Schreiben

Experimenteller Text

von  blauefrau

Wenn Frauen in Schreibkursen(DAF) zum ersten Mal zittrige Buchstaben auf ein Blatt Papier schreiben, dann ist das schon ein bewegender Moment. Vorher hatte man ihnen verboten, eine Schrift zu erlernen, oder es wurde nicht für notwendig erachtet. Sie heirateten ja und bekamen Kinder, was sollten sie dann mit Schrift? Lesen können andere für sie.

Wenn sie jetzt schreiben, können sie etwas niederlegen, das, was sie sehen und hören oder empfinden. Die Kraft, die sich daraus entwickelt, gibt ihnen Selbstwertgefühl und ordnet ihr Leben neu. Sie sind nicht mehr auf Mann, Sohn, Tochter oder Bekannte angewiesen, können lesen und Erlebtes festhalten. Sie können etwas fordern, ihre Liebe ausdrücken, ihren Hass und ihre Sehnsucht, ihr Heimweh und ihre Freude.

Sie können Behördenbriefe schreiben, Situationen strukturieren, etwas Wichtiges abwickeln, das alles durch die Kraft ihrer Zeichen.

Durch die Bewegung der Gedanken, die Bewegungen der Finger und der Hand schreiben sie, wir alle, Zeichen, die wir verstehen, hier. Wir alle verstehen die Worte und Zeichen, müssen sie aber neu verhandeln, wenn sie in einen neuen Zusammenhang gestellt werden.

Was passiert, wenn jemand nicht mehr schreiben kann? Wenn er dement ist, vielleicht alzheimerkrank, und nicht mehr weiß, wie man einen Stift hält? Und was die einzelnen Buchstaben bedeuten? Fliegen die Buchstaben auseinander, werden sie umgedreht oder fehlen sie ganz, weiß ich vielleicht auch nicht mehr, wie ich heiße, wo ich wohne und wer ich bin. Ich verrätsle immer mehr, kenne die Geographie meines Gehirns nicht mehr, deshalb bewirtschafte ich meine Blätter auch nicht mehr mit Gärten, in denen ich mich spiegle. Es gibt noch Steine, lose Drähte, Ungeziefer.


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