Willenlosigkeit

Lyrischer Prosatext

von  Käse

Es ist wahr, dass 

ich auf dem Rücken auf der Matratze lag

du hattest mich an den Schultern gepackt

und ich wehrte mich nicht

als du mich immer wieder 

hoch und nieder

risst und schmisst

ich hatte diesen Gummihals 

an dem fast lose mein Kopf baumelte

du sagtest:

„hoffentlich bekommst du ein Schleudertrauma“

und ich fand dich nicht 

in deinen aufgerissenen Augen

aus denen ein Schreck dich vertrieben hatte 

und immerfort schrie

ich atmete deinen vertrauten Duft

das Fenster war weit geöffnet

bei jedem Hochreißen fürchtete ich

mit der Schläfe an die spitze Ecke des Fensterflügels zu stoßen

ich sah Blitze, als du mir

mit der flachen Hand aufs linke Auge schlugst

und wehrte mich nicht

und wehrte mich nicht

als du mir den Laptop gegens Nasenbein schmettertest

ich fasste nur nach meiner Nase

und erwiderte nichts, als du daraufhin schriest:

„das war noch gar nichts“ und

„tu bloß nicht so, als seist du das Opfer“

 

Es ist wahr, dass 

ich dir hinaus auf die Straße folgte

und sie mit dir stundenlang auf- und ablief

in der grellsten, brennendsten Sonne

auf dem Rücken trug ich deine Gitarre

ich hätte weglaufen können,

aber ich blieb bei dir

ich ging zum Geldautomaten, hob 200 Euro ab

und brachte sie dir

und als ein Mann in der Kneipe fragte,

ob alles ok sei, sagte ich: „ja“

und als ein anderer auf der Straße

mich mit Daumenzeichen dasselbe fragte,

reagierte ich nicht

wie ein Küken den Füßen seiner Mutter 

lief ich dir kreuz- und quer hinterher

und sah nichts und niemanden außer dir

und hörte nichts

und roch nichts

und sagte nichts 

und wehrte mich nicht

mir kam das alles gar nicht in den Sinn

ich war in deinem Dunstkreis gefangen

und um uns war nichts

 

Aber es ist wahr, dass

ich mir an diesem Tag wünschte,

ein Schlag möge sich aus dem Nichts um uns lösen

und dich treffen

 



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Kommentare zu diesem Text


 Clementine (01.06.24, 20:03)
Für Außenstehende ist diese Art der Willenlosigkeit nicht nachvollziehbar. Dass sich die Protagonistin nicht wehrt - ok, aber wenn sie keine Hilfe annimmt und stattdessen ins magische Denken verfällt, verliert sich das Mitgefühl. Das Opfer macht sich der Mittäterschaft am eigenen Leid verdächtig und wenn es sich irgendwann doch traut, nach dem zweiten Mal oder dem zehnten, wirkt es unglaubwürdig. 

Ich finde, du zeigst hier den Zustand des Opfers, freilich ohne ihn wirklich begreifbar zu machen.

Lg Clementine

Kommentar geändert am 01.06.2024 um 20:18 Uhr

 Käse meinte dazu am 02.06.24 um 09:33:
Hallo Clementine,
so wie du denken wohl viele. Man geht davon aus, dass die bloßen Tatsachen Opfer von häuslicher Gewalt dazu bringen müssten, sich zu retten. So einfach ist es aber für viele nicht. Die Bindung zum Täter kann stärker sein, die Willenlosigkeit tief in der Lebensgeschichte verwurzelt. 
Liebe Grüße
K.

 AchterZwerg (02.06.24, 07:32)
Hallo Käse,

ich teile Clementines Meinung nicht, denn ich finde das Gedicht in allen Punkten zutreffend - und großartig!
Während meiner Arbeit in einem Frauenhaus kamen mir einige Fälle wie dieser unter: Die geschlagenen Frauen kehrten zu ihren Peinigern zurück und nicht etwa deshalb, weil es sich dabei durchgängig um weibliche Masochisten handelte. DU hast das richtige Wort für sie gefunden.
Das waren Willenlose.
Bemerkenswert finde ich, dass du, als männlicher Autor, hier so gekonnt in die weibliche Opferrolle schlüpfst.

Herzlich willkommen auf KaVau
der8.

 Käse antwortete darauf am 02.06.24 um 09:22:
Hallo AchterZwerg,
Ich mache mir viele Gedanken über die Willenlosigkeit, woher sie kommt und wie man sie anderen vermitteln kann. 
Es ist tröstlich, dass du Verständnis für Frauen hast, die diese Willenlosigkeit an sich erleben. Kann man etwas dagegen tun? Hat jemals eine Frau, die du kanntest, ihren Willen (wieder)gefunden?
Danke für deine offene Auseinandersetzung mit diesem schwierigen Thema. 
Liebe Grüße
K.

Ps: Ich bin eine Frau. Ich muss das bei der Anmeldung falsch eingegeben haben, jetzt kann ich es nicht mehr ändern. Tut mir leid, ich wollte keine Verwirrung stiften. 

Antwort geändert am 02.06.2024 um 09:24 Uhr

 AchterZwerg schrieb daraufhin am 02.06.24 um 10:25:
Eine Frau ist ebenso recht. :D

Und ja, es gibt einen Ausweg (oder besser drei) aus diesem Dilemma.
Wie du in deinem Antwortkommentar ganz richtig ausführst, sind die Wurzeln dieses Verhaltens fast immer in der Kindheit  der Opfer häuslicher Gewalt zu finden.
Häufig wiederholen jene 1:1 Erfahrungen, die sie mit ihrem Vater oder einem anderen Erziehungsberechtigten gemacht haben (ebenso verhält es sich übrigens mit dem  Alkoholismus oder anderen Suchterkrankungen).
Ohne Psychotherapie (Analyse) oder für Andersgläubige eine Rückführung, lässt sich kaum etwas machen.
Aus eigener Kraft hilft nach meiner Erfahrung nur der vollständige Rückzug aus festen (!) Beziehungen zum anderen Geschlecht. Zumindest für ein lange Zeit.
Bei Liebesbeziehungen unter Frauen / Männern gilt das natürlich ebenso.

Das ist nicht einfach. 
Aber es gibt eine beachtliche Erfolgsquote. Und nochmals ja, ich kenne aus nächster Nähe einige Frauen, die ihre selbstschädigenden Verhaltensweisen überwunden und zu einem ganz neuen Selbstbild und -bewusstsein gefunden haben.

Herzliche Grüße

 Clementine äußerte darauf am 02.06.24 um 10:37:
Ich wollte das Gedicht nicht kritisieren, ich kann nur das Verhalten nicht nachvollziehen. Ist es nicht in jedem Fall Ausdruck von Masochismus?

 Käse ergänzte dazu am 02.06.24 um 10:48:
Danke, AchterZwerg, 
dass du diese Erfahrungen hier teilst!
Liebe Grüße
K.

 AchterZwerg meinte dazu am 02.06.24 um 13:07:
Das habe ich auch nicht so verstanden, Clementine.
Die Sache mit den vorgeprägten Mustern ist nicht ohne Weiteres nachzuvollziehen. Vor allem dann nicht, wenn jene sich laufend wiederholen - ähnlich einem Strickmuster.

 Sekrotas (02.06.24, 10:13)
wie ein Küken den Füßen seiner Mutter 

lief ich dir kreuz- und quer hinterher

Die Antwort auf die Frage nach dem Warum steckt in diesem Satz.

 Käse meinte dazu am 02.06.24 um 10:41:
Hallo Sekrotas,
ja. 
Liebe Grüße
K.
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