Werde ich sterben

Interpretation

von  Drita

 


 

„Werde ich sterben?“, fragte mich Frau Fischer jedes Mal, wenn ich an ihrem Tisch vorbeiging, mit weit aufgerissenen Augen. „Nein“, sagte ich, „heute ist Montag, niemand wird heute sterben.“  

So ging es immer weiter, alle fünf Minuten wiederholte sie denselben Satz.  

Auch sagte ich ihr immer wieder, dass heute ein schöner Tag sei und niemand heute sterben würde. Wir hatten den Arzt mehrfach informiert, aber auch er konnte nicht helfen. „Es gibt kein Medikament gegen die Angst“, sagte der Arzt. Für einige der Pflegerinnen war es eine alltägliche Sache und oft nahmen sie es nicht ernst, lachten sogar untereinander. Andere Patienten verspotteten sie oder schrien sie an. Sie schwieg dann für einen Moment und begann wieder: „Werde ich sterben?“  

Frau Fischer war 87 Jahre alt. Sie hatte nie ein Kind bekommen, aber viele Kinder waren in ihren Händen geboren. Sie hatte als Hebamme gearbeitet.  

Seit fünf Jahren lebte sie im Altenheim. Sie aß sehr wenig. Sie wirkte traurig. Ihre Augen blickten leer in die Ferne.  

Sie hatte furchtbare Angst vor dem Tod.  

In ihrer Biografie stand, dass sie sehr streng zu schwangeren Frauen gewesen war. Sie hatte nie Kinder haben wollen. Sie war verheiratet, doch ihr Mann war an einem Herzinfarkt gestorben. Das gesamte Vermögen hatte sie der Gemeinde geschenkt.  

Es war ein Donnerstag. Als ich meine Nachtschicht antrat, wehte ein starker Wind, einige Blechplatten flogen durch den Wind, während Frau Fischer im Gang zu hören war, wie sie immer wieder fragte: „Werde ich sterben?“  

Eine Art Angst ergriff auch mich. Ich ging in ihr Zimmer.  

„Frau Drita, muss ich sterben?“  

Sie begann mit einer schwachen Stimme zu sprechen. Ihr Gesicht war blass, wie die Flamme einer Kerze kurz vor dem Erlöschen. Ihre Hände waren kalt, auf ihrer Stirn standen ein paar Schweißtropfen.  

Ich setzte mich an ihr Bett. Ich nahm ihre Hand in meine.  

Ich sagte ihr, dass ich da sei und dass niemand heute sterben würde. Es schien, als ob sie mich mit ihren Augen fixierte, obwohl sie schon sehr erschöpft war. Ich blieb einige Minuten bei ihr. Ich hatte auch andere Patienten zu betreuen. Ich versuchte, sie zu beruhigen, aber ihr Zustand beunruhigte mich. Ich betete, dass sie nicht in dieser Nacht sterben würde. Es gab noch so viel zu tun.  

Sobald sie ihre Augen schloss, fiel sie in einen ruhigen Schlaf, und ich verließ ihr Zimmer.  

Ich machte eine Kontrollrunde in allen Zimmern, in denen sich andere Patienten aufhielten.  

Dann begann ich, die Medikamente für den nächsten Tag vorzubereiten. Plötzlich hörte ich eine Stimme. Es war meine Kollegin, die mich rief.  

„Komm schnell“, sagte sie.  

Ich rannte in Zimmer 124, zu Frau Fischer. Sie war in den Händen meiner Kollegin verstorben.  

Ich betete, dass ihre Seele in den Himmel aufsteigen möge. Ich informierte den Arzt und das Institut wegen der Bestattung. Sie kamen gleichzeitig an. In der Zwischenzeit bereiteten wir Frau Fischer vor, wuschen ihr Gesicht, ihre Hände. Doch ihre Augen blieben offen, mit einem Blick in Richtung der Tür.  

Der Regen und der Wind hörten in dieser Nacht nicht auf.  

Es schien mir, als ob ich die Treppen hinaufging, aus dem Raum der Verstorbenen, während ich gerade den Bericht für die Nachtschicht schrieb...  



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Kommentare zu diesem Text


 Regina (22.11.24, 06:39)
Der Schluss bleibt offen. 
Auch die Pflegerin vertritt das Tabu Tod. Die richtige Antwort wäre nämlich gewesen: Ja, Sie werden sterben, aber niemand kann den genauen Zeitpunkt vorhersagen.
Ein Erlebnisbericht, der beschreibt, wie Altenpflegerinnen mit dem Tod einer Patientin konfrontiert werden können.

 Drita meinte dazu am 22.11.24 um 06:42:
Herzlichen Dank, liebe Regina.

 ran antwortete darauf am 22.11.24 um 11:08:
Dass es in so einer Situation eine richtige Antwort gibt, glaube ich nicht. Wie man damit am besten umgeht, bleibt  individuell.
Frau Fischer hat gespürt, dass ihre Zeit gekommen war, deshalb fragte sie immer wieder. Es war viel wichtiger, ihre Hand zu halten, als die Frage so oder anders zu beantworten.

 Létranger (22.11.24, 08:54)
Gut erzählt.

 Drita schrieb daraufhin am 22.11.24 um 10:00:
Danke schön.

LG
Drita

 EkkehartMittelberg (22.11.24, 09:54)
Wir haben uns lange nicht mehr gelesen, Drita. Du hast enorme Fortschritte im Umgang mit der deutschen Sprache gemacht.
Du hast die Todesangst der Patientin eindrucksvoll geschildert.

Liebe Grüße
Ekki

 Drita äußerte darauf am 22.11.24 um 10:00:
Lieber Ekki, , herzlichen Dank. 

Liebe Grüsse
Drita

 Mondscheinsonate (22.11.24, 10:32)
Sehr gut geschriebener Text, Drita.

 Drita ergänzte dazu am 22.11.24 um 10:54:
Herzlichen Dank.

LG
Drita

 ran (22.11.24, 10:56)
Doch ihre Augen blieben offen

Ist das einer Vorschrift geschuldet? Wird das immer so gemacht?





„Es gibt kein Medikament gegen die Angst“, sagte der Arzt.

Er sagt das, obwohl es lindernde Medikamente gibt, auch für alte Menschen.

 Moja (22.11.24, 11:19)
Gut geschrieben, liebe Drita!
Lieben Gruß, Moja

 Drita meinte dazu am 22.11.24 um 11:31:
Danke liebe Moja.

LG
Drita
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