Anika

Kurzprosa

von  Gabyi

Sie hatte einen Tag vor mir Geburtstag. Ihr Bruder Hansi war geistig behindert und trug Reklame-Zettel aus. Er hatte einen gelben Wellensittich, um den er sich rührend kümmerte. Anika schämte sich, dass sie einen schwachsinnigen Bruder hatte. Ich redete nie mit ihm, wenn ich sie besuchte. Als Kind war ich so konditioniert, dass ich erst redete, wenn ich gefragt wurde. Aber Hansi fragte nie.
Anika schlief Nachts im Schlafzimmer ihrer Eltern. Ihr Vater arbeitete als Ingenieur bei der TVA(Süd). Das bedeutet Technische Versuchsanstalt (für Torpedos). Er war sehr streng mit ihr und Anika durfte viele Sachen nicht machen, die mir erlaubt waren. Sie tat es aber trotzdem. Meine Mutter warnte mich vor ihrem Vater, weil sie fand, er hätte etwas anzügliches an sich. Sie benutzte aber ein anderes Wort. Ich jedoch merkte von alledem nichts. Anikas Mutter war eine ganz Nette, ganz im Gegensatz zu meiner. Sie schmierte uns Nachmittags Bahlsen-Kekse mit Margarine, was bei meiner Mutter undenkbar war und niemals vorgekommen wäre.
Anika hatte lockige, krause Haare, aber wollte lieber glatte haben. Sie hatte ein hübsches Gesicht mit vollen Lippen und sagte: Ich bin eine Mulattin. Sie besaß leichte X-Beine und sagte: Das liegt an Rachitis, das ist Vitamin D Mangel. Mit 13 Jahren brach sie sich am Strand den Ellenbogen, als sie von einem Klettergerüst stürzte. Sie kam dann ins Krankenhaus.
Wenn ich sie zuhause besuchte, hörten wir Single-Schallplatten auf ihrem kleinen Elac-Plattenspieler. “For your love” von den Yardbirds oder “Lets spend the Night together” von den Rolling Stones. Nachmittags kletterten wir in ihrem Hof auf die Teppichstange oder spielten Gummitwist mit einer Mülltonne.
Man könnte Anika als lebenshungrig bezeichnen, ganz im Gegenteil zu mir. Sie probierte Haschisch und andere Drogen, war weiter entwickelt als ich und interessierte sich brennend für Jungs. Sie überredete mich, in den Sommerferien in der Milchbar der Seelust zu arbeiten und mobbte mich dort die gesamte Zeit über mit einem anderen Mädchen, das Ingrid hieß. Aus den Lautsprechern tönte “Je t'aime, mois non plus” von Jane Birkin. Ich verstand nicht, warum sie sich mir gegenüber so verhielt. aber ihr Charakter hatte sich schon vorher gezeigt, als sie mich mit 14 Jahren überredet hatte, mit ihr zusammen nach Flensburg zu trampen, um ihre Verwandten zu besuchen. Sie blieb dann einfach dort und ich musste alleine zurück nach Hause trampen, wobei ich ein sehr mulmiges Gefühl hatte. In der Untersekunda verließ sie das Gymnasium und ich habe dann nie wieder etwas von ihr gehört.


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