Avec Lucille à Epidaure
Text
von FRP
... Hier, gleich um die Ecke in der Odos Plapouta, sitzt auch ein Reiseunternehmer mit einem Nahziel-Angebot, welches er im Schaufenster ausgehangen hat. Das Geschäft ist fast nie besetzt, - ganz egal, was an Öffnungszeiten angeschrieben steht, - und ich finde es jetzt zum ersten und einzigen Mal geöffnet. Tja, jetzt ist eben Winterzeit, meint der Typ zu mir, da kommt sowieso keiner mehr. Und wozu auch – nichts geht mehr. Ich bin fassungslos. Olympia? Nein! Sparta? Nein! Epidauros? Nein! Tagesausflüge rüber nach Hydra? Nein! Mit dem 31. Oktober fällt der Hammer. Ich möge mir doch einen Mietwagen nehmen. Das kann ich aber nicht, denn ich verfüge über keine einzige Kreditkarte. Gegenüber der Bus-Schalter-und-Info-Stelle stehen gleich die Taxis. Da laufe ich hin, und beginne mit meiner Fragerei. Epidauros? Klar. Wieviel Personen? Du allein? Das macht 75 Euro!
75 Euro, das ist freilich viel. Bei vier Leuten ginge der Preis zwar nicht durch vier, aber er würde sich auf 25 Euro für jeden reduzieren. Da kann ich mir ja gleich davon ableiten, was das für ein finanzielles Desaster mit dem Erreichen von „Archaia Korinthos“ werden könnte. Und dann noch hinauf zur Burg „Akrokorinth“ … Resigniert löse ich mein Bus-Ticket zum Preis von ungefähr 4 Euro nach Epidauros. Nach und nach finden sich mehr Menschen an der betreffenden Bushaltestelle, - die man sich auch erst einmal suchen und finden muss, - ein. Dabei ist auch eine junge, schöne Frau.
Es sind überwiegend Touristen: Chinesen, Japaner, Engländer, Italiener, Festland-und Insel-Griechen … Auch zahlreiche Türken haben sich in osmanischer Kleidung … Nein. Ein Witz. Am Ortsausgang von Nauplion steigen auch einige Einheimische zu. Wer weiß, wohin die wohl reisen. In die Dörfer, zu ihren Verwandten – so schließe ich es bezugnehmend auf die Orte, an denen sie wieder aussteigen. Ich habe mich vorher über den Weg kundig gemacht und liege mit gespannter Kamera bereit, denn wir passieren hier auch eine alte, mykenische Brücke, die ich tatsächlich durch das Busfenster aufnehmen kann, aber erst nach auf der Rückfahrt, weil ich dann genau weiß, nach welcher Kurve sie gleich auftauchen wird. So, wie ich nun einmal veranlagt bin, kann ich mich nur schlecht mit nur zwei Stunden Zeit für das Ganze, weite Feld der Ausgrabungen von Epidauros abfinden. In mir reift in den ersten 50 Minuten der Fahrt ein Plan, den ich dann in den letzten 10 Minuten zur Ausführung bringe.
Dieser Plan besteht in der Absicht, eine Rede in Form eines Apells an die anderen Epidauros-Pilger zu halten. Was ich sagen will, ist mir im Kopf und klar, und es liegt bereit vor meinen Lippen. Aber ich, ein notorischer, zwanghafter Einzelgänger, ein beinah menschenscheuer Asperger und Autist, habe zeitlebens die allergrößten Hemmnisse zu überwinden, auch nur einen einzigen fremden Menschen anzusprechen. Und nun will ich mir gleich eine ganze Busladung derselben vornehmen? Nun ja, die Masse macht es vielleicht leichter, also Augen zu und durch.
Ich erhebe zuerst meinen Körper vom Sitz, und dann meine Stimme: „Ehrenwerte Mitreisende, Verehrer des antiken Hellas, geschätzte Asiaten und Europäer! Wir wissen alle, dass wir am Ziel nur zwei Stunden Zeit haben werden, denn dann fährt unsere einzige Bus-Option bereits zurück. Reicht euch das etwa? Also mir reicht das bei Weitem nicht! Der Preis für ein Taxi für eine einzelne Person beträgt 75 Euro, der Fahrpreis reduziert sich laut Auskunft von Fahrern auf 25 Euro für jeden, falls sich außer mir noch drei weitere Personen bereitfinden, sich in Taxi und Preis zu teilen. Wir vier lassen den Bus fahren und bleiben so lange hier, wie wir wollen und nehmen dann ein Taxi. Denkt bitte darüber nach und sprecht mir beherzt an, falls eure Entscheidung positiv ausfällt“.
Ich hole tief Luft, und setze mich wieder. Die Asiaten applaudieren immer noch. Sie werden gar nicht verstanden haben, was ich überhaupt will. Egal. Ich musste es versuchen, und das habe ich. Als wir angekommen sind, und aussteigen, und uns zum Ticket-Erwerb anstellen, spricht mich natürlich niemand an. Doch dann geschieht etwas, was sonst nie in meinem Leben geschieht, und selbst als ich jung war so gut wie niemals geschah: Jene wunderschöne, allein reisende, junge Frau, welche im Bus hinter mir Platz genommen hatte, steht hinter mir am Schalter und tippt mir auf die Schulter, und spricht mich lächelnd auf Englisch an:
„Monsieur, `at mich gemacht Eindruck dein‘ Red‘. Ich, l`Lucille de Paris, wäre bereit zu sein eine, welche sich mit dir in eine Taxi verteilt“. Ich glaube zu träumen, als ich mich zu ihr umschaue, und sehe, dass es sich bei ihr genau um jene exorbitante Schönheit handelt, welche schon vorhin den Fluss meiner Rede beinah zum Erliegen brachte, als ich ihrer gleich hinter mir gewahr wurde. Im Gegensatz zu meiner spaßhaften Wiedergabe, soeben, ist ihr Englisch sehr gut; vielleicht gar besser als das meine, und zumindest nicht schlechter. Ihr Angebot gilt aber nur, wenn wir noch die notwendigen zwei weiteren, zahlenden Personen für die Rückfahrt fänden. Das klingt gut, aber ich habe Schwierigkeiten, sie zu verstehen; nicht, weil sie undeutlich artikulieren würde, sondern will mein Kopf das Lied „Lucille“ aus dem Jahr 1957 zu spielen beginnt, und zwar nicht im Original von Little Richard, sondern in der von mir bevorzugten Version der Everly Brothers, erschienen im gleichen Jahr.
Für den Rest meiner Zeit in Epidauros laufe ich beinah wie im Drogenrausch und von Lucille erfüllt umher, und halte nicht Epidauros, sondern Lucille für die eigentliche Sensation oder für ein Weltwunder, welches ausgerechnet mir, und nur mir allein, geschieht. Und das ist ein wenig schade, weil ich doch gekommen bin, um das Alte zu genießen, und nicht den Anblick der Jungen. Aber ihre Schönheit ist wirklich überwältigend, außergewöhnlich, trés magnifique et incomparable. Und all das wird verstärkt durch ihr erotisch-exotisches Pariser Flair und durch ihren fran-zö-sischen accent aigu, welcher ihrer gesamten Erscheinung auf die Spitze treibt. Um mich vollends zu erschlagen, schlägt sie vor, dass wir doch gleich hier, auf unseren Wegen durch Epidauros, zusammen bleiben sollten. „Wir können uns ja de temps en temps ver-lie-ren, um uns dann immer wieder zu finden“, suggeriert sie, und gleich zieht liebliches Geläute durch das Gemüt meiner ausgehungerten Libido.
Nein, warte, Alter, das kann nicht sein. Wie alt ist sie? Sieben-ünd-zwán-zig? Zwei-ünd-drei-ßig? Älter auf keinen Fall. Und ich? Erinnere ich mich noch? Ich habe keinen Ausweis bei mir, aber ich schätze ein, dass ich für sie vielleicht mit 49 durchgehe; bestenfalls. Ich begrabe all meine ambitionierteren Hoffnungen, aber nehme mir vor, dann eben nur ihre mich in Rausch versetzende Präsenz zu genießen. An Derartiges bin ich ja gewöhnt. Epidauros, also. Wo liegt das nochmal? Im Land, wo Lucille in Milch und Honig badet? Jedenfalls ist es eine Stätte, die Lucille ebenbürtig ist. Es trifft sich sehr gut, dass ich mir gerade wieder einmal alle Episoden der englischen Fernsehserie mit den Fällen des von Agatha Christie erschaffenen belgischen Meisterdetektivs Hercule Poirot angesehen habe, und ich somit ab und zu französische Floskeln, Wendungen; und vor allem sie betreffende compliments flatteurs in unsere Unterhaltungen einfließen lassen kann, für die sie sich stets mit einem charmanten Lächeln bei mir bedankt.
Je suis très impressionné, sage ich jetzt gerade, als sie sich mit einer Hand ihr langes Haar richtet, und langsam durch selbiges streicht. Wir erreichen das berühmte Theater von Epidauros, und verlieren-, ich meine: verteilen uns ein wenig in selbigem. Ich widerstehe standhaft der Versuchung, sie heimlich zu fotografieren. Nichts „Unreines“ soll mir Lucille, die doch meine Tochter sein könnte, verderben. Und den Mut, sie um ein Foto zu bitten, bringe ich nicht auf. Während Lucille sich drüben, auf der anderen Seite des Theaters, durch die Sitzreihen bewegt, und wir uns von de temps en temps zuwinken, - das ist albern, aber es macht Spaß, - werde ich wieder etwas klarer im Kopf und befasse mich mit Geschichte und Bedeutung des Ortes, an welchem ich mich gerade aufhalte. ...