Die andere Oma
Betrachtung zum Thema Lebensweg
von Citronella
Ich vermute, sie hatten sich nicht viel zu sagen, die „Oma mit der Zuckerschnecke“ und meine geliebte Omi. Zu unterschiedlich waren bis dahin ihre Leben verlaufen, da gab es keine Gemeinsamkeiten – außer dass die Omi den Sohn der Oma als ihren Schwiegersohn akzeptieren musste. Was ihr vierzig Jahre lang schwerfiel. Dann starb er. Und die Omi überlebte ihn noch um vier Jahre. Ich will nicht unbedingt behaupten, dass sie das als Triumpf über ihn ansah, aber eine gewisse Genugtuung konnte sie nicht verhehlen.
Die Omi war eine Großstädterin. Gewesen. Bis zur Flucht aus Pommern, die in einem norddeutschen Kaff endete. Es half wenig, dass sie später ins nächstgrößere Dorf zog, Provinz blieb Provinz. Und was sie in der Großstadt zurückgelassen hatte, würde sie nie wiederfinden.
Sie kam aus sehr einfachen Verhältnissen. Der Vater starb früh, aber es gab bald einen treusorgenden Stiefvater für sie und ihre zwei Geschwister, die beide im Kindesalter verstarben. Die Zeiten Anfang des letzten Jahrhunderts waren hart.
Sie muss eine gute Schülerin gewesen sein. Jedenfalls bestätigen das die Noten ihres Abschlusszeugnisses von 1913 aus einer Stettiner Mädchenschule, das ich wie viele andere Urkunden aufbewahre. Mehr als die achtklassige Volksschule war für arme Leute nicht drin.
Aber sie hatte Glück. Sie begann eine Lehre in einem sehr feinen Schneidersalon in der Innenstadt. Hier lernte sie nicht nur das Schneiderhandwerk, sondern auch den Umgang mit Menschen aus einer ihr bis dahin fremden Schicht. Die Direktrice, die das Heer der kleinen Schneiderinnen überwachte und anleitete, muss eine strenge, aber sehr gute Lehrmeisterin gewesen sein. Die Omi legte bis ins hohe Alter viel Wert auf gutes Benehmen und gute Kleidung, zu der, wenn sie in die Kreisstadt fuhr, selbstverständlich ein Hut gehörte.
Nach der Heirat gab sie den Beruf auf. Jetzt versorgte ihr „herzensguter“ Mann, wie sie ihn immer nannte, die Familie. Meine Mutter blieb das einzige Kind. Beide schlugen sich mehr schlecht als recht durch die Kriegsjahre und Bombennächte in einer zunehmend zerstörten Stadt, während der Opa an der Front kämpfte. Es war schon sein zweiter Krieg.
Handarbeiten blieben Omis Lebensinhalt. In den Hungerjahren nach dem Krieg verdienten meine Mutter und sie sich ein wenig Geld mit dem Stricken für ein Modegeschäft im Nachbarort. Dass ich von klein auf mit Selbstgeschneidertem und Selbstgestricktem versorgt wurde, versteht sich von selbst. Wer besaß in den 50er-Jahren schon Konfektionsware? Man arbeitete alles um, was noch irgendwie verwendbar war, selbst alte Uniformteile. In ihrer kalten Einzimmerwohnung stand sehr früh eine alte Nähmaschine. Wenn ich als kleines Kind bei ihr zu Besuch war, saß ich manchmal auf der Arbeitsfläche, bekam einen Stofflappen in die Hand gedrückt und durfte ihn mit Stecknadeln bestücken. Was ich mit Begeisterung tat. Für echte Handarbeiten konnte ich mich allerdings – sehr zu ihrem Leidwesen - mein Leben lang nicht begeistern.
Bis ins hohe Alter verbrachte sie ihre einsamen Stunden mit Lochstickereien und dem Häkeln feiner Spitzendeckchen. Nebenbei gab es im Umkreis immer noch Geschäftsleute, die sie für einen oder mehrere Tage zu sich ins Haus holten, um z. B. Schneider- und Ausbesserungsarbeiten an Arbeitskleidung zu erledigen. Dass sie dazu manchmal von einer Auftraggeberin mit dem Mercedes abgeholt wurde, gehörte zu den Highlights ihres bescheidenen Daseins. Sie erzählte stolz davon.
Die Omi verlor nicht nur die Heimat und – bis auf ein paar vollgepackte Koffer – auch den gesamten Besitz, sondern 1946 auch noch den Mann. Er wurde, nachdem er einen halben und einen ganzen Krieg unbeschadet überstanden hatte, von marodierenden ehemaligen Kriegsgefangenen ausgeraubt und ermordet. Aber dies ist wieder eine andere Geschichte.
Durch diese Omi habe ich viel Gutes erfahren, sie bezeichnete sich selbst immer als meine zweite Mama. Erst Im Erwachsenenalter wurde mir klar, dass ihr Einfluss auf mich und die Ehe meiner Eltern nicht immer nur gut gewesen war. In meiner Kindheit verbrachte sie jedes Wochenende in unserer ohnehin viel zu kleinen Wohnung und hielt mit Kommentaren nicht hinter dem Berg. Vielleicht hätte ich ohne ihre ständige Hetze ein besseres Verhältnis zu meinem Vater aufbauen können.
Letztlich überwog ihr positiver Einfluss. Sie hat mich in starkem Maße mit geprägt. Ich bin ihr bis heute für vieles dankbar.