Warum die Raben schwarz sind

Text

von  Corvus

Es gab einmal eine Zeit, als die Menschen noch mit der Erde, dem Wind und den Bäumen verbunden waren, da wehte der Wind nicht nur Blätter durch die Gassen der Dörfer, er trug auch Geschichten in die Gedanken der Menschen. Niemand wusste, woher diese Geschichten kamen, sie waren einfach da, blieben in den Köpfen, wurden weiter erzählt und manche wieder vergessen. Aber immer kamen neue hinzu. Wann immer jemand still dem Wind lauschte, der sanft die Blätter der Bäume berührt, dessen Gedanken waren erfüllt mit wundersamen Geschichten.

 

So war es schon immer gewesen und als all dies geschah, waren die Raben noch weiß wie frisch gefallener Schnee. Und sie waren es auch, die all die Geschichten sammelten, wenn sie hoch oben durch die Lüfte flogen. Mit ihren scharfen Augen entging ihnen nichts, keine Bewegung am Boden blieb ihnen verborgen, jedes Flüstern, jedes Wispern drang an ihre feinen Ohren. Und aus all dem formten sie Geschichten, manche wahr, manche erfunden, doch allesamt außergewöhnlich und versteckten sie unter ihrem Gefieder. Und wenn es wieder einmal besonders stürmisch war, tanzten sie vor Freude in der Luft, öffneten ihre Flügel weit und der Wind trug die Geschichten in die Gedanken der Menschen.

 

Doch irgendwann kam eine Zeit, da verloren die Menschen ihre Verbundenheit zu der Erde, zum Wind und zu den Bäumen. Keiner lauschte mehr dem Wind und so gingen auch nach und nach alle Geschichten verloren. An den Feuern in den Hütten saß man nun schweigend und hatte sich nichts zu sagen. Vieles an Wissen, was die Raben den Menschen brachten, verschwand, keiner erzählte noch wundersame Geschichten.

 

Den Raben blieben all die verlorenen und nicht erzählten Geschichten nicht verborgen und sie überlegten, wie sie die Menschen wieder dazu bringen konnten, zu erzählen und die Abende an den Feuern mit Legenden und Märchen zu füllen.

 

Und irgendwann, als die Feuer erloschen waren und die Menschen auf den Feldern ihre Arbeit verrichteten, flogen die Raben durch die Kamine in die Hütten und legten die Geschichten in die kalte Asche hinein. Durch den Ruß in den Kaminen und die Asche am Boden wurden sie dabei pechschwarz.

 

Als dann abends die Feuer wieder brannten, stiegen die Geschichten mit den Flammen auf, wurden zu Funken, zu Licht und zu Schatten, zu einem Knistern und Knacken und wärmten all jene, die um sie herum saßen. Und ihm Schein des Feuers, mit all den tanzenden Schatten an den Wänden, fingen die Menschen wieder an zu erzählen.

 

Die Raben aber, blieben als Mahnung an die Menschheit schwarz wie die dunkelste Nacht, auf das keine Geschichte mehr verloren geht.



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Kommentare zu diesem Text


 Saira (23.10.24, 08:39)
Moin Corvus,
 
was für eine wunderschöne und poetische Erzählung, die tief in der Tradition von Märchen und Mythen verwurzelt ist.
 
Dein Text vermittelt eine tiefgründige Botschaft über die Bedeutung von Geschichten, die Verbindung zur Natur und die Verantwortung der Menschen, diese Traditionen zu bewahren.
 
Mich faszinieren diese intelligenten Tiere.
 
Nachdenkliche Grüße
Saira

 Corvus meinte dazu am 23.10.24 um 08:46:
Lieben Dank für deine Worte, Raben finde ich seit je her mystisch. Die Idee dazu kam mir, als ich kürzlich über ein Foto eines weißen Raben stolperte. Und ja, Geschichten sollten immer weiter und immer wieder erzählt werden. Ich fürchte, die Menschheit wandelt erneut auf eine Geschichtslose Zeit hin. Zwar wird Geschichte geschrieben, aber keine Geschichten erzählt.

Hab einen feinen Tag
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