vergeben
Kurzgeschichte zum Thema Geister
von dasAli
Ihr dummer Körper wusste es nicht besser. Schüttete Hormone aus, als wäre sie wirklich schwanger. Ließ ihre Brüste wachsen, als würde je ein Säugling aus ihnen trinken. Sie weinte zu oft. Vor Freude, aus Angst, und manchmal nur so.
Heute hatte sie im Nesttrieb einen Moment lang überlegt, wo in der kleinen Wohnung das Kinderbett stehen könnte. Atemlos musste sie sich am Griff der Kühlschranktür festhalten, als ihr einfiel, dass es nie ein Nest geben würde.
Sie war dennoch glücklich. Auch wenn ihr Bauch flach blieb, trat und drückte ihr Baby. Manchmal legte es Pausen ein, und in einer davon war sie panisch im Wohnzimmer auf und ab gelaufen, hatte sich den Bauch gestreichelt, betastet und, als keine Reaktion kam,schlug sie mit der Faust auf den Bauch, als könnte sie es so zurückholen. „Sie ist weg!“ heulte sie. "Wieder weg!" – Dahin verschwunden, wohin es schon einmal verschwunden war. In das Grab gestiegen, aus dem Thomas es geholt hatte. Aber es hatte nur geschlafen.
In den besten Momenten lag sie seitlich im Bett, die Hände auf dem Bauch, in dem es sich behaglich in sie schmiegte. "Sina", flüsterte die Mutter. Diesen Namen hatte sie ausgesucht, als es tatsächlich noch gelebt hatte. Es war niemals geboren worden, gelebt hatte es aber! Jetzt erstarrte es in ihrem Bauch, wenn sie es rief, als würde es lauschen. "Sina, mein Stern." Sie konnte spüren, wie es sich freute.
Die Redaktion kam ohne sie aus. Die Story hatte sie fallen lassen. Unvorstellbar, in diesem Zustand arbeiten zu gehen. Gedanken waren flatternde Kolibris, Gefühle waren Herbststürme. "Da kann nicht viel passieren", hatte der Irre gesagt, "das hältst du aus." Anfangs hatte sie ohne sein Wissen einen Artikel über ihn schreiben wollen. Da er sie vor die Wahl gestellt hatte und sie nicht unehrlich wirken wollte, hätte sie gar nicht anders gekonnt, als sich ihr Kind zurückzuwünschen. Sie hätte alles dafür gegeben, es wieder in sich zu spüren. Er hatte ihr das Kind zurückgegeben – für Geld. Niemand hatte ihr gesagt, dass das hieße, erneut schwanger zu sein. Jetzt war er fort und sie weigerte sich, irgendwem gegenüber ein Wort darüber zu verlieren.
Sie hatte ihn als Scharlatan entlarven wollen, aber er war wie ein ansteckendes Fieber, wie ein Feuergeist dahergekommen. Kaum hatte sie ihren Wunsch geäußert, war ihr verstorbenes Kind wieder da gewesen. In ihr drin. Es wuchs nicht. Es war einfach da. Schwanger auf ewig. "Sie bleiben nur an dem Ort, an dem sie gestorben sind, am meisten Schmerz erfahren haben oder mit dem sie sich am stärksten verbunden fühlen", hatte er in einer der wenigen E-Mails geschrieben. Sie konnte damit leben. Immerhin war Sina nicht während der Geburt gestorben, mit dem Kopf schon an der frischen Luft. Ein schwacher Versuch, Humor in die Sache zu bringen. Immerhin. Sie musste lockerer werden.
Zwar durchflutete jede Bewegung ihres Kindes sie mit Aufregung, doch mit jedem Tag ließ sie auch andere Lebensinhalte wieder zu. In der zweiten Woche putzte sie sogar Fenster; in der dritten sagte sie ihrem Chef, dass es ihr besser ging. Ihr Kopf ließ Momente der Klarheit zu, in denen sie wieder las, recherchierte. Paranormale Themen tauchten auf. Sicher, ihr Unterbewusstsein war schuld. Aber Übernatürliches war als Story nicht sofort schlecht. Sie durfte nur nicht versuchen, es zu belegen. Das hatte noch niemand geschafft. Alles könnte (bitte nicht!) einfach (niemals!) nur Einbildung sein.
Muss ich mir beweisen, dass ich nicht verrückt bin?
Sie zwang sich, loszulassen, und googelte "Schwangerschaft". Ein Déjà-vu. Eine Zeitreise zurück vor die Fehlgeburt. Alles entzückte sie. Alles war Leben. Und Angst. So wie jetzt.
Die Angst verflog, als sie sich erinnerte, wie sie es sich beweisen konnte: ein Schwangerschaftstest! Wenn das Hormon da ist, ist es da! Warum war sie nicht früher darauf gekommen? Zehn Minuten später stand sie in der Apotheke, eine halbe Stunde später freute sie sich wie damals. Alle Tests behaupteten, sie sei schwanger. Ihr Körper wusste es schon die ganze Zeit: Sina war in ihr.
Keine Sekunde hatte sie Angst vor dem Gedanken, verrückt zu sein. Aber Sina ein zweites Mal zu verlieren, hätte sie wahnsinnig gemacht. Was passiert mit Wahnvorstellungen, wenn man sie als solche erkennt?
Während sich dieser Gedanke in ihrem Kopf entfaltete, sickerte ein Tropfen hervor, den sie nicht bewusst wahrnahm: der Keim des Wahns, zart, gewichtslos. Er wuchs zwischen Wunsch, Sorge und Erinnerung und legte sich wie ein unsichtbarer, klebriger Film über alles. In wenigen Tagen würde er ihre meisten Gedanken in Anspruch nehmen. Und ohne die Frage über Wahn beantwortet zu haben, würde sich die Mutter eine neue stellen: Was passiert mit Geistern, wenn man sie gebärt?
Die Entscheidung fiel weder spontan noch aus Vernunft. Sie drängte sich der Mutter auf. Mit jedem Artikel, mit jedem Wort über Schwangerschaft wuchs ihre Sehnsucht – nach der Berührung weicher Babyhaut, nach seidigen Haaren. Es war nicht dieselbe Sehnsucht wie zuvor. Nicht die nach dem Kind, das sie verloren hatte, ohne es je gekannt zu haben. Dies hier war anders – als wollte die Natur ihres Körpers sie zurückholen, lenken, bestimmen. Eine Schwangerschaft ist kein Zustand, sondern ein Weg, ein Prozess, und genau diesen Weg schien ihr Körper von selbst wieder gehen zu wollen.
Ihr dummer Körper wusste es nicht besser.
Dem gegenüber stand auf wackeligen Beinen und von einer Sinnkrise geschwächt ihr logischer Verstand. Der wusste genau, dass ihr Körper sich alles einbildete. Und als dritte Partei stand da die Tatsache, dass ein Geist in ihr wohnte, der sich einen Scheiß um Logik und Biologie scherte. Die Mutter hatte keine Möglichkeit, eine der drei Parteien mit einer anderen zu versöhnen.
Drei Tage, bevor sie wieder zur Arbeit gehen würde, hörte sie sich die Tonaufnahme ihres Treffens mit dem Irren an. „Das ist kafkaesk“, hörte sie sich sagen und spulte vor, bis sie die richtige Stelle fand. „Ich habe nichts zu befürchten? Weder körperlich, noch psychisch?“ Sie wunderte sich, wie ängstlich sie klang.
„Dein Kopf ist deine Sache“, sagte er mit bestaubter Stimme. „Aber ich glaube, du hältst es aus.“
„Warum ist es bei mir harmlos?“
„Da passiert nicht viel. Die Beziehung ist innig genug, aber ihr werdet einander nicht viel zu sagen haben.“
Er hatte ja nicht die geringste Ahnung.
Sie hatten sich nicht viel zu sagen, das stimmte. Abgesehen davon stimmte gar nichts. Und dass er glaubte, sie könne es aushalten, war der größte Witz. Wie sollte sie das schaffen? Was konnte sie schon tun, um ein Gleichgewicht zwischen Geist, Körper und Verstand zu bringen? Eine Abtreibung? Eine Austreibung? Niemals! Sina durfte nicht gehen.
Sie sprach es nicht aus. Sie dachte es nicht. Und doch erkannte sie in diesem Augenblick zwei Lösungen für ihr Dilemma und lehnte gleichzeitig eine davon ab. Durch die bloße Ablehnung einer Austreibung, gab sie ihre Zustimmung für die Geburt.
Ihr Wahn bestand nicht in der Vorstellung, dass sie einen Geist gebären würde. Denn das würde ihr tatsächlich gelingen. Die Angst vor dem Verlust eines toten Kindes, und die Hoffnung, als Mensch die Mutter eines Geistes sein zu können, waren ihr Vorwand, sich vor dem Preis zu drücken, den sie für ihre Sina bezahlen musste. Nämlich nichts zu tun. Es auszuhalten, wie der verrückte Geisterbeschwörer es gesagt hatte. Den Konflikt auszutragen. Nicht bis zum Ende, nein. In diesem Dreierstreit eine Seite gewinnen zu lassen, hieße entweder, daran zugrunde zu gehen, oder Sina zu verlieren.
Der Wahn bestand aus der schlichten Idee, ihr Wunsch nach Geburt hätte noch was mit Liebe zu tun.
Am vorletzten Tag ihrer Auszeit ging sie im Morgennebel in den Garten der Stille, einen Friedhof für ungeborene Kinder. Stille Kinder. Sinas Grab war schlicht. Ein kleiner Grabstein mit dem Abbild eines knienden Engels und ihrem Vornamen stand zwischen vielen ähnlichen Grabsteinen. Die Mutter war allein.
Sie streichelte sich den Bauch und hoffte, dass sich etwas tat. Nichts passierte. Ihr Verstand geriet ins Stolpern angesichts des Umstands, dass sich Sina in ihr und gleichzeitig dort in der Erde befand. „Sina“, sagte die Mutter, „mein Stern, weißt du, wo wir sind?“ Es war dumm, zu glauben, Sina könnte ihre Worte verstehen. Aber sie glaubte es. Oder etwas in ihr glaubte es – und das genügte. Und Sina blieb still.
Die Mutter kniete sich hin und berührte mit der linken Hand die Erde, während sie sich mit der rechten weiter den Bauch streichelte. Und plötzlich war es nicht nur ein Kind, das zweimal existierte; plötzlich waren es zwei Kinder, die allein durch ihre Liebe verbunden waren. Ein steinernes Gewicht legte sich auf ihre Brust, eine Trauer, die keinen Ursprung und kein Ende hatte. Ein unkontrolliertes Jammern kroch aus ihrer Kehle.
Sinas Botschaft war angekommen. Was aus der Sina im Grab geworden wäre, wenn sie überlebt hätte, hatte nichts mit der Sina zu tun, die in ihr wohnte. Sina war einsam gewesen. So lange. Sie wollte geliebt werden – nicht als Erinnerung, sondern als sie selbst.
Nicht sie, Mama. Nur mich. Nur ich bin jetzt da.
Dort, auf dem Friedhof kniend, das Gesicht nass von Tränen, das Herz schwer von Kummer, wurde sie von der ersten Welle von Geburtswehen überrollt. Das waren keine Krämpfe, es war ein schwarzes Loch in ihr, das an ihrem gesamten Ich zerrte. Während die Mutter leise stöhnend zu ihrem Auto torkelte, konnte sie fühlen, wie Sina schrie.
Zuhause angekommen, konnte sie sich an nichts vom Heimweg erinnern. Panik, Schmerz, auch etwas wie Vorfreude wischten alles andere beiseite. Sie schaffte es nicht bis ins Bett. Im engen Flur brach sie zusammen. Ihre Atmung war flach, sie fühlte sich nicht, als müsste sie pressen. Diese Geburt war anders. Sina würde nicht den üblichen Weg gehen.
Sie tastete zwischen die Beine – nichts. Aber als sie hinabsah, schimmerte etwas Weißes durch ihre Kleidung. Licht. Kalt. Es kam aus ihrem Bauch, leuchtete durch Haut und Stoff.
Eine neue Welle kam, Licht wurde zu Glanz, zu greller, fast stofflicher Erscheinung. Sina, mein Stern.
Mama, mach auf. Hinein. Bitte.
– Komm, mein Stern.
Nicht drücken, Mama. Nicht raus.
– Ich drücke nicht, mein Baby. Komm.
Doch. Du drückst raus. Nein.
Nicht hinaus? Was sollte das für eine Geburt sein? Wieder zerrte etwas an ihr, und diesmal ließ die Mutter los. Ein Strudel erfasste sie, wirbelte sie fort. Welcher Teil von ihr hineingezogen wurde, wusste sie nicht – nur, dass es sich anfühlte, als würde sie innerlich bis zum Zerreißen in die Länge gezogen.
Rein, Mama. Lass mich.
– Es zerreißt mich!
Du bekommst Kuss drauf, Mami. Hab dich lieb.
Gott helfe mir, dachte sie, und hörte auf, sich zu wehren. Etwas riss – nicht ganz, nur ein Spalt weit. Aber mit einer Wucht, die sie vom Boden hob, bevor sie bewusstlos wurde.
Trübes Licht drang durch ihre Lider. Ihr Körper hätte wund sein müssen, ausgebrannt, verkrampft. Sie hätte Blut riechen, Leere fühlen, Schmerzen spüren sollen. Aber nichts davon traf zu. Ihr Körper war ruhig. Ihre Gedanken klar. Klarer als je zuvor seit jener Begegnung mit dem Irren..
Ihr Bauch war flach. Satt. Ihre Blase drückte. Mechanisch stand sie auf, ging ins Bad, erleichterte sich. Wusch sich die Hände, das Gesicht. Schaute in den Spiegel. Die Haut war rosig, die Augen wach. Sie sah gesund aus.
„Sina, mein Stern … wo bist du?“
Hier, Mama. Danke.
Die Mutter sah sich im Spiegel, gelassen, mit lächelndem Blick. Nicht ihr Lächeln, nicht ihr Blick. „Nein!“ brüllte sie stumm. „Nicht so!“
Mama?
Sie schlug sich mit aller Kraft die Handballen gegen die Schläfen. „Raus! Raus!“ dachte sie.
Und ihr Mund sprach: „Mama?“
Anmerkung von dasAli:
Noch ein alter Text, frisch überarbeitet.