Und kaum war Ringelnatz zum Hausdichter avanciert, rang er sich auch schon die ersten Hauspoesien ab. Zum Beispiel das Simplicissimus–Lied, zu singen nach der Melodie von "Strömt herbei, ihr Völkerscharen"
Simplicissimus-Lied
Mitternacht ist‘s. Längst im Bette
Liegt der Spießer steif und tot,
Ja, dann winkt das traulich nette
Simpel-Gasglüh-Morgenrot.
Und mich zieht‘s mit Geisterhänden,
Ob ich will, ob nicht, ich muss
Nach den bildgeschmückten Wänden
In den Simplicissimus.
Wo sich zum gemeinen Wohle
Künstler und Boheme trifft,
Wo die Kathi still zur Bowle
Mischt das tödlich scharfe Gift;
Wo mit Mandolinenklängen
Sich verwebt der Weißwurst Dampf,
Lausch ich fröhlichen Gesängen
Und dem Mords-Klaviergestampf.
Die Kollegen verehrten den Hausdichter Ringelnatz. Einer, der ihn als Conférencier oft ankündigte, Karl Schnog, hat den Auftritt des Hausdichters in Versen so festgehalten:
Es geht ein stummes Leuchten von ihm aus
Ûnd sehr viel kindlich–schrille Güte.
Kommt er zum Auftritt, kommt er wie nach Haus
Mit einer knisterfremden Zuckertüte.
Bevor er zögernd auf die Bühne tritt,
Muss er erst Vielen etwas Liebes sagen,
Oft bringt er jüngst verehrte Rosen mit,
Die die Kollegen dann wie Orden tragen.
Es riecht nach Meer um ihn und nie nach Buch,
Wenn man ihn hört, hat man ihn nie gelesen,
Und geht er ab, wirds leer, als sei Besuch
Aus fremden schönen Ländern dagewesen.
Ja, und an solchen Abenden hat dieser Joachim Ringelnatz dann manchmal auch das leiseste Gedicht der Welt vorgetragen.
Im Park
Ein ganz kleines Reh stand am ganz kleinen Baum
Still und verklärt wie im Traum.
Das war des Nachts elf Uhr zwei.
Und dann kam ich um vier
Morgens wieder vorbei,
Und da träumte noch immer das Tier.
Nun schlich ich mich leise – ich atmete kaum –
Gegen den Wind an den Baum,
Und gab dem Reh einen ganz kleinen Stips.
Und da war es aus Gips.
Joachim Ringelnatz eröffnete zu seiner Zeit als Simplicissimus–Poet in der Münchener Schellingstraße einen Laden, den er das „Tabackhaus zum Hausdichter“ nannte. Das Schaufenster dekorierte er mit einem menschlichen Gerippe, das, so wird es erzählt, „zwischen Zigarrenkisten und Zigarettenschachteln herumwühlte“. Ein Reklameschild warb mit mit dem Slogan: „Damen und Herren werden auf Wunsch gegen Bezahlung angedichtet … es grüßt der Hausdichter!“. Die ziemlich verstörte Kundschaft ließ den Laden bereits nach einem Jahr in Konkurs gehen.
Und da war da ein Mädchen, „Muschelkalk“ liebevoll vom Eroberer Joachim gerufen, das eigentlich Leonarda Pieper hieß. Sechzehn Jahre jünger als der Verlobte. Doch als sie vom Heiraten sprachen, war da auch der Krieg. Ringelnatz musste auf sein Schiff, Muschelkalk wurde Lehrerin in einem Pensionat. Aber eines ferneren Tages, an seinem 37. Geburtstag, am 7. August 1920, heiratete er mittellos in München. Und sie zog als Frau Ringelnatz bei ihm ein. 21 Jahre alt. Manche gute Freundin wird um dieses Mädchen gebangt haben: Aus gutbürgerlicher Familie stammend, in Pensionaten erzogen, selbst Pensionatslehrerin – und so etwas heiratet ausgerechnet diesen Schlawiner, diesen Hallodri, diesen Luftballonromantiker! „Nein, er war durchaus kein Engel!“ sagte sie später über ihn.
Meine erste Liebe?
Erste Liebe? Ach, ein Wüstling, dessen
Herz so wahllos ist wie meins, so weit,
Hat die erste Liebe längst vergessen,
Und ihn intressiert nur seine Zeit.
Meine letzte Liebe zu beschreiben,
Wäre just so leicht wie indiskret.
Außerdem? Wird sie die letzte bleiben,
Bis ihr Name in der Zeitung steht?
Meine Abenteuer in der Minne
Müssen sehr gedrängt gewesen sein.
Wenn ich auf das erste mich besinne,
Fällt mir immer noch ein frühres ein.
Liebesgedichte konnte dieser Schwadroneur wie die ganz Großen. Heine hätte ihm auf die Schulter geklopft. Aber ebenso wie Heine – der, wenn man seinen in Verse gefassten Geständnissen glauben wollte, ein Liebhaber mit ungeheuerem Verschleiß gewesen sein musste – ebenso wie bei Heine war auch bei diesem Ringelnatz viel Wunschträumerei im forsch erzählten Liebesleben. Der Poet verreiste gern und häufig nur in Gedanken zu den Geliebten seiner Wahl.