keule töten wir heute mit Worten. Mit dem gezeigten Finger. Mit Diffamierungen im Internet, mit Beleidigungen, Spott, Hohn und Abwertung.


Und manche drehen dann halt durch.


Mit Serienkillern ist es oft ganz ähnlich. Eine ganze Zeit lang habe ich mich mit ihnen beschäftigt. Dokumentiert sind diese Menschen ja ganz gut. Und dabei ist mir aufgefallen, dass viele von ihnen in irgendeiner Art Ausgrenzung, Misshandlung oder Mobbing erfuhren, sei es im Elternhaus oder in der Schule. Beispiele hierfür sind unter anderem John Wayne Gacy, Joel Rifkin, Jeffrey Dahmer, Henry Lee Lucas, Andrei Tschikatilo, Anthony Sowell, Robert Hansen oder auch Dennis Nilsen. Diese Menschen kamen alle als unschuldige Kinder zur Welt und wurden zu Mördern, Kannibalen und Serienvergewaltigern. Soziale Ausgrenzung, Mobbing und physische und psychische Gewalt waren dabei mal mehr, mal weniger wichtige Faktoren; in Nilsens und Dahmers Fällen spielte auch die mangelnde gesellschaftliche Akzeptanz von Homosexuellen eine Rolle.


Zufall? Glaube ich nicht.


Jeder hämische Spitzname, jede Beleidigung und Demütigung, jeder Fausthieb, jede Prügel, jede Ausgrenzung hat diese Kinder geprägt. Als Erwachsene vergewaltigten, töteten und verstümmelten sie schließlich Frauen, Männer und auch Kinder. 


Und dann sind da noch die anderen Leben, die durch Mobbing und Hass auf alles, was anders ist, zerstört werden. Diejenigen, die sich selbst hassen.
Jene, die die Lügen, welche sie von ihrem Umfeld eingetrichtert bekommen, als absolute Wahrheit schlucken. Dass sie wertlos sind und keine Liebe und Anerkennung verdient haben. Sie entwickeln ein so negatives Bild von sich selbst, dass es ihr ganzes Verhalten bestimmt. Sie ruinieren durch ihre Negativität jede Beziehung, wenn sie überhaupt jemanden so nahe an sich heran lassen. Die Erinnerung lässt sie nicht los. Sie ertränken ihre Schmerzen in Alkohol, Sex, Drogen, Glückspiel oder lassen den Hass, den sie von sich und anderen erfahren, an ihren Liebsten aus, werden gewalttätig, verprügeln ihre Kinder, verzocken all ihr Geld, landen auf der Straße, oder sie nehmen sich irgendwann das Leben.


Einfach, um die Stimmen zum Schweigen zu bringen. Die Stimme der eigenen Gedanken oder die Stimmen der Mitschüler, Eltern, Lehrer usw. Diese Stimmen, die meist nur Erinnerungen, manchmal aber auch Symptom einer ausgemachten Psychose sind. Und die immer wieder über sie lachen, sie beschimpfen, und immer und immer wieder die alten Wunden aufreißen. Der Schmerz vergeht nie. Und auch für die Angehörigen der Opfer vergeht er nicht. Manche werden selber depressiv und bringen schließlich sich und andere um. Ruinieren sich und ihr Leben und das von anderen. Ein konzentrischer Kreis aus Leid, Schmerz, Gewalt und Tod, der von innen nach außen ausstrahlt.


So viele Menschen hätten ihr Leben leben können. All die kleinen und großen Freuden des Daseins genießen können. Die Sache ist die: Gewalttäter sind nicht alleine schuld an ihren Verbrechen, auch wenn das eine populäre Meinung ist. Da wir Menschen sind, bilden wir eine Gemeinschaft, ob wir wollen, oder nicht. Wir bilden ein echtes soziales Netzwerk, abseits der Handys und Computer. In diesem sind wir alle miteinander verbunden, wie in einem Spinnennetz. Alles, was der Einzelne tut, wirkt sich auf die Gemeinschaft aus. Jeder Mobbingtäter und prügelnde Elternteil trägt also retrospektiv gesehen Mitschuld an all den Toten. Denn was sie den Dahmers und Rifkins in ihrer Jugend angetan haben, hat dazu beigetragen, dass sich ihre Opfer zu Killern entwickeln konnten. Genauso wie jeder, der hätte helfen können und stattdessen weggesehen und sein Maul gehalten hat.


Und warum? Weil sie nicht ertragen konnten, dass manche einfach "anders" sind?


Diese Serienkiller und Massenvergewaltiger wären heutzutage vielleicht vollkommen unbekannte, ehrbare Mitglieder der Gesellschaft geworden, wenn man sie einfach in jungen, prägenden Jahren wie Menschen behandelt und sie akzeptiert hätte wie sie waren. Aber stattdessen wurden sie behandelt wie Schwerverbrecher, und das wurden sie ja schließlich auch. Eine menschliche Gemeinschaft lebt nach bestimmten Regeln und Normen, damit das Zusammenleben klappt und das Überleben der Gruppe gewährleistet ist (und damit das des Individuums). Wer gegen die Norm verstößt, stellt nach dieser Logik erst mal eine Gefahr für alle dar. Klingt erstmal nicht verkehrt. Dabei begeht der Mensch aber den Fehler, alles, das nicht dem Standard entspricht,  als gefährlich einzustufen. Statt die Gefahr realistisch einzu- schätzen, wird selbst der harmloseste Kleinscheiß als Gefahr für den Homo Sapiens wahrgenommen.
Das heißt, jemand, der "seltsam" angezogen ist, eine unübliche Haarfarbe hat oder am stottern ist, wird mit Mördern, Dieben und Vergewaltigern auf eine Stufe gestellt. Ich kenne niemanden, der durch stottern getötet wurde. Wann hat man das letzte Mal in der Zeitung gelesen, dass ein Terrorist ein Gebäude in die Luft gesprengt hat, weil er das Down Syndrom hatte? Ich zumindest kann mich nicht entsinnen.


Aber was, wenn ich den Pflegern hier erzählen würde, dass ich mal während eines mehrtägigen Festivals einen Zeltnachbarn mit sehr starker Akne hatte? Und dass ich schwören könnte, dass seine Pickel ein eigenes, bösartiges  Bewusstsein hatten; dass sie ihren Besitzer steuern konnten wie eine Puppe. Diese intelligenten, bösen Pickel unterhielten sich miteinander und planten, mich auszurauben und umzubringen sobald ich im Zelt eingeschlafen war.
Sie würden mich wahrscheinlich noch länger hierbehalten.

 Natürlich ist das vollkommen bescheuert und unrealistisch. Aber genauso verhalten sich normale Menschen! Triviale Abweichungen von der Norm - seien es gefärbte Haare, ein Gesicht voller Piercings oder voller Pickel mit 40, - werden von ihnen als lebensbedrohlich eingestuft. 

Geringfügige Andersartigkeiten lassen die Normies schon durchdrehen und mental zur Mistforke greifen: "Bringt ihn um! Seine Muttermale am Kinn haben sämtliche Schafe im Dorf gerissen!"
Das lässt darauf schließen, dass normale Menschen geistig nicht ganz gesund sind und eine potenzielle Gefahr für sich und andere darstellen. Denn den Normalen ist meiner Erfahrung nach fast alles zuzutrauen.


Kurz gesagt: Normale sind eine Gefahr für die Gesellschaft.

 
Halten wir also fest: wenn Serienkiller und Amokläufer diese eine Grenze überschreiten und töten, weil sie die Entmenschlichung durch ihresgleichen  nicht ertragen, tragen wir eine Mitschuld. Wir alle. Das Blut der Opfer klebt dann nicht nur an den Händen der Täter. Sondern auch an dem der Eltern. Lehrer. Mitschüler. Nachbarn. Gemeinden. Gesellschaft. Nationen. Und auch die Täter sind irgendwie Opfer, nicht wahr? Schließlich haben wir sie dazu getrieben. Nicht nur durch Mobbing, wie ihr direktes Umfeld. Sondern durch das kultivieren einer Mentalität, in der die Masse alles ist und das Individuum nichts. Wir als Zivilisation haben das Blut all dieser Kinder an unseren Händen, unschuldig oder nicht. Und doch sind wir zu feige, endlich die Verantwortung füreinander zu übernehmen. Füreinander da zu sein. Miteinander zu sein.

Das macht uns im gewissen Sinne alle zu Mördern und Vergewaltigern.
Als ich vor ein paar Monaten mit dem Bus in die Innenstadt fuhr, saß ein geistig Behinderter ganz hinten im Bus und sang laut das Titellied der Teenage Mutant Hero Turtles. Das fanden ein paar Schulmädchen offenbar so komisch, dass sie den Behinderten mit ihren Handykameras filmten.
Ich sprach die Mädels darauf an, und sagte, dass das nicht in Ordnung sei, worauf sie gereizt reagierten. "Ja, schön, sie sind nicht mein Vater...Jungähh!" Am liebsten hätte ihnen die Handys aus den Händen geschlagen und sie mit einem Arschtritt zur Tür hinaus befördert. Aber ich bin ja tierlieb.


Nur schade, dass ich der einzige war, der in dem Moment den Mund aufgemacht hat.
Allen anderen Fahrgästen war das Verhalten der Mädchen egal gewesen.
Deutschland ist tolerant? Eine Sozialgesellschaft?
Bullshit.

(Durchgestrichen)

 
Der Deutsche liebt es, auszugrenzen. Gehen sie mal in Hamburg in eine Kneipe und sagen sie laut, dass sie Bremer sind. Mal gucken, was zuerst angeflogen kommt: die Beleidigungen, die Faust oder das Bierglas.
(Unleserlich) 


Nachdem ich die Schule verlassen hatte, wurde ich mit den Jahren dem Rest der Welt immer feindseliger gegenüber. Mir fehlte die Möglichkeit, meine Wut an den ursprünglichen Auslöser zu adressieren. Also sah ich mich nach einem entsprechenden Ersatz um. Ich brauchte nicht lange zu suchen, denn die Unterdrückung von Randgruppen beschränkt sich nicht auf den Schulhof oder das Klassenzimmer. 
Neonazis. Rassistische Polizisten, die alles niederknüppeln, das nicht weiß und deutsch ist. Dorfbewohner, die jeden Neu-ankömmling misstrauisch beobachten. Er könnte ja die Pest haben oder Kinder fressen. Oder  Christentum und Islam mit ihrer Ablehnung von Andersgläubigen. Intoleranz war einfach überall. Ich fand sie sogar in den Subkulturen, in den Punk - und Heavy Metal Szenen, die zwar auf ultra-nonkonform machen, aber alles verachten, das in ihren Augen nicht "true" oder "Punk" genug ist. Langsam begriff ich, dass Intoleranz und Ausgrenzung ein universelles Problem der Menschheit war. Ich begann, eine mentale Trennlinie zu ziehen:
Ich gegen den Rest der Welt.


Ich fühlte mich richtig dreckig, wenn ich in den Spiegel sah. Denn dort blickte mir ein Mensch entgegen. Wäre es mir möglich gewesen, hätte unsere komplette Spezies ausgelöscht. Das schien mir das einzig richtige zu sein, das einzige, was wir wirklich verdient haben.


Trotzdem war die gewünschte Abgrenzung unmöglich. Schließlich musste ich ja weiter mit anderen Menschen leben. Und ich betrachtete meine Freunde oder Partnerinnen als gute Menschen, die natürlich nicht zu denen gehörten, die ich so leidenschaftlich verachtete. Tatsache ist, ich achtete nicht darauf, dass sie nicht in mein Feindbild passen, sonst müsste ich mir ja irgendwann die Frage stellen, ob dieses Feindbild wirklich realistisch ist. Also ignorierte ich den offensichtlichen Widerspruch. Niemand gesteht sich gerne ein, dass er Scheiße verzapft. Schließlich will ich ja nicht mit Ärzten auf einer Stufe stehen. Wenn ich konsequent gewesen wäre, hätte ich keine Freunde gehabt. Geschweige denn eine Partnerin. Oder ich hätte mir eingestehen müssen, dass ich falsch lag und eben nicht alle Menschen durch und durch schlecht waren. Entweder oder, alles andere ist Pfuscherei.  Ich war vollkommen ignorant gegenüber meiner eigenen  Intoleranz.
Bis zu dem Tag, als ich auf einem Weihnachtsmarkt auf Johann traf.


Das war vor etwa zehn Jahren. Ich saß mit ein paar Freunden, Jan und Annika, an einem großen Feuer und hatte bereits ein paar Becher Glühwein zu viel. Ich weiß nur noch, dass ich mich plötzlich in einer endlosen Hasstirade über die Menschheit als Ganzes ausgekotzt habe, wie engstirnig doch alle seien und intolerant und dass es doch besser für den Planeten sei, wenn man uns alle ausrotten würde. Plötzlich drehte sich dieser glatzköpfige Hüne zu mir um.  Ein Bär von einem Mann, gekleidet in einem schwarzen Mantel, mit einem Kinnbart, der ihm bis zum Gürtel reichte. Er sah mir direkt ins Gesicht. Trotzig blickte ich zurück und sagte: "Was?" Der Hüne wandte sich seiner Frau zu, mit der er kurz ein paar Worte wechselte, worauf sie zum Getränkestand ging. Der Hüne setzte sich ungefragt auf die gegenüber stehende Bank. Meine Freunde schwiegen plötzlich und warteten ab, was nun geschehen mochte. "Moin.", sagte der Hüne mit heiserer, rauer  Stimme. "Ich bin Johann."
"Serious.", erwiderte ich ungerührt, während wir uns über das Feuer hinweg ansahen.
Er mochte um die fünfzig herum sein, ich kann es nicht mehr sicher sagen.
"Du, ich will dich mal was fragen.", sagte Johann ruhig.
"Was denn?", fragte ich und versuchte so hart wie möglich zu klingen.
"Findest du deine Leute hier auch scheiße?"
Ich blinzelte. "Was ist?"
"Ich sagte, findest du deine Leute hier auch scheiße? Das sind doch deine Freunde, oder?", fragte Johann und nickte in Jan und Annikas Richtung.
"Ja...und?", fragte ich verwirrt zurück.
"Findest du, dass die auch vernichtet gehören? Oder sind das keine Menschen? Seid ihr Menschen?", fragte er und Annika blickte schmunzelnd nach unten.
Ich ahnte, was er von mir wollte und rollte genervt die Augen.
"Hören sie", sagte ich, "So brauchen sie mir gar nicht erst zu kommen, ich..."
Johann hob eine Hand und wandte sich Jan und Annika zu.
"Wie findet ihr das denn, Abschaum genannt zu werden? Findet ihr das gut? Wie ist das denn für euch?" Jan zuckte mit den Schultern. Annika streichelte mir über den Rücken und sagte:
"Ach, ich weiß schon, wie ich das zu nehmen habe. Ich kenn' ihn ja lang genug und weiß, was los ist."
"Ist er ein netter?", fragte Johann.
"Er ist ein toller Mensch.", sagte Annika und sah dabei zu mir.
"Ach, der ist auch ein Mensch?", erwiderte Johann und lachte. „Du sach' mal, Serious, wenn die Menschen so schlimm sind, warum bist du dann mit welchen befreundet? Da stimmt doch was nicht."


Ich schwieg. Mir war das unendlich peinlich.
"Also, wenn ich die ganze Menschheit so hassen würde, wie du, würd' ich meine Frau verlassen und in den Wald ziehen. Ganz alleine, weit weg, so weit weg von den Leuten wie's nur geht. Und wenn ich dann noch die Möglichkeit hätte, würde ich das tun, wovon du hier immer schwafelst: die ganze Welt von der Menschheit befreien. Also würde ich als erstes meine Frau abknallen. Dann meine Kinder, zwei Töchter haben wir, die eine macht uns bald zu Großeltern. Dann meinen Bruder und meinen Schwager. Aber vorher muss der seine Schulden bei mir bezahlen. Dann den Rest der Familie. Dann kommt mein bester Freund dran, mit dem bin ich schon zur Schule gegangen. Dem kann ich alles erzählen, keinem Mann auf der Welt kann ich mehr vertrauen als ihm. Der wär dann auch tot. Joa, und dann käm‘ der Rest dran. Jeder aus unser'm Freundeskreis, die würd' ich alle erschießen. Jeder, dem ich was bedeute.  Auch, wenn die mir nix getan haben,bdas macht nix. Sind ja nur Menschen. Und weißte was, danach bring ich dich und deine beiden Freunde hier um. Ich könnt' auch eigentlich jetzt anfangen. Vielleicht brech' ich deiner Freundin hier das Genick und deinen Kumpel hier, den hau' ich einfach tot. Und zu dir, da fällt mir bestimmt auch noch was ein."
Er lachte laut.
"Hallo? Sagen sie mal, was reden sie denn da?", rief ich. "Sie reden hier über meine Freunde, ich..."
"Ja, und?", unterbrach mich Johann, völlig ungerührt. "Sind doch nur Menschen. Sind doch eh Abschaum, ohne den die Welt besser dran wäre, isses nicht so?"
"Das ist aber ganz schön polemisch!", erwiderte ich trotzig.
"Ja, und? Dein Geschimpfe auf die Welt  doch auch.", konterte Johann.
"Ja, aber..."
"Nix aber!", sagte er in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete.
Ich seufzte entnervt.
"Und dann, Serious, mach' ich 'nen Holocaust an der ganzen Menschheit. Ich bring sie alle um, jedes Land, jeden Menschen, Mütter, Frauen, kleine Kinder, völlig wurscht. Joa, und dann komm' ich selber dran zum Schluss. Was meinste, Serious, willste mitmachen? Das wär' doch was für dich."
Wir starrten Johann völlig entsetzt an. Alle drei, die wir da saßen.
"Was meinste?", fragte Johann erneut.
"Äh... ich glaube, ich verzichte.", murmelte ich und starrte verlegen in meinen Becher.
"Wieso das denn jetzt? Ich dacht', du fändest das gut. Hat sich für mich jedenfalls so angehört."
Ich wusste nicht, was ich darauf  erwidern sollte.
Johann seufzte laut. "Ach, schade. Weißte, das ist der große Unterschied zwischen uns, Junge: wenn ich so 'ne Wut auf die ganze Welt hätte, wär' ich wenigstens konsequent."
Für ein paar Minuten schwiegen alle.
Dann brach Johann vor Lachen fast zusammen. "Kinners, ich mach' nur Spaß. War alles nicht so gemeint!" Eine kleine, schlanke Frau mit einem hüftlangen grauen Zopf und einer Narbe an der rechten Wange setzte sich zu uns ans Feuer. In der Hand hielt sie zwei große Becher.
"Das ist Margarete, meine Frau.", verkündete Johann nicht ganz ohne Stolz. "Erzählst du den Leuten schon wieder Blödsinn, Joe?", sagte sie mit breitem Dialekt. "Ach, nicht doch, das würd' ich nie tun", sprach der der Hüne lachend. "Joe" reichte mir einen der beiden Becher. Er war übervoll mit Bier. Dann hielt er mir seinen Becher hin und wir prosteten einander zu. Nachdem er einen kräftigen Schluck getrunken und sich den Schaum aus dem Bart gewischt hatte, beugte er sich nach vorne und sah mich entschlossen an.
"So, und nun erzähl mal ernsthaft, Serious. Was fehlt dir?"
Zuerst wollte ich wieder in meinen Becher starren, aber diesmal schien Johanns Blick das irgendwie nicht zu zulassen. Also begann ich, wieder meine alten Hasstiraden runter zu leiern, aber Johann schüttelte nur den Kopf und unterbrach mich.
"Nein, Serious,", sagte er, "Ich will wissen, was dir fehlt."
"Was Joe meint, ist, dass da irgendwas in dir nicht in Ordnung ist. Du vermisst doch irgendwas, und darum bist du so unglücklich."
Verwirrt sah ich die beiden Eheleute an. Konnten sie etwa Gedanken lesen?
"Ja, das sieht man dir schon von weitem an.", sagte Margarete und ich musste mich beherrschen, um nicht zusammen zu zucken. "Ähm... also..." Ich dachte nach. Meine Freunde, die Eheleute, alle sahen mich schweigend an. Es war fast ein bisschen zu viel; zuerst wurde meine Misanthropie verbal herausgefordert und auseinander genommen. Und nun stocherten zwei Wildfremde in meinem Seelenleben herum als ob sie in mir lesen konnten wie in einem Buch.
War es denn so offensichtlich, dass ich einen an der Klatsche hatte?
Ich sammelte meine Gedanken und als ich sie halbwegs sortiert hatte, sagte ich:
"Ich ertrage es nicht, mich einsam zu fühlen. Ich hasse es, nie genug zu sein." Und nach einem kurzem Moment fügte ich hinzu: ."Und ich ertrage nicht, was sich die Menschen gegenseitig antun."
Ich brauchte gar nicht ins Detail zu gehen; ich fühlte,dass die beiden genau wussten, worüber ich sprach. Hier saß ich nun, mit meinen besten Freunde und zwei Fremden an einem Feuer in einer kalten Dezember Nacht und legte mein zertrümmertes Herz offen, so als wolle ich es jeden Moment ins Feuer werfen um es dem Geist der Weihnacht zu opfern. Die Geräusche und die umher laufenden Besucher des Weihnachtsmarktes waren in den Hintergrund getreten. Plötzlich waren da nur wir Fünf.
"Ich glaube nicht, dass du einsam bist", sagte Margarete plötzlich und blickte zu Jan und Annika. Ihre Stimme war ruhig und sanft. "Aber du fühlst dich so. Wir alle kennen das. Und keiner wird gerne abgelehnt. Aber du musst lernen, damit zurecht zu kommen. Die Welt wird sich nicht ändern, nur weil du böse auf sie bist. Das ist der Welt völlig schnuppe." "Richtig", sagte Johann. "Guck mal, die beiden haben dich gern. Die nehmen dich, wie du bist." Annika legte mir ihre Hand auf den Rücken. Mittlerweile stierte ich wieder schweigend in meinen Becher. "Du musst aufhören mit diesem Hass, Serious. Damit änderst du nichts. Dadurch kriegst du höchstens einen Herzinfarkt. Das juckt die Welt nicht. Die dreht sich dann ohne dich weiter und bleibt so ungerecht. Aber du, du machst dadurch dein Leben kaputt und bereitest anderen Leuten Kummer. Leuten, denen du wichtig bist. Ich kenn dich zwar nicht, aber du scheinst ein netter Typ zu sein. Ich glaube, du hast viel im Kopf und hast eigene Ideen und damit können die meisten nicht um. Aber ein paar, wie Jan und Annika hier, die mögen dich, wie du bist. Bleib dabei. Nicht alle Menschen sind böse oder hinter dir her. Ich kann dich vollkommen verstehen, es gibt viele Idioten da draußen, die nur auf sich und ihren Vorteil schauen. Na und? Es gibt auch die anderen. Wie dich zum Beispiel und deine beiden Freunde hier. Und ich glaube, denen bist du genug."
"Ja, ist auch so. Wir lieben dich wie du bist, Bro.", sagte Jan und stand auf um mir auf die Schulter zu klopfen. Ich habe so sehr versucht, nicht zu flennen, aber es ging in dem Moment einfach nicht. "Margarete, ich hol' noch ein paar Bier.", sagte Johann und stand auf.

Kulturelle Aneignung... Nein.

 Kulturelle ABneigung. 

Wenn ich manchmal so die Nachrichten verfolge, habe ich den Eindruck, dass da draußen mehr Verrückte herumlaufen als hier drinnen. Gendern, kulturelle Aneignung, politische Korrektheit - alles erst mal ganz normale politische Themen, denke ich mir. Ich bin ich ein großer Befürworter von Akzeptanz und einem friedlichen Miteinander aller Menschen. Dass wir in Dingen wie Diversität, Antirassismus und Frauenrechten endlich mal Fortschritte machen, ist daher absolut zu begrüßen. Praktisch bauen wir aber mal wieder nur Scheiße. Und dabei hat alles so gut angefangen.  

Die #metoo Bewegung machte lautstark auf darauf aufmerksam, dass Frauen oft nur als fickbares Fleisch betrachtet werden. Zudem kann ich mich nicht daran erinnern, dass vor dem Aufstieg LGBTQ die Rechte von Nicht-Heteros mal wirklich flächendeckend ein so großes Thema in diesem Land gewesen sind. 

Ich interessiere mich nur geringfügig für Politik. Politiker sind für mich alle gleich, nämlich ein Haufen aufgeblasener Bonzen in teuren Anzügen die wie Blutsauger von der Bevölkerung leben. Von daher informiere ich mich meistens nicht darüber. Tatsächlich weiß ich nicht mal, ob Frau Merkel immer noch Kanzlerin ist oder ob mittlerweile eine neue Lobby-Marionette ihren Platz eingenommen hat. Naja, ist ja auch nicht wichtig. Mich interessieren nur die Menschen. Woher wir kommen, wohin wir gehen und warum wir sind, wie wir sind. Wer sich so über die Intoleranz und Ungerechtigkeit der Welt aufregt, der kann die Menschheit eigentlich nur lieben, selbst, wenn er vorgibt, sie zu hassen. Von daher fand ich die Entwicklungen, die sich in der modernen Gesellschaft auftun, anfangs ausgesprochen begrüßenswert.


Aber mittlerweile kann ich nur noch mit dem Kopf schütteln bis ich Nackenschmerzen habe.

Man gebe eine gute Idee mehr als zwei, drei Menschen und schon wird sie korrumpiert und ins völlige Gegenteil verzerrt. Politische Korrektheit ist eine dieser Ideen, genauso wie Gendern. Niemand sollte aufgrund seines Geschlechts oder seiner Hautfarbe unterdrückt und verachtet werden. Auch nicht dafür, dass er oder sie sich dem Geschlecht nicht zugehörig fühlt, in dass es, sozusagen, "hineingeboren" wurde.

Aber wenn ich mitbekomme, dass Musiker mit Rastalocken ausgeladen werden, weil ein paar weiße Schreihälse was von kultureller Aneignung kreischen, wird's absurd.


Soweit ich weiß wussten diese Musiker, deren Namen ich vergessen habe, nicht mal, was vor sich geht; die Veranstalter haben auch lediglich auf den Druck besagter Schreihälse reagiert; also entweder schauen sie sich nie vorher die Leute an, denen sie eine Bühne geben, oder sie sind einfach rückgratlose Wendehälse. Im ersten Fall würden sie wahrscheinlich sogar sowas wie Landser spielen lassen und es erst merken, wenn es zu spät ist. Das wäre enorm fahrlässig und unprofessionell. Im zweiten Fall ist es aus meiner Sicht einfach nur armselig. Es ist kaum anzunehmen, dass die politisch überkorrekten Schreihälse sich vorher jemals für den Respekt vor den religiösen Symbolen von Rastafaris eingesetzt haben - denn genau das sind die Dreadlocks nämlich. Sie sind nichts spezifisch schwarzes. Afrofrisuren werden schließlich auch nicht von allen Menschen afrikanischer Abstammung getragen. Wer also mit so was anfängt wie "Weiße dürfen keine Dreads tragen, denn das ist kulturelle Enteignung von Schwarzen", der befeuert damit unbewusst rassistische Klischees.


Das "Problem" ist nicht neu; vermutlich würde die Menschheit noch immer in Höhlen hausen, wenn es keinen interkulturellen Austausch gäbe (oder meinetwegen Aneignung).Selbst die Rastafari Religion, mit denen Dreadlocks in erster Linie assoziiert werden, ist eine spirituelle, kulturelle Aneignung. Wer das nicht glaubt, bedenke folgendes:

Afrikaner wurden von Weißen nach Jamaika verschleppt, um ihnen dort zu dienen. Dort bekamen sie von ihren "Herren" das Christentum aufgedrückt. Die frühen Rastafaris der 1930er Jahre lehnten sich gegen diese Fremdbestimmung auf - sie wollten ihr Recht wahrnehmen, afrikanisch, frei und selbstbestimmt zu sein, nach eigenen Sitten und Bräuchen.

Nur haben die frühen Rasta - Prediger ihr Christentum nicht, wie man erwarten sollte, zugunsten der Stammesreligionen ihrer Vorväter abgelegt; stattdessen glauben die Rastafari, dass die wahre Religion Jehowas - Jah, wie sie Gott nennen - aus Afrika stammt und die Weißen diese Religion verfremdet und korrumpiert haben. So entstand aus dem Christentum der Weißen ein neuer Glaube, afrikanisch geprägt, mit Einflüssen der äthiopisch-orthodoxen Kirche, der den Fokus aber auf den äthiopischen Kaiser Haile Selaisse legt.


Nun ist das ja nicht neu; die frühen Christen waren schließlich Juden; ihr Glaube, dass Jesus der Messias ist, nahm im Nahen Osten seinen Anfang. Es war eine ursprünglich hebräische, semitische Religion, eine Richtung des Judentums, die nach Europa gelangte und dort schließlich immer mehr lokales Gepräge bekam; vor allem durch römische Einflüsse, in Britannien durch die Kelten. Und schließlich waren es Judentum und Christentum, die den späteren Propheten Mohammed nachweislich beeinflussten. 


Das heißt im Klartext, dass Christentum, Rastafari und Islam kulturelle Aneignung betrieben haben, als sie entstanden und formuliert worden sind. Teils auch aneinander, aber alle am Judentum. Die Ideen sind alle aufgenommen und weiterentwickelt worden und haben sich vom Ursprungsgedanken wegbewegt. Soll man jetzt den Islam, das Christentum und Rastafari verbieten? Was wäre die Begründung? Kultureller Raubbau am Judentum? Das würde keiner ernsthaft in Betracht ziehen, zumal dann ganz schnell Proteste gegen religiöse Intoleranz laut werden würden. Allerdings, wenn man weiß, wie man sich das alles zurechtlegen kann, könnte man auch sagen, diese drei Glaubensrichtungen NICHT zu verbieten wäre antisemitisch. Schließlich würde man mit einem Nicht-Verbot den Raubbau am Judaismus unterstützen. Und dann hätten wir zwei Fraktionen von Weltverbesserern, die sich gegenseitig Intoleranz vorwerfen können. Seltsam finde ich es auch, dass die Minderheiten, für deren Rechte diese Gruppierungen immer antreten, offenbar nie vorher gefragt werden. Man sollte doch meinen, in einer inklusiven Gesellschaft sollte so was doch grundsätzlich sein.


Und wo zieht man eigentlich die Grenze? Nur zwischen Weißen und Schwarzen? Ist nicht diese ganze Überkorrektheit eigentlich dazu da, um solche Grenzen einzureißen? Stattdessen unterstützen sie sie. Fridays For Future liefert den Mörtel. Geben wir doch mal das gängige Ziffernsystem an die arabischen Kulturen zurück; die sind nämlich nicht europäisch. Sondern "angeeignet." Oder soll man auch innerhalb der europäischen weißen Mehrheits- bevölkerung weiter machen? Dann wird's aber haarig. Dann dürfte ich diese Zeilen hier nicht in der lateinischen Schrift verfassen sondern...keine Ahnung, Runen benutzen oder so. Aber da es keine antiken Römer mehr gibt - wem sollen wir die lateinische Schrift denn zurückgeben? Dem städtischen Museum? Dem Vatikan? Wem? Und gilt das eigentlich als kulturelle Aneignung, wenn sich verschiedene Weiße gegenseitig beklauen? Warum wird das eigentlich nicht auch thematisiert? Nicht trendy genug? Oder zählt das etwa nicht, wenn ich den ebenfalls weißen Norweger oder Tschechen kulturell beklaue (seien wir ehrlich, das Wort Diebstahl hängt die ganze Zeit über dieser Debatte wie ein übelriechender Furz in einem vollen Konferenzraum)? Denn die sind überwiegend weiß?


Spinnt man diesen Faden mal weiter, wird hier "Kultur" umgehend an den Begriff "Rasse" oder "Hautfarbe" geknüpft. Native Americans können sich gegenseitig kulturell austauschen. Aber der Weiße darf daran keinen Anteil haben, weil er der böse, böse Unterdrücker ist? Diese Sichtweise reduziert jedoch alle Weißen auf ein Stereotyp des "imperialistischen, machtgeilen Mordbrenners aus Europa, der keinen Respekt vor anderen Völkern hat und nichts kann außer zerstören, randalieren und versklaven." (Man ersetze Europa durch den Nahen Osten und man hat automatisch das Bild, das Rechtspopulisten von Muslimen haben – Zufall?)

Das heißt, jeder Weiße ist somit ein potenzieller Hitler, Conquistadore oder KKK Faschist. Einfach, weil er weiß ist. Aber wenn Weiße nur PoC kulturell beklauen können, oder generell Minderheiten, bedeutet das dieser Logik zufolge, dass man Schwarze, Natives, Asiaten usw, alle über einen Kamm scheren kann. Alles isolierte, homogene Massen, die NICHTS miteinander gemein haben. Alles, was uns über die ethnischen Grenzen hinaus miteinander verbindet, gibt es in diesem Weltbild nicht mehr.


Also...wer so denkt... der ist ein Rassist.

Und denke ich an Rassisten, denke ich an Hitler, den Klan ...

und neuerdings auch Fridays For Future.


Und die Pointe dieses makaberen Politwitzes ist, dass größtenteils nur Weiße sich so sehen.

Und wie ist das eigentlich mit der Enteignung europäischer Kulturgüter?

Soll ich mich ernsthaft darüber aufregen, wenn Japaner in einem Club in Tokyo zu Eurodance tanzen? Oder Afrikaner eine Wagner Oper aufführen? Oder sich amerikanische People of Colors, wie das ja jetzt heißt, zu Halloween als König Arthus verkleiden? An Halloween, einem europäischen Fest, dessen keltische Wurzeln wahrscheinlich nicht mal die meisten weißen Amis kennen oder zu würdigen wissen?


Fuck, Nein! Ich würde mich nicht darüber aufregen, denn ich habe wichtigeres im Leben zu tun.


Viele Leute glauben heutzutage offenbar, um Faschismus zu bekämpfen, reicht es, blindlings mit dem Finger auf alle zu zeigen, die beim furzen den Arsch zu weit nach rechts drehen und dann "Nazi" zu brüllen. Aber wen wundert es auch? Hönnecke, der Patient im Zimmer am Ende des Flurs, hat mir im Raucherraum erzählt, dass er früher mal Nazi war, vor etwa 15 bis 20 Jahren. Er sagte, da musste man sich noch richtig anstrengen, ein Fascho zu sein. Die ablehnenden Blicke der Nicht-Nazis ertragen lernen. Ständig böse gucken. Jeden Tag mit der Angst vor der vermeintlichen Zwangsentvölkerung des Heimatlandes rechnen. Sonnebrand auf der Glatze. Und wenn man nachts mit dem Auto die sechsstündige Autofahrt vom Rechtsrock Konzert zurücklegt und Kohldampf kriegt, darf man nicht mal eben beim McDonalds halten. Ist ja Besatzerfraß. Wahrscheinlich mit irgendeiner Droge versetzt, die das theoretische Gehirn auf links dreht, um auch die letzten anständigen Arier gefügig zu machen. Ess' lieber eine Dose Sauerkraut, Kamerrraad. Rrrreines. Deutsches. Krrraut. Ich sagte, ständig in so einer eingebildeten Gefahrenwelt aufzuwachen müsste eigentlich jeden körperlich um Jahrzehnte altern lassen.

Nazi zu sein war damals offenbar ziemlich harte Arbeit.

Und heute?

Heute ist es schon fast zu einfach, als hasserfüllter, intoleranter Mensch angesehen zu werden.

Verzicht auf moderne Anglizismen? Dünnes Eis. Mindestens Deutschtümelei!

Baumwolljacken kaufen? Bestimmt eine versteckte Sympathiebekundung für die Versklavung und Ausbeutung von Afrikanern.

Sich zu wünschen, dass die eingewanderten neuen Nachbarn deutsch lernen? Kulturchauvinismus.

Wichsen mit der rechten Hand? Eine klare Ablehnung politisch Anders-wankender.

Wird eine deutsche Frau von ihrem Mann misshandelt und unterdrückt, schreien alle auf. Wenn das einer Muslimin aus dem Nahen Osten passiert, drücken wir beide Augen zu und tun tolerant. Das ist dann bei denen halt so. „Ist kulturbedingt.“ Das heißt, in unserem Land muss man erst deutsch genug sein damit Leute dazwischen gehen. 


Und wir denken ernsthaft, wir seien kein rassistisches Land?


Irgendwie seh‘ ich nur noch Jochens. Hasserfüllte, geifernde Jochens.


Und irgendwie kann ich so langsam links und rechts nicht mehr unterscheiden.


Auf mich wirken die mittlerweile alle gleich paranoid.

Eigentlich ein Wunder dass die nicht reihenweise in der Klapse sitzen.


Und wie kommt man eigentlich auf die Idee, dass nur Weiße kulturelle Enteignung betreiben können? Würde das nicht im Prinzip allen Nicht-Weißen die Fähigkeit dazu absprechen und sie damit als weniger intelligent oder kulturell befähigt und adaptiv hinstellen? Ziemlich rassistisch, oder?

Ich mach mir da keine Illusionen. Nicht alle von mir genannten Menschen machen sich vor der Aneignung schlau über die kulturellen Bedeutung von Halloween, dem Ring des Nibelungen oder Eurodance (den die Japaner gerne behalten dürfen).



Denke ich an die deutsche Gesellschaft, denke ich größtenteils an eine graue, gesichtslose Masse.

An einen Haufen Bekloppter ohne Seele, ohne Identität oder eigenen Willen. Komplett uniformiert, standardisiert, durch und durch normalisiert. Konforme Standard-Menschen, gebaut nach Schema F, die sich gegenseitig dressieren und konventionieren. Sie sind alle gleich: gleiche Gedanken, gleiche Ideen, gleiche Leben. Niemand in der unbelebten Masse da draußen wagt es, über den Tellerrand zu blicken, aus Angst, es könnte ihm gefallen, was er oder sie da sieht. Man könnte ja inspiriert sein, was wirklich "neues" zu machen, zu sagen, tun oder zu denken. Und das macht Angst. Was sollen nur die Nachbarn denken?


Warum haben wir eigentlich alle so einen Riesen-Schiss davor, was die anderen denken? Die meisten Menschen denken ohnehin nicht. Außer, ihr primitiver Jagdinstinkt entdeckt etwas, dass aus dem Rahmen fällt, egal, wie geringfügig die entdeckte Andersartigkeit ist.


Alles, was nicht grau, gesichts - und seelenlos ist, muss dann vernichtet werden. Oder zumindest mit genug stiller, feiger Verachtung gestraft werden, dieser passiven Aggression der Normalen; böse Blicke von der Seite; Getuschel, das verstummt, sobald das abartige Monster (und so sehen Normalos alle anderen, ob sie's so äußern oder nicht) den Raum betritt, denn die Normalen haben meist nicht die Eier in der Hose um ihrem Hass frei zu äußern, schon gar nicht, wenn sie alleine sind. Nur in Gruppen fühlen diese Feiglinge sich stark.

Was haben die Deutschen auch schon anderes vorzuweisen? Sie tun jetzt alle so ultra-tolerant, weil sie Angst haben, als Nazi oder Rassist bezeichnet zu werden.


Nur so zur Info: Das sind nur Worte. Die sind zwar hässlich und tun weh, aber es sind nur Worte; wer wirklich kein Nazi ist, sollte sich vor diesen Worten nicht fürchten müssen; höchstens mitleidig den Kopf schütteln und den Ankläger mal ganz doll in den Arm nehmen - offenbar fühlt er sich einsam.

Außerdem, wenn Deutschland wirklich was gegen Faschismus hätte, würden Polizisten öfter vor Gericht gezerrt werden. Aber so ganz will dieses Land nicht auf seine uniformierten Unterdrücker verzichten, auch nach dem Fall des Dritten Reiches nicht. Stattdessen beschweren sich Polizisten vor laufender Kamera über Rassismus – Vorwürfe und dass man pauschal mit „schwarzen Schafen“ über einen Kamm geschert wird. Aber dagegen unternommen wird bei der Polente auch nichts. Statt mit dem braunen Dreck in den eigenen Reihen aufzuräumen und ECHTE Justiz walten zu lassen, werden Nazi – Sympathisanten, Machtmissbraucher und Gefahren für die Zivilgesellschaft im Dienst zugelassen. Denn man will gar nichts tun. Meiner Meinung nach ist die bundesdeutsche Polizei eine Bedrohung der Demokratie und gehört verboten.


Wo waren all die Black Live Matters Supporter, LGBTQ Supporter und Transgender Rechtler vor einigen Jahren noch? Die hysterischen Schreihälse, die mit dem Finger auf irgendwelche weißen Sängerinnen mit Rastalocken zeigen und was von kultureller Aneignung labern, ohne eine Ahnung von der Materie zu haben? Die ganzen politisch Überkorrekten, die ihren ach-so- Afrika- freundlichen Fair Trade Kaffee aus umweltschädlichen Pappbechern schlürfen und gleichzeitig Billig-Baumwoll-Klamotten tragen, die in Indien von den Sklaven irgendwelcher Ausbäuter-Betriebe hergestellt wurden? Ich glaube, sie saßen auf ihren Ärschen und gaben einen Scheiß auf die Rechte von Minderheiten. Wenn diese Leute wirklich so furchtbar um Gleichheit und Diversität bemüht wären, wären sie schon vor Jahren auf die Straße gegangen, Protestaktionen beigetreten, hätten sich in Internet Videos mokiert oder reiche Vergewaltiger- Promis angezeigt. Die ganze Cancel Culture Welle ist nur ein weiterer Trend, von dem diese Heuchler profitieren wollen, und wenn der Trend erst mal wieder abflaut, gehen den Leuten Transrechte und Indianer wieder genauso am Arsch vorbei wie vorher.


Je mehr ich darüber nachdenke, umso wütender macht mich das alles.

Wir waren früher das Land der Dichter und Denker. Wir brachten große Geister hervor, die weltbedeutendes zur menschlichen Kultur beitrugen: Schiller, Goethe, Immanuel Kant, Mendelssohn, Friedrich Nietzsche, Richard Wagner, Heinrich Heine, nur um ein paar zu nennen. Es ist nicht allzu lange her, da schufen deutsche Denker einige der wichtigsten, inspirierenden und daher zu Recht meistgelesenen Bücher der Welt.

Und heute?

Heute lesen die meisten Leute die BILD Zeitung.

Und lassen sich lenken, manipulieren und freiwillig verblöden. Von einem Aufwiegel-Blatt, dessen Wahrheitsgehalt gen - 0 tendiert. Geschrieben und herausgegeben von, naja, „Journalisten“, die auf Persönlichkeitsrechte scheißen und durch üble Nachrede und Verleumdungs- kampagnen Leben und Karrieren beschädigen. Die BILD hat den Schauspieler Raimund Harmsdorf in den Selbstmord getrieben, Sogar die Polizei sagt das. "Bild dir deine Meinung?" Dass ich nicht lache. Die Deutschen lassen sich die vermeintlich eigene Meinung von diesem Blatt vorkauen und glauben den verbalen Dünnpfiff noch, den sie da lesen; ich wage es übrigens nicht, ernsthaft "Zeitung" dazu zu sagen; ich würde mir mit der BILD nicht mal den Arsch abwischen, wenn uns plötzlich alles Klopapier der Welt ausgehen würde.

Heute beherrschen die meisten Deutschen nicht mal mehr ihre eigene Sprache; da kommt ein genuscheltes, zerhacktes Gebrabbel aus den Mündern, dass man wirklich Mühe hat, die eigenen Landsleute zu verstehen. Statt überlegter Sätze mit sinnvoller Grammatik bekommt man etwas zu hören, das einen an den geistigen Fähigkeiten des Gegenübers zweifeln lässt.


Nur mal zum Vergleich:

"Das Gleiche lässt uns in Ruhe, aber der Widerspruch ist es, der uns produktiv macht."


Das stammt von Goethe.


„Ein Patriot ist jemand, der sein Vaterland liebt. Ein Nationalist ist jemand, der die Vaterländer der anderen verachtet.“

Der Satz kommt von Johannes Rau.


"Alta, ne, isch sag dir, der labert nur Scheiße, Digga, also hab isch ihm gesagt: ey, Digga, du weißt gar nix, Junge, chill mal dein Leben und halt die Fresse,ey."

Diese Worte stammen von einem Soldaten, der sich neulich während einer Zugfahrt lautstark am Handy über jemanden ausließ, mit dem er eine Meinungsverschiedenheit hatte. Nun denn, habe ich in dem Moment gedacht. Schön, dass sie mittlerweile auch geistig Behinderte bei der Bundeswehr zulassen.


Auf der anderen Seite, die meisten Behinderten, die ich getroffen habe, sprechen ordentlicher als dieser Mensch. Und eigentlich ist es ja auch nicht witzig. Wer so schlechtes Deutsch spricht hat entweder zu viel Gangsta Rap gehört oder die eigenen Eltern als Geschwister (beides ist ziemlich tragisch). Da ja heute alles politisch korrekt und englisch sein muss, wie nennt man eigentlich solche Leute heutzutage, die beim reden die Kauleisten nicht auseinander kriegen? 

Mental Bosslevel Gechallengete? 

Grammar Shamer? 

Yoda Gedamaged?


Rassismus wird nicht durch mit-dem-Finger-zeigen aus der Welt geschafft.

Sich gegenseitig anschreien und als "Kolonialist" oder "Transfeind" zu beschimpfen löst die Vorurteile nicht auf. Alles, was nicht zur Antifa gehört, als Faschist zu brandmarken, bekämpft den Faschismus nicht, schlimmstenfalls liefert es ihm dadurch rhetorische Steilvorlagen.

Zuhören.

Reden.

Aushalten.

Kopf aus dem Arsch ziehen.

Den Zeigefinger mal im Halfter lassen.

Sich wie zivilisierte Menschen benehmen.

Das wär's doch mal.


Aber das können die Deutschen nicht. Stattdessen sehen sie an jeder Ecke Nazis und suchen überall nach Hetze und Engstirnigkeit, obwohl sie dafür nur mal in den Spiegel zu blicken bräuchten.

Wer übrigens glaubt, dass Rassismus ausschließlich strukturell existiert, der sieht zu kurz. Fremdenfeindlichkeit kennt mehr als einen Weg um die Herzen der Menschen zu vergiften. Eine Klasse mit 20 arabischen und drei deutschen Schulkindern interessiert sich genauso wenig für systemimmanente Diskriminierung und wirtschaftliche Faktoren wie eine Klasse mit deutscher Mehrheit. Das sind Kinder, die nur das Gesetz der Masse kennen, und wer anders aussieht oder nicht den gleichen Hintergrund hat, ist automatisch der Feind. Einfach gesagt sind ALLE Menschen potenzielle Rassisten, unabhängig von Herkunft, Hautfarbe und Nation. Wer behauptet, dass Minderheiten nicht rassistisch sein können, der ist noch nie unprovoziert von Migranten als "Hitler", „Kartoffel“ oder "Deutsche Scheiße" beschimpft worden. Von den Feindseligkeiten, die verschiedene Gruppen von Migranten einander an den Kopf werfen.


Minderheiten sind vielleicht nicht in der Position zu unterdrücken - aber Ausgrenzung können auch sie. Und da hilft es auch nicht, wenn irgendwelche TAZ - oder Stern – Schreiber in schlau formulierten Artikeln davon schwadronieren, dass Ausländer, die sich aggressiv gegenüber Deutschen verhalten, nur auf zuvor erlebten Rassismus reagieren. Das mag auf viele zutreffen, natürlich, aber nicht immer der Grund sein. Dass Migranten hier keine echte Anerkennung als gleichwertige Menschen erfahren ist ja leider nichts neues. Aber Feuer mit Feuer bekämpfen, bringt's das denn? Auf Hass mit noch mehr Hass antworten? Steckt dieses Land doch gleich in Brand, liebe Mitbürger, dann haben alle was davon.


Ich glaube: Rassismus braucht keine Strukturen, kein System. Etwas anderes zu behaupten ist meiner Meinung nach entweder kurzsichtig oder eine bequeme Ausrede, um sich nicht eingehender mit Rassismus und Xenophobie - auch der eigenen - befassen zu müssen.


Wie der Antisemitismus kennt auch Rassismus mehr als eine Ausdrucksform. Und vor Blödheit ist keine Hautfarbe gefeit. Das sehe ich ja an Homosexuellen, Juden, Ausländern und People of Color, die sich für rechte Parteien stark machen. Denken die denn wirklich, dass sie von diesen Hetzern je als gleich anerkannt werden? Eine Alice Weidel ist für die AfD doch nur die nützliche Idiotin, die solange geduldet wird, bis die Partei an die Macht kommt. Man benutzt sie um toleranter dazustehen als man ist. Sobald sie nicht mehr gebraucht wird, fallen die Masken. Dann kann Frau Weidel sehen, wie loyal ihre Parteigenossen ihr gegenüber wirklich sind. Die Frau scheint intelligent; aber Intelligenz allein schützt bekanntlich niemanden vor dummen Ideen oder Weltanschauungen. Oder sie ist sich ihrer Situation sehr wohl bewusst und nutzt ihrerseits die AfD aus. Eine alte Politikertaktik: erst abservieren, wenn sie ausgedient haben. Selbst wenn sie dem eigenen Weltbild eigentlich widersprechen. Fanatiker haben nun mal keinen Funken Integrität im Leib. So oder so - die Herrschenden und Mächtigen fressen sich seit jeher gegenseitig. Das war schon immer so, warum sollte es bei der Alternative für Deutschland anders sein?


BRIEF AN DIE GESELLSCHAFT

Wenn ich der Gesellschaft etwas sagen könnte, wäre es das:


Ich hatte nie das Gefühl, ein Teil von dir zu sein.
Ich wollte ja zu dir gehören, aber du hast mich immer als etwas böses betrachtet und abgestoßen. Und ich habe nie verstanden, wieso. Wenn ich mich als Kind vor den Spiegel stellte, habe ich immer nach möglichen Gefahren gesucht, die von mir ausgehen, aber letztlich immer nur ein Kind gesehen wie alle anderen. Mittlerweile fühle ich mich dir vollkommen entfremdet. Nicht, dass wir uns je besonders nahe gestanden hätten.
Vielleicht sollte ich "ihr" statt "du" sagen, aber da ihr seid alle gleich seid, macht das keinen Unterschied.
Für mich bist du nur eine formlose Masse oder ein monolithischer Block, ohne eigene Gedanken, ohne eigenen Willen. Ein seelenloses, amorphes Ding, das alles zerstört und erstickt, was sie nicht kennt. Du kommst in unzähligen Gestalten daher, mit so vielen Namen, Gesichtern und Identitäten und doch hast du keine eigene Persönlichkeit. Egal, wie du heißt, egal, wer du glaubst zu sein, du machst keinen Unterschied.

 
Deine Einzelteile sind nur assimilierte Drohnen, bloße Avatare. Du bist wie ein schwarzes Loch, in dem jede gottgegebene, natürliche Individualität verschwindet. Du bist ein Vampir, der alle Schönheit und Freiheit aus den Kindern der menschlichen Rasse saugt, bis nur noch leere, tote Hüllen übrigbleiben, vollkommen unterschiedslos zu deinen anderen Opfern. Die Überreste, die das Trauma der  Sozialisierung  überleben, gehen schließlich ihrerseits auf die Jagd, um alles von der Norm abweichende abzutöten. Wie in einem Zombie Film. Du verlangst von allen Menschen, so zu denken wie du, zu reden wie du, zu leben wie du. Du hältst dich für den Maßstab aller Dinge, du maßt dir an, zu entscheiden, was richtig und falsch ist. Was du nicht kennst und verstehst, muss automatisch schlecht sein. Auf die Idee, dass DU schlecht für andere sein könntest, kommst du nicht. Denn dafür fehlen dir Demut, Rückgrat, Reife und Selbstreflexion. Wenn jemand an deinen endlosen Forderungen kaputt geht, fragst du nicht "welchen Anteil habe ich am Leid dieser Person? ", obwohl sie ein Teil von DIR ist und du von IHR. Wenn jemand seine Schulkameraden abknallt, suchst du die Schuld ausschließlich beim Täter, oder bei dessen Eltern, aber niemals bei DIR, obwohl DU ihn mit erzogen hast, er in DEINEM System mit DEINEN Wertvorstellungen aufgewachsen ist, die DU ihm aufgezwungen hast. Dass das Blut Unschuldiger daher auch an deinen Händen klebt, kommt dir in deiner Selbstherrlichkeit nicht in den Sinn. Geschweige denn dass du überhaupt falsch liegen könntest. In dir gedeihen Hass, Krankheit, Zerfall, Fanatismus und Tod. Dank dir sind die Psychiatrien voll mit Menschen, die deinem Stechschritt nicht mehr folgen können ohne durchzudrehen. Diese "Abtrünnigen" werden von dir nun misstrauisch beäugt. Sie sind nicht mehr normal genug für dich und stellen in deiner ignoranten Weltanschauung eine Gefahr dar; denn alles was du nicht kennst macht dir Angst. 


Und um damit fertig zu werden erstickst du potenzielle Freigeister so früh es geht. Kindergarten, Schule, Medien. Wie der griechische Titan Cronos, der seine göttlichen Kinder verschlingt, um zu verhindern, dass er seine Macht verliert. Doch irgendwann wird dir genau das passieren. Du wirst immer kränker und zerfällst von innen heraus. Wenn du weiterhin alles tötest und auffrisst, das dir Angst macht, wirst du zerbrechen. Denn dank dir werden immer mehr Menschen krank und nicht mehr stark und leistungsfähig genug um dein morsches, poröses Skelett zu tragen. Du, liebe Gesellschaft, bist ein Ungeheuer, gebaut aus Menschen. Die Unterschicht bilden deine Füße und Beine. Die werden unter der Last deiner Anforderungen als erstes zerbrechen. Danach bist du schon so gut wie erledigt, denn die Armen, Kranken und Schwachen bilden mittlerweile den Großteil deines Körpers. Gegenwärtig werden deine Beine immer länger und länger und bislang ist kein Ende des Wachstums in Sicht. Danach zerreißt es den Rumpf in deiner Mitte, aber von der ist ja ohnehin nicht mehr viel übrig. Die Reichen und Mächtigen bilden den Kopf unserer großen Nation. Kann ein Kopf ohne Körper weiter existieren? 


Was sollen Politiker denn machen wenn das Volk nur noch aus Kaputten und Kranken besteht? Etwa selbst arbeiten? Das wäre das erste Mal in der Menschheitsgeschichte. Das können die doch gar nicht. Ein Bundeskanzler oder eine Außenministerin würde auf dem ersten Arbeitsmarkt doch keine drei Wochen aushalten, geschweige denn auf dem zweiten. Müsste ein  Finanzminister mit einem Hartz Vier Empfänger tauschen und vom Jobcenter eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme aufgedrückt bekommen, die gerade mal reicht, um sich das Geld für eine Monatskarte für den Bus zu verdienen - der würde doch nach wenigen Tagen auseinander fallen. Oder an einer Ein - Zimmer Wohnung im Brennpunkt statt der Berliner Prachtvilla. Am Magergehalt für den Knochenjob statt dem sechsteiligem Konto für's diskutieren im Bundestag. Kleidung vom 1€ Laden statt megateurer Anzüge. Vielleicht realisiert ein Machthaber erst so, dass Brot und Spiele nicht alles sind. Aber selbst wenn, würde die gewonnene Erkenntnis nichts mehr bringen. Seine Amtskollegen würden ihn lachend mit einem Tritt ins Gesicht in die Unterschicht zurück treten.
Der Kopf der Bestie weiß nichts über den Zustand des restlichen Körpers und wird vom Virus der eigenen Ignoranz gefressen.

 
Du magst normal sein, Gesellschaft, aber ganz richtig im Kopf bist du nicht. Doch das siehst du nicht. Du bist weiterhin blind für den Hass und den Zerfall, den du säst. Weiterhin redest du dir ein, dass alles okay ist solange du nicht aus dem eng gesteckten Rahmen fällst, diesem geistigen Gefängnis, dass du dir geschaffen hast.
Aber wenn jemand deinem Normativ- Wahnsinn Gegenwehr leistet und nicht spurt, reagierst du aggressiv. Mehr kannst du nicht. Das ist alles, was du gelernt hast. Unterdrückung, Absorption, Verzehrung.

 
Dabei wäre das, was du als richtig und wertvoll erachtest, in einer wirklich zivilisierten Welt vielleicht völlig verpönt. Du magst dich für normal halten, doch woanders würdest du als vollkommen abartig, widerwärtig und bekloppt gelten. Man würde dich beschimpfen, alles an dir in Frage stellen, anspucken, durch die Straßen jagen und verprügeln. Heißes Blut läuft aus deiner zersplitterten Nase während du dich heulend in einer Ecke verkriechst. Jeden Tag hast du Angst vor anderen Menschen und dem, was sie dir antun könnten. Jeden Tag bist du angespannt, rund um die Uhr, in Erwartung des nächsten Schlags, des nächsten Spruchs, der nächsten Beschimpfung. Menschen tuscheln jetzt nicht mehr einfach auf der Straße, sie tuscheln über dich. Sie sitzen nicht mehr einfach hinten im Bus und reden, sie sitzen im Bus und reden über dich und dass du behindert aussiehst, wie der letzte Spast, Digga. Ein Mädchen mit Handy am Ohr steigt ein, sieht dich kurz an und sagt: "Boah, ich hab' grad' Scheiße gesehen.“ Wildfremde rempeln dich auf der Straße an oder beschimpfen dich. Leere Bierdosen fliegen dir an den Kopf. Wenn du Pech hast, auch volle.
Tag für Tag. Wieso, fragst du dich, was habe ich denn getan? Warum behandelt man mich so scheiße?
Weil du anders bist.
Naja, nicht wirklich.
Aber dass du ausgefallene Klamotten trägst, ein paar Pickel im Gesicht hast oder eine schief geschnittene Frisur reicht den meisten schon, um dich zu behandeln wie einen Sexualstraftäter.
Ja, tatsächlich! Mehr braucht es nicht!
Würde dir das gefallen?
Nein, das dachte ich mir.
Und warum tust du dann anderen an?
Ah. Ist zu hoch für dich, verstehe.
Schon okay. Du bist die Gesellschaft. Dich in die Lage derjenigen zu versetzen, die du verachtest, liegt nun mal nicht in deiner Natur.
Du brauchst das offenbar zum Leben
Selbsthass säen, Vielfalt ermorden, Menschen in den Selbstmord treiben... Flexibilität und Empathie sind nicht so deins. Das wissen wir ja alle. Oh, du sagst, wir sind vielfältiger als jemals zuvor? Kommst du mir jetzt mit Menschenrechten, Antisemitismus - Verbot und Quoten am Arbeitsplatz für LGBTQ+? 

Schön für dich. Und wie aufrichtig meinst du das? Ach, was, wirklich? Nun, davon lässt du dich nicht vom Schikanieren von Randgruppen und Außenseitern abhalten, oder? Dann lenkst du deinen Vergewaltigungstrieb eben auf irgendjemand anderen. Randgruppen gibt es schließlich genug. 


Und Leute, die dich in Frage stellen, wird es immer geben. Und das erträgst du nicht. Alles das anders ist als du, nimmst du als Feind war, statt es als interessant oder als Bereicherung deiner Welt zu betrachten. Sag mal, Gesellschaft, bist du denn so schwach, dass du Vielfalt nicht erträgst? Du hast doch gerade verschiedene Beispiele für deine große Offenheit genannt. Und? Schon dran kollabiert?
Du bist ein einziger, großer Widerspruch.
Du pochst so sehr auf das Normale, das du als natürlich hinstellst und gleichzeitig verstehst du nicht, dass sich das Leben abertausende von Ausdrucksmöglichkeiten sucht. 

Unschuldige Menschen, die einfach nicht in die Schubladen passen, die du für sie gezimmert hast. Denn der Mensch - und damit die Natur an sich - ist so komplex und facettenreich, dass bereits in einem Kleinkind die ganze Weltbevölkerung veranlagt ist. Vom Kindermörder bis zum Kinderarzt, vom Kriegstreiber bis zum Friedensstifter, vom Industriemagnat bis zum Retter der Umwelt - alles potenziell bereits da. Wir haben bei unserer Geburt die ganze humane Spannbreite von Buddha bis Hitler. Und trotzdem willst du, die Masse, lieber uniforme Mono- Menschen. Dabei erschaffst du zunehmend emotionale Krüppel anstelle positiver und gesunder Leute. Unser Leben ist von Selbstzerstörung statt liebevoller Kreativität geprägt. Wir verschwenden unser Leben, dabei könnten wir genauso gut das Leben von anderen bereichern. Aber dazu fehlt uns die Kraft, denn sie wird bereits von destruktiven Emotionen und Gedanken aufgezehrt. Gedanken voller Ablehnung, Hass, Wut und Todeswünschen, auf uns selbst oder andere gerichtet. Manchmal setzen wir diese Gedanken in die Tat um. 


Und wer bringt uns bei, so zu denken?


Hauptsächlich DU. 


Dazu benutzt du die Avatare von Eltern, Mitschülern, Polizisten, Medien, Politikern und vielen mehr. So erzählst du jedem von Tag Eins an, dass wir nur dann gut und vollwertig sind, wenn wir so sind wie DU es willst. Solange wir uns auf die selbe Weise anziehen, verhalten, unterhalten und berieseln lassen wie DU, solange sind wir gut, geliebt, wertvoll. Solange wir glauben, was DU glaubst, lieben, was du liebst und fürchten was du fürchtest, gehören wir zu dir. Mit dieser Doktrin speist du uns ab solange wir unschuldig sind. Aber weichen wir von deiner Lehre ab, schließt du uns aus der pseudoparadiesischen Gemeinschaft aus und wir vegetieren in der Einöde sozialer Einsamkeit.

Wie eine Schlange flüstert du uns deine giftigen Worte ein und verkaufst uns falschen Schein als Licht, damit wir blind bleiben und dir folgen wie Schafe. Als lebende Tote wandeln wir durchs Dasein und suhlen uns in der Verdammnis in unseren Köpfen. 


Dabei realisieren wir nicht, was für Perlen wir sind. Nein, stattdessen brechen immer mehr von uns unter DEINEM  Anpassungsdruck zusammen. Irgendwann wird der Druck unerträglich, er tut weh, fast als bekäme man Nägel eingetrieben. Schließlich werden jene, die der Schmerz am härtesten schlägt, zu Bestien. Als Legionen zerbrochener, leerer Hüllen durchwandern sie die Wüste ihres Daseins, auf der ewigen Suche nach Erlösung. Verdammte Seelen, die ihren göttlichen Funken nie in ein strahlendes Feuer verwandeln konnten. Denn vorher kamst DU und hast den Funken gelöscht.

 
Doch bist du ebenso blind wie wir. Denn du hast Angst. Wovor vermag ich nicht zu deuten, denn der Ursachen sind viele. Vielleicht sollte man dir deine Frevel an der Schöpfung verzeihen. Denn du weißt nicht, was du tust.


... (unleserlich) 

Einer der größten Denkfehler der Menschheitsgeschichte ist zu glauben, dass anders automatisch schlecht ist. Nun ist nicht alles fremdartige auch automatisch gut. Wir wären wohl kaum über das Stadium des Höhlenmenschen hinaus gekommen, wenn wir alles und jeden ohne jede Vorsicht in unser Rudel aufgenommen hätten.

Es gibt Vorurteile und es gibt Urteile. Und die meisten wissen das eine nicht vom anderen zu unterscheiden. Vorurteile haben wir alle. Ein gutes Beispiel hierfür ist Migrantenpanik, die Furcht vor männlichen Einwanderern, meistens aus dem Nahen Osten. Wenn wir in Deutschland nachts allein durch die Straßen gehen und uns kommt eine Clique arabisch sprechender Migranten entgegen, springt bei den meisten von uns sofort der innere Alarm an und mahnt uns zur Vorsicht. Schließlich hört und sieht man ja soviel schlimmes. Die innere Alarmanlage warnt in so einem Fall: Achtung, pass auf dich auf, die KÖNNTEN gefährlich sein.


Eben. KÖNNTEN.


Sie müssen aber nicht. Deshalb heißt es ja auch VOR - Urteil. Ein Mensch dagegen, der das Frühwarnsystem überspringt, denkt gleich:

Achtung, pass auf, das sind Ausländer, die SIND garantiert gefährlich.


Das Urteil ist also längst gefällt, unabhängig vom realen Ausgang der Situation. Man macht sich nicht die Mühe, sein Vorurteil zu hinterfragen oder zu überprüfen, sondern geht gleich zum Urteil über, indem man 'dem anderen' gar nicht erst zutraut, friedlich, ungefährlich und gleichwertig zu sein.

Seltsamerweise sind die 'eigenen Leute' nie Vergewaltiger, Raubmörder, Diebe oder Abzocker. Doch nicht die braven, guten Deutschen! Wo denkt ihr denn hin?


Nur weil etwas fremd ist, heißt es nicht, dass es automatisch schlecht ist. Es ist aber auch nicht automatisch gut. Und nur, weil man etwas kennt, ist es nicht automatisch gut. Was der Bauer nicht kennt, isst er nicht, heißt es. Aber mal angenommen, der Bauer hat zuhause nur Dung zu essen. Mal etwas anderes zu probieren wenn sich die Gelegenheit bietet, wäre daher nachvollziehbar, nicht?


Man geht immer ein gewisses Risiko ein, wenn man sich auf neues einlässt. Neue Ideen, neue Arten von Menschen. Ob man das Wagnis eingeht, muss jeder für sich selbst abwägen.


Aber jemanden abzulehnen, nur weil er anders ist, oder weil alle anderen es tun, ist einseitig und eine Beleidigung der eigenen Intelligenz. Es beweist zudem, wie unmündig die meisten Erwachsenen tatsächlich sind. Natürlich kann es auch nach hinten los gehen und zum Desaster führen. Aber dieses Entweder - Oder Denken, das unsere Gesellschaft kennzeichnet, ist selbstschädigend. Wo ist das Differenzieren, wo der Ausgleich? Sich nämlich komplett allem fremdartigen zu verschließen führt irgendwann zwangsläufig zu Stagnation. Und in der Natur führen Stagnation und ein Mangel an Anpassung zum Tod. Hätten die neolithischen Jäger -und Sammler Stämme sich immer gegenseitig gemieden würden die Europäer heute gar nicht existieren. Hätten sich zu Da Vincis Zeiten alle gegen alles neuartige gesperrt, wir wären heute noch immer auf dem Stand des fünfzehnten Jahrhunderts.

Eine Gesellschaft besteht aus Individuen. Ohne Individuen kann eine Gesellschaft nicht bestehen. Und manche Individuen müssen geistig, menschlich und spirituell einfach herausragen um uns den nötigen Impuls, den nächsten Kick nach vorne zu geben. Einstein, Da Vinci, Copernicus, Hawking, Darwin. Alles Sonderlinge. Van Gogh. Stets verkannt, nie richtig verstanden. Wo wären wir heute, wenn diese „Abnormalen“ nicht gewesen wären? Und wo wären wir heute, wenn wir nicht ständig jeden ersticken und zwangsnormalisieren würden, den wir nicht verstehen?

Eine Gesellschaft, in der alle nur konform sind, ist wie eine Tierherde, die nur Inzucht praktiziert: unnatürlich, degeneriert und langfristig nicht überlebensfähig.


Die Klapsen sind mittlerweile rammelvoll mit Leuten wie mir. Viele davon sind in meinem Alter. Diese ganzen Diggas kriegen beim sprechen kaum die Zähne auseinander, kleben an ihren Handys wie die Zombies, schütten sich zu und lassen sich das Hirn vom Fernseher grillen, um sich nicht miteinander beschäftigen zu müssen, oder mit sich selbst. Das ist meine Generation. Und wenn die ihre Kinder zu emotionalen Krüppeln heranzieht, muss man vor der nächsten und übernächsten ja richtig Angst haben.


Ich habe so viele Leute getroffen, deren Selbstwertgefühl von der Gesellschaft zerstört wurde, dass ich mich frage, wo die Grenzen liegen. In einem natürlichen sozialen Netzwerk wie der Menschheit, in der jedes Individuum durch seine Handlungen die gesamte Gruppe beeinflusst, wo endet die Verantwortung des Einzelnen und wo beginnt die der Gruppe und umgekehrt? Heutzutage heißt es überall, "Du und nur du allein bist verantwortlich für dein Leben." Obwohl das nicht falsch ist, vernachlässigt es meiner Meinung nach den Effekt, den die Sozialisierung auf das hier angesprochene „Du“ hast. Oder kurz gesagt: wenn du kaputt bist, trifft die Gesellschaft eine Teilschuld. Es ist zwar immer der Amokläufer, der entscheidet, zu töten; aber es ist oft genug die Gesellschaft, die ihn dahingehend beeinflusst. Immer wieder liest man es, dass Amokläufer, Serienmörder und andere Gewalttäter ein schiefes Weltbild haben, weil sie aus dysfunktionalen Familien stammen oder gemobbt wurden. Natürlich lässt sich nichts davon verallgemeinern. Aber die Häufigkeit mit der uns diese Dynamik begegnet, sollte uns dennoch zu denken geben.


Wir erhalten mit unserer überzogenen Normalisierungs - Mentalität einen Status Quo aufrecht, der einzelne Mitglieder unserer Gesellschaft seelisch kaputt macht und Gewalt, Hass und Wahnsinn schürt. Tendenz steigend. Dazu kommt die Austauschbarkeit in der Arbeitswelt, die uns zunehmend das Gefühl gibt, unwichtig, wertlos und ersetzbar zu sein. Wer den immer härteren Anforderungen nicht standhalten kann, hat nur wenige Optionen: gefeuert werden, kündigen oder gesundheitlich vor die Hunde gehen. Kapitalismus und Gier sind nicht gerade die Freunde der psychisch Erkrankten.


Nur gut, dass niemand diese Notizen liest. Ich glaube nämlich nicht, dass jemand sie verstehen würde. Ich frage mich manchmal, wie die Normies reagieren würden, wenn sie in einer Welt aus Individuen aufwachen und von denen diskriminiert werden würden. Würden sie dann verstehen und nachempfinden können, wie sich das anfühlt? Hätten sie dann einen Aha - Moment, a la "Oh wow, DAS tue ich den Spinnern an? Wie schrecklich! Ich fühle mich furchtbar!“ Wahrscheinlich nicht. Dafür sind sie nämlich zu blöd. Und die Ironie dahinter ist, dass die Individuen, die zuvor Außenseiter waren, sich nun im Mob zusammen tun und nun ihrerseits zu Unterdrückern und Normies mutieren würden.

Ja. Ich schätze, ich bin auch nicht besser. Nur ein Mensch. Ein dreckiger, ekelerregender, intoleranter Mensch. Arrogant. Hochmütig. Ausgrenzend. Was macht mich denn besser als den faschistischen Abschaum, der mich kaputt gemacht hat? Bin ich nicht genauso ignorant und selbstherrlich wie das aggressiv glotzende Lumpenpack auf den Straßen, dass jeden, der nicht der Norm entspricht, am liebsten auf dem Scheiterhaufen verbrennen würde?


Ich schätze, ich muss es akzeptieren, dass die Menschen hoffnungslos grausam sind und davon leben, einander zu foltern, zu diskriminieren und auszugrenzen. Allein deswegen schon haben wir alle den Tod verdient, und er wird kommen, früher oder später. Ich würde mir eine Welt wünschen, in der nur Charakter zählt; kein Glaube, keine Mode, keine Hautfarbe. Nicht die Wahl unserer Partner, oder wie wir leben. Nur das, was im Herzen ist. Doch dafür sind wir ganz offensichtlich zu menschlich.

 (Hier endete der Text. Es waren noch ein paar leere Seiten im Buch und es war unersichtlich, ob der Text zu Ende war oder der Verfasser unterbrochen worden war.) 


********


Mike legte das Notizbuch zur Seite und atmete tief aus. Was er die letzten paar Tage über gelesen hatte, war überaus anstrengend, fordernd, widersprüchlich und an manchen Stellen schlichtweg absurd gewesen. Und ich dachte, ICH hab Probleme, schoss es ihm durch den Kopf. Wer immer dieser Serious Fakt war - falls er denn überhaupt so hieß -, er hatte sein Erleben sehr eindrucksvoll und plastisch beschrieben. Zwar waren viele Passagen wirr und offenbar nur für Fakt vollkommen verständlich gewesen, aber auf eine verstörende Weise unterhaltsam. Mike fand jedenfalls, er hatte schon schlechteres gelesen. Bisweilen hatten ihn die menschenfeindlichen Ansichten schockiert, die ihm auf ihre einseitige Art unreif, kindisch und schlicht unrealistisch erschienen. Gleichzeitig erinnerte sich Mike daran, es hier mit den geistigen Ergüssen eines Mannes zu tun zu haben, der nach eigener Aussage weitgehend isoliert und einsam aufgewachsen war und in seinen prägenden Jahren wenig soziale Kontakten gehabt zu haben scheint. Wurzellos, ohne die Möglichkeit, anhand von Freunden die wirkliche Welt zu erfahren und zu sehen, dass die Gesellschaft nicht radikal schwarz - weiß ist, war er vermutlich gezwungen, sich seine notwendige Orientierung selbst zu suchen. Etwas, bei dem ihm die Gesellschaft hätte eigentlich helfen sollen. 


Mike war sich unsicher, wie ernst er diese Aufzeichnungen nehmen sollte. Waren es überhaupt wirkliche Erlebnisse? War Serious Fakt real? Oder handelte es sich hier um das unfertige Manuskript eines exzentrischen Hobby Schriftstellers? Doch dafür war der Stil zu verworren, zu persönlich, und die zahllosen Fehler, Widersprüche und Unstimmigkeiten entsprachen nicht der geordneten Art und Weise einer Geschichte. Aber spielte das überhaupt eine Rolle? Die enorme Negativität und Verbitterung in diesen Zeilen sprach für sich und beflügelte seine Gedanken. Ja, dachte er, vieles von dem was er schreibt, ist eigentlich gar nicht so falsch. Wir sind tatsächlich sehr ignorant und unfreundlich gegenüber anderen. Es ist bequem, in vertrauten Bahnen zu denken und dabei die zu missachten, die uns fremd und komisch erscheinen. Wie oft hab ich mich schon in der Kneipe in geselliger Runde über andere lustig gemacht, sie vor anderen Mannsweiber, Neger und Teppichflieger genannt? Oder über unser Original, wenn er laut telefonierend in seinem grünen Kleid über den Marktplatz spaziert? Spinner, dachte ich dann, und hab ihm den Vogel gezeigt oder mit dem Finger auf ihn. Aber wieso eigentlich? Darüber denke ich normalerweise nicht nach. Was tun mir Leute wie unser Original denn, oder Mädels, die rumlaufen, als ob sie gerade von einer schwarzen Messe kommen?

Gar nichts.. 

Und ich mache mir nie Gedanken darüber, was ich in ihnen auslöse, wenn ich sie schief von der Seite angucke. Oder sie, ja, Transen oder Neger nenne.


Er warf erneut einen Blick auf das Notizbuch.

Und hier ist nun einer, der das gar nicht anders kennt. Der jedes mal wegen... ja, wegen unwichtiger Kleinigkeiten von allen angestarrt wird als ob er grade den dritten Weltkrieg ausgelöst hätte. Angestarrt.

Von Leuten wie mir.

Und wieso eigentlich?, fragte sich Mike in Gedanken.

Ich habe keine Antwort darauf.

Es ist einfach so. Wer komisch ist, erntet halt schiefe Blicke.

Aber vielleicht liegt hier das Problem, dachte er. Dass wir nie drüber nachdenken. Denn wir gehen selbstverständlich davon aus, dass unser Richtig und Falsch allgemeingültig ist. Und alles, was da, nicht rein passt, ist für uns automatisch bedrohlich.

Sind wir als Gesellschaft echt so schwach, dass wir ein bisschen Vielfalt nicht aushalten?

Und nun ist hier einer, der schreibt, wie es sich für ihn anfühlt. Was es mit einem macht, immer ausgegrenzt zu werden. Dabei ist nicht wichtig, ob das alles stimmt, was er behauptet; das tut es definitiv nicht. So schlecht sind die Menschen nicht. Aber es zeigt, wie kaputt man im Kopf werden kann, wenn man ständig nur zu hören kriegt, dass man nicht richtig ist. Da kommt man sich schon vor, als ob die Leute einem das Existenzrecht absprechen.


Mike war beeindruckt von dem Notizbuch und beschloss, es zur nächsten Sitzung mit seiner Ärztin zu nehmen. Er sah auf die Uhr. In zehn Minuten war er dran. Er stieg aus dem Bett, machte sich fertig, nahm das Notizbuch mit und ging zum Flur hinaus.

* * * * * *


Die Ärztin zeigte sich aufrichtig interessiert, als Mike ihr das Notizbuch in die Hand drückte. "Ich hab es die letzten paar Tage durchgelesen. Ziemlich verrücktes Zeug.", sagte Mike. „ Serious Fakt ", las die Therapeutin, bevor sie die Seiten durch blätterte und das darauf geschriebene überflog. Mike sah wie sich ein Schmunzeln über ihr Gesicht legte. „Kennen sie ihn?", fragte Mike. Sie er blickte auf. "Nun, äh, das kommt mir bekannt vor. Ich glaube, ich weiß, wer das geschrieben hat." "Hieß der wirklich Serious Fakt?", fragte Mike. "Das weiß ich nicht mehr, tut mir leid. Und das sage ich nicht nur wegen der Schweigepflicht.", erwiderte die Ärztin, während sie weiterhin im Notizbuch blätterte. "Ist schon 'ne Weile her", fügte sie leise hinzu. Mike meinte, den Ansatz eines Lächelns in ihrem kantigem, strengen Gesicht zu sehen. "Schien ein schwieriger Mensch gewesen zu sein.", sagte er. "Ja, so ganz ohne war er nicht.", antwortete sie. "Das war ein ziemlich eigener Kopf, könnte man sagen. Aber von denen haben wir ja so einige hier." Mike schwieg und sah nachdenklich zum Fenster raus. "Warum interessiert sie dieser Mensch so?" "Ach, ich... hab mich nur gefragt, was wohl aus ihm geworden ist." Die Frau zuckte nur mit den Schultern. "Kann ich ihnen nicht sagen." "Die Schweigepflicht?" "Die Unwissenheit. Manche Patienten kommen immer wieder. Der hier nicht. Aber reden wir nun über ihren weiteren Aufenthalt."


Mike blieb insgesamt 6 Wochen in der Klinik. In dieser Zeit beschäftigte er sich viel mit sich selbst, den möglichen Gründen für das Scheitern seiner Ehe, und wie es weitergehen sollte für ihn. Er stimmte einer Weiterbehandlung im Rahmen einer Kur zu. Zudem dachte er über eine Umschulung nach; wirklich zufrieden war er in seinem Beruf schon seit einigen Jahren nicht mehr.

Am Tag seiner Entlassung war schönes Wetter. Es war ein schöner Morgen und das Licht schien warm und freundlich in sein Zimmer. Als er seine Sachen packte und sein Nachtschränkchen ausräumte, holte Mike wieder das verschlissene Notizbuch hervor. Er hatte sich seit dem Gespräch mit der Psychiaterin nicht mehr damit beschäftigt. Doch jetzt überlegte er, es mit nach Hause zu nehmen. Technisch gesehen war es ja kein Diebstahl und niemand konnte Anspruch darauf erheben, oder?

Dann packte er es ins Nachtschränkchen zurück. Es schien besser, es für den nächsten hier zu lassen, der hier rein kam. Sein Handy surrte. Eine Nachricht von Britta, dass sie sich verspäten würde. Sie wäre in einer Stunde da. Er könne sich also ruhig Zeit lassen.


Nachdem er die Station verlassen hatte, ging Mike zum Bäcker im Erdgeschoss um einen Kaffee zu trinken, während er auf seine Schwester wartete. Als er die anderen Gäste beobachtete, fragte er sich, ob sie ihn wohl schief ansehen würden, wenn sie wüssten, dass er gerade frisch aus der Klapsmühle kam. Und wie viele von ihnen mochten wohl schon selbst drin gewesen sein? Wie normal mochten die alten Leute hier wohl sein, oder die Eltern mit dem quängelnden Jungen im Kinderwagen? Der ältere, nach Geschäftsmann aussehende Herr schräg gegenüber. Bekloppter, Exzentriker, oder einfach nur etwas eigenwillig? Oder war er bloß zu Schubladendenken fähig?

Spielte das denn überhaupt eine Rolle? Mike schüttelte den Kopf, so, als befände er sich in einer Unterhaltung. Nein, dachte er. Es ist vollkommen egal. Denn Normale oder Unnormale gibt es nicht. Wir sind alle gleich und gleichzeitig verschieden. Wie die Blätter an einem Baum. Jedes einzelne ist einzigartig und gleichzeitig eindeutig dem einen Baum zuzuordnen. Muss man nicht verstehen. Manche Dinge sind, was sie sind. Er sah auf die Uhr. In zehn Minuten würde Britta draußen mit ihrem Wagen stehen. Als er seine Jacke anzog, fragte er sich, was wohl aus Serious Fakt geworden sein mochte. Mike hoffte, dass es ihm gut ging. Er nahm den Koffer und trat nach draußen in den Sonnenschein.






Anmerkung von Milta_Svartvis:

Es ist ein Entwurf. Ihr müsst mir also nicht sagen, dass er voller Fehler ist. ;)

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