Tod nach Plan

Kurzgeschichte

von  Redux

Es war klar, dass so ein Brief per Einschreiben verschickt würde. Per Einschreiben mit Rückantwort. Nichts ahnend leistete ich dem freundlich lächelnden Postboten die erforderliche Unterschrift und nahm das Schriftstück entgegen.
Der Inhalt bedeutete zusammenfassend in etwa Folgendes: Jetzt am Freitag gegen 16 Uhr 30 solle ich sterben; die große Reise könne beginnen.Nun war hinlänglich bekannt, dass dieses Ereignis eintreffen musste. Allerdings war ich nicht auch nur annähernd darauf vorbereitet, traf es mich doch in einer Phase größter Geschäftigkeit.
Während die Strahlen der untergehenden Abendsonne schräg in mein Zimmer fielen und den Raum mit goldenem Licht erfüllten, flitzten hundert verschiedene Gedanken durch meinen Kopf, welche sich gegenseitig trafen, kreuzten und verschlangen, so dass es mir schwer fiel, auch nur einen einzigen davon festzuhalten und zu überdenken.
Ich dachte an einen Plan, den ich mir kurzfristig ausarbeiten müsste, um ihn dann sinnvoll und systematisch abzuarbeiten; säuberlich auf die mir noch verbleibenden Stunden müssten die notwendigen Aktionen verteilt werden, damit alles seinen Gang gehen könnte. Dann fielen mir jedoch immer wieder neue Dinge ein, die abschließend nicht vergessen werden durften: mindestens neun Abschiedsbriefe sollten noch an all Jene, die mir wichtig waren, geschrieben werden, der Sarg müsste bestellt und mein Begräbnis arrangiert werden, die Druckerei müsste Totenzettel und Einladungen zur Trauerfeier herstellen – überschlägig zählte ich rund vierzig Personen, die ich benachrichtigen müsste – der Grabstein sollte beim Steinmetz in Auftrag gegeben werden…
Noch ehe ich diese Punkte sinnvoll ordnen und planen konnte, traten neue, wichtige Entscheidungen zu Tage: die Verwaltung von Konten, Daueraufträgen, Einzugsermächtigungen etc…
Über diese plötzlich auftretenden Probleme wurde es stockfinster.
Ich machte Licht, trat an das Fenster und sah mich an.

Zeitig stand ich am nächsten Morgen auf.
Die noch tief stehende Septembersonne verhieß einen goldenen Herbsttag. Im Vorgarten hüllten mit Tau benetzte Spinnfäden meine Rhododendren und Lavendelsträucher ein. Aber noch bevor ich jenes Bild verinnerlichen konnte, liefen meine Gedanken schon in die Bahn des prall an Pflichten gefüllten Tages ein.

Am Abend zog ich Bilanz und war, obwohl noch Vieles unerledigt liegen geblieben war, recht zufrieden mit der Abarbeitung notwendiger Tätigkeiten. Mein Konto hatte ich zum Freitag gekündigt, die Zeitung war abbestellt worden, für übermorgen hatte ich einen Notartermin vereinbart, um die Nachlassverwaltung zu regeln. Mein Grabstein war bestellt; ich hatte einen einfachen, schwarzen Granitblock bestellt, der lediglich meinen Namen tragen würde.
Zwei Briefe an weiter entfernt wohnende Bekannte hatte ich verfasst; der Text war ernst und sachlich geschrieben und beschränkte sich auf das Wesentlichste.

Am nächsten Tag gab ich mein Zwergkaninchen in eine Tierhandlung. Ich erhielt 10€, die ich in der Johanniskirche in den Opferstock warf.
Ich führte viele Telefonate, regelte einige Geschäfte, die seit geraumer Zeit auf ihren Abschluss warteten, und konnte am Abend, während ein schwerer Platzregen niederging, recht zufrieden den noch kommenden achtundfünfzig Stunden entgegensehen.

Früh, gegen sechs Uhr dreißig, stand ich auf und die erste Morgendämmerung verscheuchte das Dunkel der Septembernacht. Ich trat aus der Tür und atmete tief ein: die Luft roch herbstlich und frisch.
Plötzlich, noch bevor jedwede andere Gedanken keimen konnten, drang die Erkenntnis in mir durch, dass ich nur noch achtundvierzig Stunden Zeit hatte, die noch anstehenden Verpflichtungen zu erledigen. Und ich verfasste im Laufe des Vormittags noch sieben Abschiedsbriefe an weitere Bekannte. Ich hatte mir dreizehn Uhr als Zeitpunkt des Abschlusses gesetzt und blickte zehn Minuten vor dreizehn Uhr stolz und erschöpft auf sieben säuberlich geschriebene und einkuvertierte Schriftstücke, die nur noch frankiert werden mussten.
Am Nachmittag folgte ein Behördengang dem anderen; abschließend am späten Abend blickte ich zufrieden auf ein sich lichtendes Feld, dass nun recht überschaubar gesäubert war von Erledigungen, mein Haus, meinen Beruf, mein ganzes äußeres Leben betreffend.

In der Nacht schlief ich einen schweren, traum- und erinnerungslosen Schlaf, um am Morgen frisch und ausgeruht den vorletzten Tag meines Lebens zu beginnen.

Der Tag verlief ruhiger als die vorangegangenen, emsig und gezielt erledigte ich jedoch weiterhin kleine und kleinste Dinge, auf die ich nach und nach aufmerksam wurde. Ich schnitt ein letztes Mal den Rasen, jätete Unkraut, unterzog sämtliche Räume einer soliden Grundreinigung, entsorgte nahezu alle Lebensmittel, führte mal dieses, mal jenes Telefonat, durchforstete noch einmal Kontoauszüge, Quittungen und Verträge; und gleichwohl ich mich in steter Geschäftigkeit bewegte, glitt eine seltsam erregende Ruhe durch meine letzten Stunden.
Am Abend blickte ich wieder durch das große Fenster hinaus auf die in erste Herbstnebel liegende friedliche Landschaft. Gesichtslos nahm ich die Konturen meines Kopfes in der Fensterscheibe wahr.
In der Nacht, weit nach Mitternacht, etwa zwölf Stunden vor meinem Tod, erwachte ich, und wurde, wie unsichtbar geleitet, vom Fenster, durch dass ich am Abend zuvor noch blickte, angezogen. Und dann glaubte ich Bilder zu sehen, winzige, lächerliche, unbedeutende Sequenzen aus meinem früheren Leben. Mehr noch: ich glaubte Gerüche zu riechen und Laute zu hören.
Plötzlich stürzte eine regelrechte Bilder- und Sinnenwelt auf mich ein: ich sah mich als Achtjähriger in einem Baumhaus, ich sah meine Mutter, wie sie am Kachelofen saß und einen Schal strickte. Und ich glaubte genau zu fühlen und genau zu wissen, welches Gefühl es bereitete, ihn um den Hals zu schlingen.
Ich sah mich mit Sarah, meiner großen Liebe, an einem Fjord in Norwegen. Wir aßen zuvor gepflückte Blaubeeren. Und ich glaubte in dem Augenblick den Geschmack der Blaubeeren zu schmecken. Ich sah Bild um Bild der ganzen weit zurückliegenden Jahre: ein Konzert der Rolling Stones, ich sah den Sarg meines Großvaters, der sich in die Tiefe der Erde senkte, und gleichzeitig glaubte ich Tränen zu vergießen. Nein- ich fühlte, wie ich Tränen vergoss.
Nach und nach stürzten seltsam kleine, vergangene Bildchen auf mich ein, stürzten durch mich hindurch und schienen jedes Mal einen unsichtbaren Schnitt zu hinterlassen. Eine Woge aus Schmerz und Freude schwappte durch meinen Körper und durch meine Sinne. Ich befand mich für ungewisse Zeit in einer phantastischen verzweifelt- wunderschönen Erregung, in einem Wechselbad sinnlicher Empfindungen, die gleichermaßen Schmerz und Freude bereiteten. Und während ich sinnend durch die Fensterscheibe blickte – dahinter lag pechschwarze Nacht – erkannte ich mich deutlicher denn je – und doch schien ich mir fremd.

Doch dann – die Uhr schlug genau vier Uhr – war alles wie nie gewesen.
Es war ganz genau der Moment, in dem mir der Holzrahmen des Fensters ins Auge fiel. Eine dicke Staubschicht lag darauf. Und ebenso auf allen anderen Fensterrahmen meines Hauses.

Die Fenster !!!
Sie zu putzen hatte ich vergessen !!!

Diese Erkenntnis öffnete meine Augen. Gleich Dominosteinen purzelten noch hunderte an Pflichten in mein Bewusstsein: den Keller hatte ich vernachlässigt, die Heizung war nicht gewartet worden, die Nachbarn hatte ich nicht mit dem neuen Eigentümer meines Hauses bekannt gemacht…
…es war, als öffnete eine neu entdeckte Pflicht eine weitere Pflicht, so wie eine soeben geöffnete Schublade eine weitere Schublade beinhaltete.

Und die Zeit rannte davon!

Getrieben und ohne Unterlass nutzte ich den vor mir liegenden Tag, um ein Ding nach dem anderen zu erledigen und abzuhaken. Beinahe ohne Bewusstsein wie eine im Gleichtakt arbeitende Maschine führte ich Telefonate, machte Besorgungen, besserte aus, putzte, setzte instand…

Am späten Nachmittag, erschöpft und leer, saß ich auf einem Stuhl gegenüber dem großen Fenster, und erwartete den Tod.
Ich fühlte genau den Augenblick, da er eintreffen musste .Aber in eben jenem Moment flog ein Einschreiben durch den Briefschlitz meiner Haustür und lag direkt zu meinen Füßen.
Ich öffnete das Schreiben – es war ohne Rückantwort verschickt worden – und man entschuldigte sich für das Schreiben der letzten Tage, welches wohl versehentlich erstellt wurde.

Demnach wäre ich schon seit einigen Jahren in eine Bahn des Todes eingelaufen und der vollständige Tod sei bereits heute Morgen gegen Punkt vier Uhr eingetreten.

Und wieder blickte ich durch das Fenster, durch mein Fenster, aber ich konnte mich nicht mehr erkennen.
Nie mehr.

Und rasend schnell begann es zu dämmern, rasend schnell wurde es Nacht.






Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Text


 Tula (25.02.24, 10:55)
Moin Redux
Wichtig bei all dem ist, dass die Post auch pünktlich kommt. 
Oder überhaupt ...  :ermm:

LG
Tula

 Redux meinte dazu am 25.02.24 um 14:36:
Nun, die Post, die der Protagonist erhielt, wäre nicht nach meinem Geschmack.

 LotharAtzert antwortete darauf am 25.02.24 um 14:55:
Was wäre denn nach deinem Geschmack, Redux?

 Dieter_Rotmund (25.02.24, 13:09)
Ein interessantes Thema, leider viel zu geschwätzig aufgezogen. Sorry, so gefällt das nicht!

 Redux schrieb daraufhin am 25.02.24 um 14:36:
Danke, Dieter Rotmund, für deine Einschätzung.

 Regina (25.02.24, 13:25)
Eine Frage, die sich jeder mal stellen könnte. Was muss ich vor meinem Tod unbedingt noch erledigen? Was möchte ich noch verwirklichen, was abmelden und wen kontaktieren und wer soll einst wissen, dass ich nicht mehr bin? Der Protagonist rast durch diese Aktivitäten. Dass am Ende ein Gegenimpuls kommt, war vllt. abzusehen, trotzdem spannend, die Bilderflut eine nahtodähnliche Rückschau. LG Gina

 Redux äußerte darauf am 25.02.24 um 14:38:
Danke, Regina, klar, das war abzusehen, das ein derartiges oder ähnliches Ende kommt, nach all der Geschäftigkeit.

 Graeculus (25.02.24, 13:39)
Ist ja irre! Wozu soll das alles noch wichtig sein, wo doch dem, der tot ist, nichts mehr wichtig ist?
Die (mir weitaus sympathischere) Gegenposition dürfte die des Diogenes von Sinope sein. Als ihn ein Bekannter fragte: "Du hast keine Frau, nicht einmal einen Sklaven ... wer wird dich aus dem Haus tragen, wenn du tot bist?", antwortete er kühl: "Derjenige, der das Haus haben will."

 Verlo ergänzte dazu am 25.02.24 um 13:46:
So sehe ich das auch, Graeculus.

Wobei ich hoffe, im Wald zu sterben, an einer Stelle, an der ich mich ungestört umwandeln kann.

Um meine vielen schönen Bücher mache ich mir mehr Sorgen. Nicht auszudenken, wenn sie im Papiercontainer entsorgt werden.

Antwort geändert am 25.02.2024 um 14:35 Uhr

 LotharAtzert meinte dazu am 25.02.24 um 14:25:
Dieser Kommentarstrang scheint mir wieder den Vogel abzuschießen, was das gesunde Wachstum betrifft. 

Wenn ich tot bin wird mir hoffentlich kein "Gottseidank" irgendwo rausflutschen. Aber wenns mein Karma ist.
Langer Redefluß endet im Meer der Geschwätzigkeit

Ums Tibetanische Totenbuch sorge ich mich harr harr ...

 LotharAtzert meinte dazu am 25.02.24 um 14:39:
"Ein deutsches Trio ist ganz oben" höre ich eben aus der Glotze" offenbar Zweierbob, drei Schlitten - macht sechst Bobisten.

 Redux meinte dazu am 25.02.24 um 14:42:
Danke, Lothar Atzert, für deine Einschätzung. 

Hallo Graeculus und Verlo, ich habe natürlich gespielt mit dem schon beinahe pathologisch pedantischen Protagonisten und einer Situation,  die es so niemals gibt.
Tausend oder nicht einziges Ding wäre zu tun, eine Sache jedes einzelnen,  kurz vor Antritt der großen Reise.

Antwort geändert am 25.02.2024 um 14:43 Uhr

 LotharAtzert meinte dazu am 25.02.24 um 14:48:
Ach so, du spielst das nur vor. Bist du Löwe? Das ändert natürlich alles. Entschuldige.

 Redux meinte dazu am 25.02.24 um 15:02:
Widder. 
Tendenz zum Waschbär.

 AchterZwerg (26.02.24, 06:21)
Hallo Herr Bert,

mir erscheint die kritisierte "Geschwätzigkeit" hier als passendes Stilmittel: 
Ich habe es selber erlebt, wie Todkranke plötzlich wie verrückt herumzuwuseln beginnen, um noch alles "Notwendige" zu erledigen.
Ob das tatsächlich nötig ist, wage ich zu bezweifeln ...

Liebe Grüße

 mannemvorne (28.02.24, 07:58)
.

„Was ich habe, will ich nicht verlieren, aber
wo ich bin, will ich nicht bleiben, aber
die ich liebe, will ich nicht verlassen, aber
die ich kenne, will ich nicht mehr sehen aber
wo ich lebe, da will ich nicht sterben, aber
wo ich sterbe, da will ich nicht hin:
Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin“


( Was ich habe, will ich nicht verlieren )
Thomas Brasch. Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1977

passt jezz nich unbedingt unter diesen Text, - aber
feel mir dazu ein dazu mir feel…

Gruß dazu
mv


 ______________Enjoy your worries you may never have them again
.
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram