Einkehr
Kurzgeschichte zum Thema Geister
von dasAli
Sie betrat den McDonalds pünktlich um 9 Uhr dreißig und schüttelte das Wasser von ihrem schwarzen Regenschirm. Sie war der einzige Gast und musste trotzdem zwei Minuten auf ihren Kaffee warten. Der Kassierer wirkte gestresst, und als sie in ihrer kleinen Lederhandtasche nach Kleingeld kramte, stöhnte er ungeduldig. Sie legte ihm die Münzen auf den Tresen und er wischte sie in die Kasse, ohne zu zählen. Noch bevor sie den Becher in der Hand hielt, war er in der Küche verschwunden.
Sie rührte die Milch in den Kaffee und blickte durch die große Fensterscheibe auf die nassglänzende Straße. Sie war davon ausgegangen, dass er nicht vor ihr ankommen würde. Seine Art, sich in den Emails auszudrücken, hatten ihr den Eindruck vermittelt, dass er sich nicht an Regeln hielt. Um ehrlich zu sein, hatte sie den Eindruck, dass er gar keine kannte.
Sie wollte nicht warten müssen. Lange konnte sie es nicht auf dieser unbequemen Bank aushalten. Sie wollte es vermeiden, auf einem niedrigen Sessel zu sitzen. Diese modernen Dinger sahen bequem aus, aber sie zwangen einen geradezu, sich nach hinten zu lehnen. Der Abstand zwischen ihnen wäre zu groß. Sie brauchte eine klare Aufnahme. Es war vielleicht zu offensichtlich, wenn ihre Handtasche mit dem Diktiergerät zu mittig auf dem Tisch lag. Sie zog sie etwas zu sich, betrachtete sie, drehte sie leicht. Jetzt wirkte es erst recht gestellt. Sie verzog das Gesicht und gab ihr einen frustrierten Schubs. Sie machte sich verrückt, nur weil sie einen Betrüger entlarven wollte. Das sah ihr gar nicht ähnlich.
Sie sah einen Bus halten und nach zwanzig Sekunden wieder abfahren. An der Bushaltestelle stand ein Mann. Sein Blick war auf sie gerichtet. Und dieser Blick war es, der ihr plötzlich das Gefühl gab, nicht auf ihn vorbereitet zu sein. Auf einen Schwindler war sie eingestellt, aber er war offensichtlich noch mehr. Seine blassen Augen, über denen nasse, graue Strähnen hingen, wechselten im kurzen Moment seines Blicks ständig die Emotion: genervt, traurig, hungrig... Sie sah ihr eigenes Gesicht in der Scheibe über seines gespiegelt, bevor er den Kopf senkte und die Straße überquerte, ohne auf den Verkehr zu achten.
Auf einmal empfand sie seinen leicht humpelnden Gang als zu schnell. Sie wünschte sich, er würde sich mehr Zeit lassen. Ihr mehr Zeit lassen. Vielleicht war er nicht der Mann, auf den sie wartete. Wäre es nicht schön, wenn er sich einen Hamburger schnappte und einfach wieder ging?
Seinen grünen Parka legte er zum Trocknen mit hageren Fingern über einen Stuhl am Nachbartisch. Ihr Schweigen und ihr unverhohlenes Starren hatte ihm verraten, dass er hier richtig war. Während er ihr gegenübersaß, tropfte es von seiner Nasenspitze auf die Tischfläche. Zwischen ihnen, wie zum Hauptgang serviert, ihre kleine Ledertasche. „Ich brauche einen Kaffee“, sagte er tonlos. Ohne nachzudenken stellte sie ihm ihren eigenen hin. „Du bist Thomas“, stellte sie überflüssig fest.
„Und du bist Sarah. Reicht das als Smalltalk?“ Er trank, und während er auf die Handtasche starrte, tippte er mit zwei Fingern einen unbestimmten Rhythmus auf den Deckel des Pappbechers. Mit der anderen Hand zog er sich eine Zigarette. Sarah sah wie hypnotisiert den Bewegungen zu. Blauer Qualm zog beißend durch den Raum, und für eine Sekunde war die gerunzelte Stirn des Kassierers in der Küche zu sehen - es wurde dort bemerkenswert still.
Die Zigarette baumelte an seinem linken Mundwinkel, als er herausfordernd die Handflächen nach oben drehte. Sie schien aus einem Traum in einen neuen zu erwachen, schüttelte den Kopf, aber nichts klärte sich. „Das ist“, begann sie und verstummte wieder. Wo sie am Anfang eine schmerzhafte Emotionsdichte gesehen hatte, lagen nun zwei Eissplitter, deren spitze Enden auf sie gerichtet waren. Er senkte seine Hände und wartete. Sie holte noch einmal aus: „Das ist. Kafkaesk.“ Er legte den Kopf in den Nacken und atmete tief durch. „Ich gehe jetzt pissen“, sagte er. „Danach hole ich mir ’nen Burger. Und wenn ich zurück bin, will ich meinen Auftrag. Und das Geld. Einverstanden?“ Sie nickte.
Ohne seine quälende Anwesenheit brauchte sie plötzlich etwas zum Festhalten und hätte beinahe nach ihrer Tasche gegriffen. Stattdessen legte sie die Hände auf den Bauch und schaute an sich herab, während sie sich über die Bluse streichelte. Das sollte anders laufen. Sie sollte das hier nicht fühlen. Sie sollte einen klaren Kopf haben. Sie sollte alles im Griff haben. Oder wenigstens irgendetwas im Griff. Vielleicht spielte es auch keine Rolle, solange das Ergebnis stimmte. Und was war es, das ihr die Kehle zuschnüren wollte?
Er sah sie nicht an, ging zum Tresen, an dem lautlos der Kassierer mit einem nervösen Zucken im Auge auftauchte und auf ein Tablett unaufgefordert und wahllos Burger häufte. Er quetschte noch einen großen Becher Kaffee in den Essensberg und verschwand wieder.
Sein Weg zum Tisch erschien ihr diesmal endlos. Eine herannahende Apokalypse. Vor Generationen prophezeit. Von Plagen begleitet. Geschwüre und Blut und sengende Hitze und Dunkelheit. Und zu guter Letzt die Wiederkunft. Sie schmeckte sauren Kaffee und würgte ihn wieder hinunter.
Er ist ein Betrüger, versicherte sie sich. Er will dein Geld. Er verschwindet. Du hast am Ende nichts. Dass er verrückt ist, ändert nichts. Seine Ankunft am Tisch war unspektakulär und harmlos. Das beruhigte sie und lockte fast ein erleichtertes Auflachen hervor.
Langsam schrumpfte der Berg Burger, vertrocknete der Fluss Kaffee. „Mein Auftrag?“ fragte er. Folter, Mord und Vergewaltigung. Sie traute ihm alles zu, aber angeboten hatte er etwas anderes. Ihre Hände lagen noch auf ihrem Bauch, und sein Blick tat es inzwischen auch. „Da?“, fragte er.
Sie nickte. „Ja, ich will mein Baby zurück.“ Hatte sie das wirklich gesagt?
Er wirkte zufrieden. „Ist gut“, sagte er. „Harmlos.“
„Ist es auch mal nicht harmlos?“
„Es ist immer harmlos hier“, er klopfte sich auf die Brust, „und manchmal schlecht hier“, er klopfte sich gegen die Stirn.
„Ich habe nichts zu befürchten? Weder körperlich, noch psychisch?“
„Dein Kopf ist deine Sache. Aber ich glaube, du hältst es aus.“
„Warum ist es bei mir harmlos?“
Er überlegte nicht lange. „Da passiert nicht viel. Die Beziehung ist innig genug, aber ihr werdet einander nicht viel zu sagen haben. Oder hatte sie gelebt?“
Sie neigte den Kopf, und vergaß dabei das Kopfschütteln. Ein einzelner Tropfen rann ihre Wange hinab „Du klingst so sicher. Ich bin nicht die erste, die das will?“
Sie sah ihn zum ersten Mal lächeln, und auch wenn es ein herablassendes Lächeln war, wirkte er fast wie ein normaler Mensch. „Ohne euer Bedauern, wäre ich arbeitslos.“
„Schämst du dich gar nicht, damit Geld zu verdienen?“
„In eurer Welt, bin ich nicht arbeitsfähig“, sagte er und zeichnete mit der Zeigefingerspitze eine Kreisbewegung auf die Schläfe. „Irgendwie muss ich ja auch was in den Magen bekommen.“ Er hatte nicht bezahlt... Ihr Blick wanderte zur Küche, die menschenleer wirkte. Als er ihn wieder anschaute, schwebte seine offene Hand vor ihrem Gesicht. Sie legte ihm einen Umschlag auf die Handfläche und fasste sich wieder an den Bauch. „Was jetzt?“, fragte sie. Ein kleines Stück klebrigen Cheeseburger hatte er auf dem Tablett liegen gelassen. Nun hob er es mit Daumen und Zeigefinger auf und hielt es ihr hin. Sie öffnete den Mund. Kaute und suchte nach Speichel. Erst der letzte bittere Rest Kaffee ließ sie schlucken.
Er stand auf und zog seinen klammen Parka an. „War’s das?“, fragte sie.
„Das ist genug“, sagte er. „Dauert nicht lange. Brauchst mir nicht mehr zu schreiben. Deine Adresse und deine Nummer habe ich blockiert. Der Rest ist dein Ding, ich habe damit nichts mehr zu tun. Das war der Deal.“
„Wann hast du mich durchschaut?“, rief sie ihm hinterher und wusste die Antwort noch in derselben Sekunde, als sie ihre Tasche mitten auf dem Tisch liegen sah. „Du wirst nichts darüber berichten“, sagte er, ohne sich umzudrehen. „Niemand wollte jemals davon erzählen.“
Sie sah ihn in dem Bushaltestellehäuschen sitzen. Etwas drückte gegen ihre Hände. Schmiegte sich an sie. Durch ihre Bauchwand. An einem finsteren, toten Ort, wo es nicht möglich sein sollte. Augenblicklich schossen Tränen aus ihren Augen, Speichel lief aus dem Mund. Geräuschlos formte ihr Mund immer wieder die gleichen zwei Wörter. Ein letztes Mal blickte sie ihm in die Augen, die liebten und schrien und weinten und hassten.
Bevor der Bus ihnen die Sicht nahm, sprach sie es aus und atmete die Worte ein. Mein Baby.
Anmerkung von dasAli:
Älterer Text, frisch überarbeitet