Paula fährt Rad

Anekdote zum Thema Erfahrung

von  Citronella

 

Die Promenade ist an diesem sonnigen Spätnachmittag wieder gut befahren. Seitdem man auf der mit 12 km angeblich längsten Strandpromenade Europas von Bansin über Heringsdorf und Ahlbeck bis nach Swinemünde radeln kann, ist sie zu einer wahren Rennstrecke geworden. Autos sind allerdings verboten. Ab und zu fährt eine Pferdekutsche mit Touristen vorbei, die Bäderbimmelbahn dreht ihre Runde mehrmals am Tag. Als Fußgänger muss man schnell sein, um die Promenade überqueren zu können, es wird tadelnd geklingelt, sobald jemand zu langsam ist. Jugendliche E-Rollerfahrer umkurven Passanten auch ohne Warnung in halsbrecherischem Tempo.

Die meisten älteren Herrschaften radeln natürlich mit dem E-Bike und erreichen dabei eine Geschwindigkeit, bei der sich der arglose Fußgänger fragt, wo sie denn im Urlaub unbedingt so schnell hin müssen. Lockt der Polenmarkt noch immer?

Ich sitze mit einem Eis auf einer Bank und beobachte das Treiben. Ein Mann ruft mehrmals: „Paula, komm her!“. Dann sehe ich Paula, ca. drei Jahre alt, auf ihrem Kinderfahrrad jauchzend daherrasen. Sie beherrscht das kleine Rad, keine Frage – doch hat sie aus ihrer Warte natürlich keinerlei Übersicht über das Verkehrsaufkommen. Mir wird himmelangst. Wenn so ein zartes kleines Mädchen stürzt und unter die Räder eines E-Bikes kommt ... nicht auszudenken!

Die „Paula“-Rufe werden lauter, Paulas Jauchzer auch. Mit langen Schritten nähert sich ein sportlicher großer Mann, offensichtlich der Vater.

„Paula, das ist kein Spaß!“

Schnell hat er das Kind eingeholt und fackelt nicht lange: Er hebt es vom Fahrrad, klemmt sich das Mädchen unter den Arm, greift mit der anderen Hand das Rad und eilt auf dem Fußweg davon. Paula zappelt mit Armen und Beinen und brüllt wie am Spieß. Nach einigen Metern stellt der Vater das Kind ab und geht mit dem Fahrrad weiter. Paula trabt unter heulendem Protest hinterher. Ob sie eine Lektion gelernt hat?

Zwei Tage später sehe ich am Rand der Promenade von weitem ein kleines Mädchen wie angewurzelt auf dem Fahrrad sitzen, die Beinchen am Boden. Es starrt vor sich hin. Weit und breit ist kein Erwachsener zu sehen, der zu ihr gehören könnte. Ich weiß nicht, worauf das Kind wartet, ich weiß auch gar nicht, ob es sich um Paula handelt, die schon wieder ausgebüxt ist. Ausschließen würde ich es allerdings nicht.



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Kommentare zu diesem Text


 niemand (15.06.25, 16:54)
@ Citronella
Dieses Problem de unkontrollierten Geschwindigkeit seitens der Pedelec-Raser
habe ich auch und das obwohl ich selbst einen fahre. Allerdings nur in gemäßigtem Tempo, quasi als normales Rad mit ein wenig Erleichterung der minimalsten Stufe, Und natürlich mit einer sozialen Ader, welche ich auch gerne bei anderen sähe, jedoch wohl vergeblich erwarte. Besonders Kinder, Hunde und Passanten sind gefährdet, allerdings scheint es den meisten der Fußgänger nicht viel auszumache, wahrscheinlich weil sie außerhalb ihrer Spazierzeiten rasende Autofahrer sind. Da überträgt man schon seine Vorstellungen auf so etwas wie ein Elektrorad. Ich glaube in Zeiten wie diese, hat man wohl alle Maßstäbe verloren. Kein Wunder, ist doch das Motto dieser Zeit "no limit",
was in diesem Fall "Schnell, schneller, rasant" zu bedeuten hat. LG Irene

 Citronella meinte dazu am 15.06.25 um 17:15:
Irene, noch vor 20 Jahren war eine Strandpromenade vor allem zum Schlendern gedacht – zum Betrachten des Meeres auf der einen und der wunderschönen Bäderarchitektur auf der anderen Seite. Heute ist man als Fußgänger, auch wenn es einen eigenen Fußweg gibt, gefährdet. Da kommt keine Entschleunigung auf. Ich habe mich jeden Tag wieder gefragt: Wo müssen sie denn alle in diesem Tempo hin?? Und haben sie schon alle das Gehen verlernt?
Aber dieser Text sollte keine Abrechnung mit Radfahrern werden. ;) Mir kam es darauf an, die konsequente Handlungsweise von Paulas Vater darzustellen, die hat mir gefallen.

LG Citronella

 Saudade antwortete darauf am 15.06.25 um 17:18:
Irene, noch vor 20 Jahren war eine Strandpromenade vor allem zum Schlendern gedacht – zum Betrachten des Meeres auf der einen und der wunderschönen Bäderarchitektur auf der anderen Seite. Heute ist man als Fußgänger, auch wenn es einen eigenen Fußweg gibt, gefährdet. 
Du sprichst mir aus der Seele.

Würden sich die Fahrer an ihren Weg halten, hätte keiner ein Problem. Aber auch die Fußgänger... manche wanken herum.

 niemand schrieb daraufhin am 15.06.25 um 17:23:
@ Citronella
Da hast Du recht. Der Vater hat hier erzieherisch eingegriffen und das wird seine Konsequenzen für die Kleine haben, positiv betrachtet, denn sie lernt, dass man nicht immer alles machen kann/soll was einem so in den Kopf schießt. Ein anderer Vater wäre vielleicht auf die Knie gefallen mit der innbrünstigen Bitte: "Mäuschen könntest du das vielleicht mal lassen" und vielleicht wäre ihm sein Mäuschen dann von hinten ins Knie gefahren, laut lachen und jauchzend. Wenn man schon als Kind alles machen darf, was soll man da noch später tun, wenn der Chef einem eine Aufgabe zuteilt. Vielleicht laut und deutlich
ein "Maggi nicht" :D  von sich geben? Die sichere Sprosse zu einer wunderbaren Karriere.

Antwort geändert am 15.06.2025 um 17:23 Uhr

 Citronella äußerte darauf am 15.06.25 um 17:23:
Das ist richtig,  Saudade, muss aber von zwei Seiten gesehen werden: Es waren diesmal auch sehr viel mehr ältere Leute unterwegs als noch vor einigen Jahren, teilweise auch mit Rollator. Da kann das Überqueren des Radweges schon gefährlich werden ...
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