Quartett Adrett (Leseprobe und Hörbuch)
Novelle zum Thema Gesellschaft/ Soziales
von S4SCH4
1.
Wim
„Frost und Eis; nichts als Frost und Eis“, murmelte Wim. Wann hatte es wohl zuletzt solche Temperaturen gegeben? Vergraben in siebzehn Lebensjahren, konnte er keine Erinnerung finden, die zu dem gerade vorherrschenden, anhaltenden Kältegrad passte. Der Blick auf die Temperaturanzeige, fror den Jungen, an dieser, sprichwörtlich fest. Wie ein Kartenhaus lag die Stadt in Weiß und in Grau vor ihm aufgebaut: eine Unmenge an Lichtern, verbanden sich, mit einem monochromen Gebilde architektonischer Flächen zu einem städtischen Panorama.
Auf den Straßen: Ausnahmezustand; zumindest was die Versorgung der Obdachlosen betraf-, insbesondere in jenem lokalen Bezirk, welchen die trendigen Einwohner in ihrem subkulturellen Eifer, „Arthaus“ getauft hatten. Spärlich öffneten im vergangenen Sommer, einige neue Läden und Lokale, hier und dort arrangierte man unkonventionelle Partys und Ausstellungen. Aufstrebend, bezeichnete man in der Stadt, jenes Viertel und die lokalen Magazine wussten konsequenterweise, bereits von einer „zukünftigen Szene“, von einem „Mega-Hype“ oder von einem „Must-seen“. Nicht zuletzt deswegen, erhielt das besagte Viertel auch eine besondere Auszeichnung seitens eines lokalen Radiosenders, der in Kooperation mit dem städtischen Kulturrat, die Rubrik „vielversprechend und verheißungsvoll“, kurz: „vvuvv“ etabliert hatte und infrage kommendes, kürte.
Das alles war augenblicklich Nebensache. Es war eisig bis in die Knochen. Wer die Situation verstand, der fand, gegenseitige Ergänzung und vergalt Lebenswärme mit selbiger. Erwärmend handelte der lebende Körper an Gleichgesinnten; so geschah es jedenfalls überall dort, wo der eisige Winterhauch der Beton und Stein umwehte, noch nicht in Fleisch und Blut eingezogen war und die Gemüter reglos füreinander hemmte.
Schloss Louis
„Schloss Louis“ nannten die Obdachlosen ihr charmantes und altes Fabrikgebäude. Es bot ihnen Wohnung, war umgeben mit einer dezenten Grünanlage und fand bauliche Verortung an zentralem Platz des aufsteigenden Stadtviertels. Mehrere Etagen stapelten aufeinander und in ihnen waren einzelne Parzellen, um größere Hallen, angeordnet, die als Schlafplatz genutzt wurden. Die riesigen-, aber einfach verglasten Fensterscheiben, die größtenteils noch in Gänze ihre Fassung wahrten und an denen das Eis eine dicke Reifschicht bildete, blickten trübe auf den Innenhof zum jungen Wim. Der wiederum, wischte dort, mit seinen festen Winterstiefeln, einige Spuren in den Schnee. Gedankenfrei kreisten die Spitzen seiner Schuhe im pulvrigen Weiß und es knarzte regelmäßig, wenn die Sohlen einen aufgeschobenen Schneehaufen plattdrückten. Abgestempelt wurden die eingeprägten Schneezeichen so schließlich mit seinem Fußabdruck. Ein weißgelb gestreifter Anorak barg seinen hageren Körper, ein dicker grauer Schal mit passender Wollmütze schützten ihn ober- wie unterhalb des Gesichtes. Wim gehörte zu den „Gästen“ des Schlosses Louis, denn so nannte man in scherzender Überheblichkeit, gerne jene, die öfters nur für eine gewisse Zeit, „Quartier am Hofe bezogen“. Tatsächlich hatte der Junge keine Ahnung, wie lange er bleiben würde, er war ja erst angekommen. Gestern Abend um genau zu sein.
Die Familie
Wim kramte sein Telefon aus der Tasche und wählte darauf, dies in der Absicht, sich bei seiner Mutter zu melden. Er zitterte ein wenig vor Aufregung und meinte, bereits zu lange, nichts von sich hören gelassen zu haben. Rückwärtsrechnend, kam er dabei auf einige Wochen, die der letzte Besuch bereits her war und der im Übrigen, im Streit geendet hatte.
Auseinandersetzungen mit seiner Mutter waren keine Seltenheit, doch mehr als dieses bekannte und gewohnte Reiben zwischen den Beiden, aufgrund unterschiedlicher Perspektiven- die doch stets wieder zur Verbindung strebten und Einigung erreichten-, schien ihm die stille Präsenz seines Stiefvaters deutlicher zu missfallen. Der alte und ihm kaltherzig erscheinende Mann, brachte eine subtile Autorität zur Geltung, die ihn innerlich erschaudern ließ. Wim konnte diese Autorität nicht anerkennen. Nichtsdestotrotz, gelang es, inmitten der ohnehin wirren Zeiten seines spätjugendlichen Eifers, nur sehr schwer, von Angesicht zu Angesicht, einen passenden Hebel zu finden, mit dessen Betätigung ein Mechanismus zu finden war, der, die überbordende autoritäre Kraft dieses alten Mannes zu entfliehen verhalf.
Der Anruf bei seiner Mutter war indessen nicht erfolgreich, er hatte lange durchwählen lassen und wartete einige Zeit, doch niemand ging an den Hörer. Er packte das Telefon wieder in seine Tasche.
Einige Sekunden später klingelte es.
Wim nahm das Gespräch an, ohne zu schauen, wer als Anrufer angezeigt war. Er vermutete das es seine Mutter war- und tatsächlich:
„Wim, Wim bist du es?“, hallte es durch den Hörer.
Der Junge drehte das Telefon, bis er meinte, gut hören zu können.
„Ja, ich bin´s. Hallo Mutter.“
„Wie geht es dir?“, fragte sie.
„Gut und dir?“ Wim schaute in den Schnee und wartete.
„Du hast solange nichts von dir hören lassen. Ich habe
mir Sorgen gemacht und dein Vater…
„Er ist nicht mein Vater.“
Die Frau schwieg einige Sekunden, fuhr daraufhin fort:
„Dein Stiefvater…“ Wim unterbrach abermals:
„Warum sprichst du von ihm? Erzähl mir doch lieber wie es dir geht.“
„Naja, wir haben Letzens von dir gesprochen und er meinte…“
„Mutter! Es interessiert mich aber nicht was er meinte.“ „Schöne Grüße soll ich dir von ihm ausrichten.“ Der Junge schnaufte.
„Mir ist kalt“, meinte er.
„Komm doch wieder nach Hause. Lass uns drüber reden.“
„Wir haben doch schon so oft…“, Wim verstummte.
„Ja, vielleicht hast Du Recht“, sagte er leise.
„Aber gib mir noch ein bisschen Zeit, ja.“ „Willst du einmal mit deinem Vater reden?“ „Mutter!“, platze es aus ihm heraus.
„Warte mal kurz.“ Es dauerte einige Sekunden bis eine männliche Stimme sich am Telefon meldete.
„Hallo. Hallo.“
Der Junge verdrückte eine Träne und legte auf.
Wim drückte, ein vorerst letztes Mal, seinen Fuß in den Schnee, diesmal dreht er das Fußgelenk dabei im Winkel hin und her und verharrte eine Weile. Er empfand Einsamkeit und einen Schwall an Gedanken, die ihn, in eine Tiefe entrissen. Er schrie laut auf. Schreiend bald auch ein zweites Mal-, gegen die Sogkraft, gegen das gedankliche Entziehen seines weltlichen Bodens auf dem er stand. Schließlich ein Dritter und letzter Schrei, ein letzter Schrei als „Ja!“, als Standpunkt.
Der Ausschrei war bald verklungen und die weichen Linien seines Gesichtes entspannten sich langsam wieder. Seine blauen Augen nahmen ihre rundliche Form an und die schulterlangen, blonden Haare band er zusammen. Wim ging langsam in Richtung des Haupteinganges des <Schloss Louis>.
Vor dem Eingang parkte ein großer Transporter, die Karosserie war gelb mit großen blauen Punkten, darauf der Schriftzug: <MobDach>. Das Fahrzeug gehörte zum Fuhrpark der Stadt, genauer: der mobilen Obdachlosenhilfe. Aus den hinteren Flügeltüren des Gefährtes gaben zwei Helfer, die an ihren blau gestreiften Daunenjacken zu erkennen waren, Decken und Kleidung aus, während zwei weitere Personen, unweit davon, einen Stand errichtet hatten, der warme Getränke und Suppe anbot. Ein Radio lief dazu und spielte Weihnachtsmusik. Die Stimmung war aufgeheitert.
Auf dem Platz tummelte sich eine Schar von bunt vermummten Gestalten, eingekleidet-, oder besser gesagt, eingehüllt, waren sie. Ummantelt von vielfältigen Stoffen, die für einen wärmenden und trockenhaltenden Zweck nur irgendwie verwertbar waren. Wo die Stoffe herkamen, war dabei egal, nur der eine lebenswirkliche Umstand und die daraus abgeleitete Empfindung einer Notwendigkeit verfügte darüber, was, wie, nutzbar zu machen sei.
Wim dachte: „Könnte man für einen Augenblick vergessen, dass dieser Ort, relativ zu anderen Erinnerungen und Vorstellungen etwas sei, von dem irgendwoher gesagt werden würde, er wäre nur suboptimal, und eine Stufe niedriger als etwas konventionell Gedachtes, dann wäre dieser Augenblick vielleicht nicht unterschiedlich von dem einer hippen Szeneparty“.
Wim fühlte im geschäftigen Treiben eine gewisse Ruhe. Das Gefühl der Einsamkeit war verflüchtigt. Weniger geschah es, weil man nur irgendwie unter Menschen war, sondern, weil Gedanken teilhaft an Umständen waren, in denen Menschen, anderen Menschen halfen. „Ob das wohl auch ein Hebel ist?“, fragte er sich selbst; rückblickend.
Ein weiterer Transporter fuhr vor. Aus ihm stiegen vier Männer und eine Frau aus. Erstere schulterten in Paaren, je eine Leiter, während die Frau ein zusammengerolltes Transparent trug und den oberen Abschnitt, über der Haupteingangstür, betrachtete.
Je ein Männerpaar stellte an den beiden Enden des Haupteingangs sodann eine Leiter auf und organisierte das Untereinander im Folgenden so, dass eine Person feststellend, am Grund des nun sprossengestuften Aufstiegs, Sicherung bot, während eine andere Person emporstieg. Nachdem etwa ein Meter über der Tür eine Befestigungsschiene angebracht war, stiegen die beiden Männer wieder hinab und die Frau übergab den beiden, je ein Ende vom gerade noch zusammengerollten Transparent. Mit diesen Enden in der Hand, stiegen die beiden Männer schließlich wieder Sprosse für Sprosse hinauf und fassten dort, die obere Kante des Transparentes in die Führungsschiene ein, um diese mit ein wenig Druck festzuklemmen. Die Frau positionierte dabei durch ihre Betrachtung, vom Boden aus; mittig zwischen den beiden Leitern gab sie Instruktionen zur Ausrichtung des Transparentes. Ihre Stimme war sanft und durchdringend.
Wim beobachtete das Geschehen und bemerkte-, warum auch immer-, dass die Frau, im Zuge der Hinweise an ihre Kollegen, nicht Begriffe wie rechts oder links nannte, sondern die Personen direkt anredete. Die Verständigung schien dabei unbestimmt abzulaufen, aber jeder wusste aber was gemeint war.
Nach etwas hin und her, hing das Transparent; man las: „Alles Vielfältige kommt unter einem Dach zusammen. Je mehr sich unten bewegt, desto mehr es oben trägt.“
Höfliche Worte, fand die Frau für ihre Kollegen zum
Dank und eine leichte Verneigung unterstützte ihren lobenden Ausdruck. Die Männer fuhren indessen die Leitern wieder ein und trugen jene, zum Fahrzeug zurück. Die Dame versicherte sich derweil mit einem Griff in die Handtasche, dass sie bestimmte Dinge dabeihatte; Wim konnte nicht erkennen, was die Frau suchte, konnte aber erkennen, dass das Gesuchte nicht vermisst werden musste.
Neugier, beschlich den Jungen. Innerlich fragte er sich, ob sie wohl auch dem MobDach– Team angehörte und vor allem suchte er zu erklären, wie jemand derart freundlich, einfach und gleichzeitig sympathisch scheinen konnte. Irgendetwas zog ihn zu ihr. So rückte er seine Mütze zurecht, band den Schal noch einmal straffer, versenkte seine Hände in den Seitentaschen seines Anoraks, und beschritt kurz darauf einen Bogen in Richtung des Haupttores.
2.
Cynthia
Die Entfernung, zu der Frau, die den Aufbau des Transparentes beaufsichtigt hatte, betrug etwa zehn Meter. Zurückblickend sah Wim, die tief in den Schnee gepflügte Spur seiner Füße und Waden. Er drehte einen Kreis und blickte wiederholt auf das Transparent; es hing fürwahr gerade und zentriert. Die Frau bemerkte den Jungen in ihrer Umgebung, sie lächelte und kam auf ihn zu. Er überlegte, was er über sich erzählen solle. Wim war unsicher und es war zweifelsohne eine jugendliche Unsicherheit, gepaart mit jungfräulicher Schüchternheit. Der Junge überlegte angestrengt. Für jedes seiner Lebensjahre hatte er ja ungefähr eine Sekunde Zeit.
„Hey!“
Da war sie also.
„Hey!“, antwortete der Junge; die Hände noch in der Tasche, den Blick zu Boden gerichtet.
„Ich bin Cynthia“, sagte die Frau und drehte ihren Kopf ein wenig, um den abwärts gerichteten Blick von Wim zu erfassen; sie lächelte dabei. Der Junge erhob seinen Blick daraufhin, als hätten ihre Augen ihn selbst gerade abgeholt und den Blick nach oben gefahren; er lächelte nun ebenfalls.
„Wim“, sagte er und fügte kurz danach hinzu:
„Also, so ist mein Name.“
„Okay…, also wohnst Du hier? Wenn ich das fragen darf.“
Wim war nicht sicher was er sagen sollte und zuckte mit den Schultern. Einen Augenblick lang war es ruhig, dann fuhr er fort:
„Naja, hin und wieder. Seit gestern bin hier. Mal sehen.“ „Brauchst Du eine Decke oder Kleidung? Meine Kollegen haben allerhand dabei.“
Wim überlegte und sagte nichts.
„Ach übrigens, ich bin von MobDach. Tut mir leid, das habe ich vorher nicht erwähnt.“
„Schon okay, hab´ ich mir gedacht, wegen den Klamotten und so.“
„Und? Brauchst du was davon?“
„Später vielleicht.“
Der Blick von Wim schweifte ab, betrachtete die Ferne und das Gespräch stockte. Cynthia kramte in ihrer Tasche. Gleich würde er wohl erfahren, was sie vorhin gesucht hatte, oder darüber zumindest eine wahrscheinliche Ahnung bilden können. Die Frau zog eine Karte, aus einem mit Gummiband zusammengebundenen Stapel. „Hier, besuch mich doch morgen einmal in der Beratungsstelle… dann sehen wir, was wir für dich tun können. Wie alt bist Du denn?“
Cynthia reichte ihm die Karte. Wim zog seine Hand aus der warmen Grube seiner Jacke und nahm die Visitenkarte in der klirrenden Kälte entgegen.
„Siebzehn.“, sagte er und verscharrte die Karte zusammen mit seiner Hand wieder am gewohnten Ort in seinem Parka. Selbstvertrauen durchfloss ihn und seine Gedanken begannen aufzutauen, während er Cynthia direkt in die Augen blickte. Nun schien ihre Person ein wenig Verlegenheit zu zeigen und lächelnd mummelte sie ihr Kinn in ihren rosafarbenen Schal.
„Also?“ fragte sie nochmal.
Wim blickte erstaunt, als hätte er vergessen, um was es ging.
„Kommst du morgen vorbei?“
„Wozu?“, fragte der Junge mit einer, wohl ein wenig, halbstarken Attitüde.
„Wir beraten dich in Bezug auf eine Unterkunft und Schule oder Ausbildung und so weiter. Je nachdem, was Dir liegt. Was du machen möchtest.“
Ausgehend von den Füßen des Jungen zog es ihm nun ein wenig fröstelnd in die Beine. Er bewegte seinen Körper, indem er die Glieder auf der Stelle lockerte, tänzelnd wippte er, die Kälte fort.
„Unterkunft?“ fragte er dann.
Cynthia lächelte wieder, Wim erschien ihr sympathisch. Die naiv- scheinende Art des Jungen, gepaart mit einem Benehmen, das sich der Gegenwart hingab ohne darüber viel nachzudenken, fand Anklang im Empfinden der sozial engagierten Frau.
„Ja, es gibt zum Beispiel einige Wohnprojekte. Gruppen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen leben zusammen, sie organisieren eigenständig den Alltag und erhalten Unterstützung- entsprechend ihren Wünschen. Wir können gerne besprechen, ob das auch für dich in Frage kommen könnte.“
„Okay“, antwortete Wim.
„Schön, vielleicht gleich morgen früh; neun Uhr?“ „Ja passt“, antwortete Wim ohne viel nachzudenken.
Die Hand von Cynthia verschwand abermals in ihrer Handtasche, doch diesmal griff sie ihr Smartphone. „Ich notiere mir das eben einmal“, sagte sie und fing an, auf dem Bildschirm des Gerätes zu wischen und zu tippen.
Wim machte eine billigende Geste, „sie solle tun, was sie meine, das zu tun sei“, dachte er.
Seinerseits wischte er daraufhin weitere Spuren in den Schnee; nicht groß, kaum erkennbar, denn das Tun war konzentriert auf bewegenden Minimalismus, auf Gleichförmigkeit und auf Konzentriertheit; wartende Betätigung ohne eigenständiges tätig sein zu wollen, vielleicht; Manche nannten es auch einfach Passivität.
Sie lächelten einander kurz zu und verabschiedeten sich mit wenigen Worten; ohnehin sollten sie sich ja morgen wiedersehen.
Berührung
Cynthia war auf dem Sprung. Wim blieb noch einen Augenblick stehen. Sein Blick verharrte auf der Stelle, an der seine Gesprächspartnerin gerade noch gestanden hatte, er wartete auf eine resümierende Empfindung. Die Frau ging zurück in Richtung ihres Fahrzeuges. Die, sie begleitenden Männer hatten Leitern und Werkzeug, also was eben zum Aufbau des Transparentes zur Verwendung gekommen war, bereits verstaut und standen mit einem Becher Kaffee, in der Nähe des Speisenstandes ihrer MobDach Kollegen. Die Männerrunde war heiter und zufrieden in Folge des Geleisteten, wartend genossen sie die Zeit, bis Cynthia, sie zur neuerlichen Abfahrt schließlich wieder abholen sollte.
Wim hatte sowohl Fantasie als auch Vorstellung. Ferner dachte er jetzt daran, eine Zeichnung in sein Skizzenheft zu machen, vielleicht eine Sonne, die umgeben war von Planeten auf denen geschichtete Bergwälle türmten. Alles umhüllt von einem transparenten Nebel.
Freude weckte es in ihm, wenn er daran dachte, Cynthia morgen wieder zu sehen, ohne dass er für das Treffen ein maßgebliches oder dringend dingliches Begehren empfand, denn Wohnung oder Beschäftigung gaben ihm dazu keine Anreize. Glücklich wäre er, wenn es dort trotzdem geschähe, ohne dass eine Person einseitig schauend fordert und erwartet, was eine andere Person nicht versteht, dachte er. Und allein diese Aussicht, ein Moment des Zutrauens, ließ einen Antrieb in ihm erwachsen, der nun einen Plan und eine Handlung formte.
Aus übereinstimmendem Verständnis heraus sollte Geschehen passieren. Wim ging in das Innere des Schloss Louis.
Die Fahrzeuge fuhren ab und Cynthia mit ihnen, sie blickte durch das Autofenster zurück auf das Transparent. Der Fahrer schaute durch den Rückspiegel zu ihr und bedankte sich in Namen der Männer. Cynthia erinnerte den Fahrer daraufhin daran, an der Allee, die zum Zentrum führte, anzuhalten, und sie dort aussteigen zu lassen. Sie hatte Besorgungen zu machen, arbeitete ohnehin mit flexiblen Arbeitszeiten- auf sogenannter Vertrauensbasis- und wollte ihre Schwester treffen. Es dauert nur wenige Minuten, da hielt der Wagen auf den Parkplätzen der Allee. Die Frau stieg aus dem Fahrzeug, ging zum Kofferraum, wechselte dort Jacke und Overall aus dem Bekleidungsfundus des MobDach Teams gegen ihren zuvor eingepackten, eigenen Mantel und Pullunder, schloss den Kofferraum und winkte abschließend noch einmal. Das Auto fuhr den Verlauf der Straße fort, während Cynthia neben den Lindenbäumen der Allee fortging.
Die umliegenden Flächen der Allee, welche, wenn nicht gerade vom Schnee bedeckt, schön grünten und vielen Menschengruppen zu sitzendem und gelassenem Verweilen einluden, waren jetzt vornehmlich zum Betrieb kreislauferhebender Betätigung inmitten kalter Witterung geworden. Vornehmlich waren es Kinder, die ihren Spaß darin fanden, allerlei Schneegebilde zu bauen und sie zum Mittelpunkt eines winterlichen Festes zu machen.
Cynthia beobachtete unweit, eine Gruppe die dazu ein ganzes Sammelsurium zusammengebaut hatten; sowohl ein Iglu, als auch mehrere Schneemännchen, wie auch ein Wall mit Eingangspforte war um die Gebilde zusammengetragen und mit Fäustlingen gut verfestigt. Die Oberfläche der eisigen Gestaltung glänzte stark und hob sich damit von dem porösen Schein, des feinen Pulverschnees, ab, der sonst überall herumlag. Um einen etwa einem Meter hohen Wall türmte die Gruppe der Winzlinge, die eben nicht größer waren als der Wall selbst, einige Erhebungen auf und stellten darum, alles was sie an verwertbarem Holz während ihren Grabungsarbeiten im Schnee gefunden hatten, so auf, als seien es kahle Bäume, eines um den Wall befindlichen hügeligen Waldes.
Einen Moment der Unsicherheit, brachte ein, etwa, halbmeterhoher Hund herbei, der über die Flächen gehastet kam und die Werke der wuseligen Gruppe, als Ziel seines Auslaufes, gewählt hatte. Doch ein Pfiff durch die Hundepfeife ließ das rasende Tier bald wieder umkehren. Erfreut der glücklichen Wendung wegen, lachten und scherzten die Kinder im festen Zutrauen darauf, dass ja sowieso nichts und niemand die Mauer je durchbrechen könnte und das jeder, der sowas vielleicht einmal kurz in Erwägung ziehen sollte, nicht lange an Ausdauer und Überzeugung behalten könne. In ihrem Tun so bestätigt, fand die Schar der Knirpse, nur weitere Kraft um ihre Gebilde weiter und höher zu bauen und ihr zweifelsfreies, nunmehr auch aus Überzeugung und Erfahrung gefestigtes Schaffen, machte ihr Betragen nur noch zielstrebiger.
Cynthia schoss mit dem Smartphone ein Foto von der schwärmenden Geschäftigkeit und sendete das Bild an ihre Schwester, während eine weitere Kurznachricht ihr mitteilte, bald im Café zu sein, denn die Absenderin-, ihre Schwester-, befände sich auf dem Weg.
Johanna
Die Eingangstür zum Café öffnete und stieß oberhalb an eine Glocke mit einem Windspiel an. Die daraus entstehende Tonfolge, setzte ein etwa zehn Sekunden langes Geklingel in Gang, das den Raum, inmitten eines regen Lokalbetriebs, füllte. Illustre Freude lag in dem Stimmengemenge, wie Cynthia feststellte und es duftete nach frisch gebrühten Kaffee, nach gebackenem Apfelkuchen und sogleich nach warmen Waffeln, die von hübsch anzusehenden Kellnerinnen, mit Sahne, Eis und Fruchtmischungen, variationsreich serviert wurden.
Gleich links neben dem Eingang, auf dessen innenliegendem Bodenableger, Cynthia gerade noch ihre Füße abtrat, um möglichst trocken durch das Lokal zu gelangen, begann der Thekenbereich. Eine große Auslage stellte dort Gebäck und Torten aus, verstaut in temperierten Glasquadern, boten sie den Passanten mit Blicke durchs Schaufenster, sowie den- ins Lokal eintretendenGästen, eine direkte Präsentation, einen äußerst geschmackvollen, ja einladenden und zum Verweilen anrührenden, Anblick.
Bunt gestapelt waren dort marmorierte Kuchen, deren Anteile aus Schokolade und Vanille miteinander spielende Umschlingung, Punkte wie Streifen zeigten, und deren Oberflächen, Ecken und Rundungen, von allerhand Nusssorten, bunt gemischten Schokokapseln, Karamellen, weißen Kokosraspeln und derlei Backbeiwerk, bestreut waren. Torten mit Kirschen, Mandarinen,
Feigen, Rosinen, Datteln und Trauben, die in Wolken aus Sahne, über Quark, Mascarpone und luftigen Teigmassen gebettet waren, boten sich vernaschendem Vorhaben an. Handflächengroße Kekstaler, deren leicht gewellte Oberfläche mit Butter oder besonderen Fetten und Ölen bestrichen war, glänzten schimmernd in der beleuchteten Auslage. Kleinere Süßigkeiten, wie Baiser, Strudelteigstückchen und in Zuckersirup eingelegte Baklava- Würfel mit Pistazienhaube, lagen zudem in rechteckigen Formen aus. Cynthia ließ den Blick, von einer Köstlichkeit zur nächsten wandern und genoss das Gebotene eine Weile lang, bis sie schließlich näher in den Eingangsbereich trat, der ferner in gerader Richtung, in zwei mittelgroße Räume führte, während sich ein etwas größerer Raum zur Linken zeigte. Ihre Blicke suchten die schwesterliche Verabredung und meinten bald, dass jene, im hinteren Ladenteil, also im zweiten Raum geradeausliegend, zu erkennen war. Cynthia legte erst ihren beigefarbenen Mantel am umliegenden Kleiderständer ab, grüßte dabei das begegnende Personal des Lokals, und machte sich auf den Weg durch den ersten, mittelgroßen Raum.
Als die Frau etwa die Hälfte der Wegstrecke zurückgelegt hatte, winkte es ihr entgegen, ihre Schwester saß also am vermuteten Platz.
Bekenntnisse
Johanna war etwas schlanker als Cynthia, ein wenig größer was den Körperbau betraf, aber doch mit den gleichen, schönen und klaren Augen, von denen man im Übrigen niemals sicher sagen konnte, ob sie nun grün oder blau seien, denn chamäleonartig schien ihr Anpassungsvermögen.
Die Gesichter glichen einander ebenso, wie es für zweieiige Zwillinge geschehen mochte und beide wiesen, feine Züge um Gesicht und Nase auf, so als hätte ein dünner Pinselstrich, auf das Genaueste, gerade und harmonisch gearbeitet.
Die Lippen gaben ein blasses rosa zu erkennen und waren in einer einfach gestalteten Form wenig aufdringlich, während, die zarte Schlichtheit einer stillen und doch sinnlichen Ausdrucksweise jener mundumschließenden Züge, äußerst anziehend war; eben unaufdringlich zurückhaltend, aber in jedem Augenblick auch immer vielversprechend. Es war ganz so, als dürfe man mit jeder ausgesprochenen Silbe, eine Erfüllung, von etwas stets Geheimen und innerlich zartfühlend Blühendem erwarten. War diese Verheißung nun aber nicht ausgesprochen, oder zum Ausspruch überhaupt fähig, so lag es in der Form- die etwas auszusprechen fähig war doch selbst immanent aufs Sicherste eingeschlossen. Da das Erwartungsvolle mit jeder Silbe verbunden war und erwartend blieb, hing man an den Lippen fest, ersehnend jeden fortregend bewegenden Impuls; man bekam kaum genug sie sprechend in Bewegung zu sehen und noch weniger davon, die Momente ihres ruhevollen Stilllebens zu genießen.
Die Beiden umarmten einander, sie grüßten und beherzten mit freundlichem Wort, und nahmen gemeinsam Platz am Tisch. Eine Kerze beleuchtete die vorliegende
Tischplatte, kaum merklich, inmitten des mittäglichen Winterlichtes und es war bemerkenswert, wie die reine Anwesenheit der sanft zuckenden Flammenzunge, ein angenehmer Kontrast zum gewohnten weiß der verschneiten Straßen, Häuser, Parkanlagen und Wiesen war. Reizend waren die holzvertäfelten Wände, an denen farbenreich allerlei Bild- und Gestaltungskunst angebracht waren. Außerdem Kuckucksuhren aus dem Schwarzwald, feines Porzellan aus Sachsen und Töpferwaren aus dem Norden stellte man kreuz und quer durchmischt- aber nicht ohne Sinn für dingliche Komposition, auf Regalen aus. Dazwischen Ölgemälde, synthetische Replikate und hochwertige Drucke mannigfaltiger Motive, deren intentionierte Sache man nicht selten erraten musste, oder über deren mutmaßliches Vorbild man zumindest leicht in einen Diskurs geraten konnte. Kurzum: die Gestaltung mochte der Ordnung im gewohnten Anblick wohl wild erscheinen, wusste aber durch geschmackvollen Gehalt durchaus auch zauberhaft und schicklich zu sein.
„Wie geht's?“ fragte Cynthia.
„Ja, ja gut; läuft im Grunde alles, also mehr oder weniger, das Übliche halt. Und bei Dir?“
„Ja auch so; nichts Besonderes.“
Cynthia wandte ihren Blick dabei ein wenig ab und überlegte. Johanna bemerkte die Geste ihrer Schwester und begann nachzufragen:
„Und wegen Didier? Hängst Du da noch dran?“
Cynthia überlegte. Unbehagen konnte sie der Sache nicht gänzlich absprechen, aber es war zumindest kein gegenwärtig empfundenes Problem wie sie meinte.
„Naja, so lala.“
Johanna machte eine verständnisvolle Mimik und fuhr fort:
„Hat er nochmal angerufen?“
„Ich glaube auf der Mailbox ist noch was, aber was, keine Ahnung, was soll´s auch?“
„Ja genau. Was soll´s! Ich meine: was geht´s dich noch an? Die Sache ist aus. Punkt. Abgedreht. Aus die Maus.“ Cynthia lächelte.
„Ja genauso ist es. Den Rest soll doch der Anwalt machen.“
„Oh Mensch, Scheidung ist grässlich.“ Cynthia nickte; sie fragte nun ihrerseits weiter:
„Wie ist´s denn bei Dir? Ich meine ist mit Clay alles in
Ordnung?“
Johanna zupfte und wischte ein wenig an ihren Fingernägeln herum.
„Kann man so sagen. Du kennst ihn ja, seine wirre Art und so. Das macht´s mir ja manchmal echt nicht leicht. Er meinte letztens, mir bald Etwas über seine Geschäftsidee erzählen zu wollen. Aber was und wann, keine Ahnung.“ „Und selbst?“
„Naja weißt Du ja. Haben wir am Wochenende schon drüber gesprochen, es passiert eben alles sehr… schleppend. Es fehlt das Geld, also keine kalkulierbare Einnahme und so. Weißt du?“
„Ja verstehe. Aber du hast noch große Träume?“ „Ja, große Träume auf jeden Fall. Das kann man wohl laut sagen.“
„Dann schrei es doch laut raus.“
„Wo hier?“ fragte Johanna überrascht von dem Rat aber nicht abgeneigt.
„Ja klar… hier oder auch draußen, wie du willst.“
„Dann lass uns kurz raus.“
Die beiden kicherten und verließen ohne Umschweife das Lokal. Draußen angekommen schrie Johann unumwunden:
„Große Träume!“
Unmittelbar danach dann Cynthia:
„Große Träume!“
Beide schauten sich an. Dann schrien sie noch einmal gemeinsam: „Große Träume!“
Sie umarmten einander und drückten sich beherzt zusammen, um anschließend wieder hinein zu gehen und am gewohnten Tisch, Platz zu nehmen.
Die Beiden gaben Bestellung auf und verzehrten daraufhin Erdbeer- Käsekuchen, Wildkirsch- Schokoladentorte, Kiwi-Mandarinenschnitten, Donauwelle und gossen dazu einige Tassen Jasmin-, Kamillen- und Früchtetee ein. Rund aufgebläht saßen die Beiden schließlich bis zum Nachmittag auf ihren Stühlen und fanden Unterhaltung über alles Mögliche. An schnelle körperliche Bewegungen war nicht mehr zu denken und spontanes Aufstehen, um der Welt etwas zuzurufen, war passé. Die reichen Speisen hatten sie in eine Komfortzone gedrückt und angenehm eingeschlummert waren ihre Bewegungen durch die süßen Versprechungen des Backwerkes, jenem zuckerdurchfluteten Balsam, das verwöhnende Augenblicke formt.
Zufrieden beglichen die Beiden ihre Rechnung und versprachen einander, die nächsten Tage zu telefonieren.
Cynthia ging zur naheliegenden Bushaltestelle und Johanna ging auf dem Fußweg durch die Stadt nach Hause, denn ihre Wohnung lag circa siebenhundert Meter weiter in Richtung des Stadtkerns.
Stadtluft
Aus dem Weinviertel führte, eine geradeaus laufende Straße zum Stadtkern hinaus, welche nach etwa zweihundert Metern in die städtische Fußgängerzone mündete. Bis dahin war die Verkehrsstraße umgeben von breiten Gehwegen, zwischen denen Bäume, Radwege und Büsche, sowohl eine visuelle- als auch eine akustische Trennung schafften. Gemächlich ging Johanna, den, von weißorangenen Laternenlicht bestrahlten Gehweg voran und nachdem jener Abschnitt erreicht war, welcher die Fußgängerzone einleitete, bog sie eben dort ein, passierte die Verkehrspoller und merkte, wie der unterschwellige Lärm der Autos, der Busse, der Lastwagen, der Motorräder und aller sonstig motorisierten Maschinen, sukzessive im dichten Gedränge der Fußgänger und Läden verklang. Stimmen, Schrittfolgen und Melodien übernahmen das Geschehen.
Die Lichter schienen bunter und auffallender in der aufziehenden Dämmerung. Es war später Nachmittag und das Tageslicht sparte- aufgrund winterlicher Umstände- weitere Sonnenstrahlen auf. Sonnenferne und abgeneigter Erdumlauf, welche der Jahreszeit durch kosmische Gesetzmäßigkeiten ureigen zugeschrieben waren, lehrte einmal mehr die Wirkkraft der Sonne zu schätzen.
Die Stadt war im Trubel. Feierabendstimmung am späten Nachmittag, gepaart mit einem ohnehin immer präsenten Weihnachtsrummel während der Winterzeit eines ausklingenden Jahres, sorgten für Tumult. An den innenliegenden Seitenadern der Fußgängerzone, gaben Straßenmusiker sich die Klinke in die Hand, während bunt- beleuchtete Tafeln allerlei Angebote anpriesen und in den Parfümerien und Konditoreien alles andere als Trübsal herrschte.
Johanna blieb kurz stehen und überlegte ob ein Ausflug in die Duftwarenabteilung ihr wohl gefallen werde. Vor ihr lagen bereits eine Vielzahl von Duftstreifen, die befeuchtet mit diversen Parfümproben, nach dem Ladenbesuch weggeworfen worden waren.
Der Laden selbst war äußerst hübsch. Frontal war der Eingang weit geöffnet, daneben große, fast die gesamte Eingangsfassade überspannende, Fensterflächen und Türen. Johanna blickte hinein: Im Inneren war es geräumig, mit viel Platz. Etwaige Kunden waren nicht angehalten in engen Gängen, mit hohen Regalen, irrgartengleich, Erkundung der Lokalität erst zu suchen, denn vielmehr war alles sichtbar von jedem Ort aus, überschaubar durch nicht- sperriges und feines, filigran, aber funktional gebildetes Interieur. Wohlgeordnet waren die Waren in mittelgroßen Auslagen und Kommoden. Cremes und Lotionen hatten Platz in einem besonderen Bereich, auch bot man dort eigene Herstellung derselben an. Auf einem unweit daneben platzierten Liegestuhl, kam erwählte Kundschaft in den Vorzug von Gesichtsmassagen und durfte daneben noch fachhändischen Auftrag von vielerlei Proben genießen. In weiteren Bereichen lagen alle Arten von Schminkartikeln aus. Den Hauptteil des Geschäfts gestalteten die vielen bunten Parfumfläschchen.
Johanna trat ein, sah wie eingespannt das beratende Personal war und ging weiter in den Bereich der Parfüme. Umblickend, hob sie dort, eines der ersten Gefäße, welches ihr Auge im hellen Glanz der Beleuchtung erblickte auf und betrachtete es näher. Das Glas war dick und fragmentiert und hatte im Grunde ein großes Dreieck, auf dem sich einzelne kleinere Dreiecke, wie weitere Fraktale, pyramidenartig auftürmten und anreihten. Die Flasche schien auf den ersten Blick weniger des Inhaltes wegen, als umso mehr der äußeren Formgestaltung halber, äußerst kunstvoll und interessant. Das Gefäß lag angenehm in der Hand, denn die äußere umfängliche Form des Glases, passte anschmiegsam in die Handfläche, ganz so wie ein Stückchen Stern die Fassung in den Abendhimmel fände. Gleichsam waren die einzeln hervortretenden Fraktale der Ampulle derart beschaffen, dass die gesamte Handfläche und die Finger angenehme, selbstbestimmte, Stimulation erhielt. Der Tastsinn empfand so einerseits, eine Umfänglichkeit und Umfasstheit des Ganzen und durfte dabei gleichsam, einzeln markante Teile in eindringlicher Weise spüren.
Johanna fuhr mit ihrem Daumen sachte über die Oberfläche der Flasche und fühlte je nach beigegebenem Druck, den sie dabei über Gelenke und Sehnen ihrer
Hand aufgab, mal eine spitzere und mal eine schärfere Kontur und mal eine rundlich, weichere Art der Oberfläche. Alles in allem war sie von der gesamten Gestaltung, vom Äußerlichen und von der Haptik derart angetan, dass sie das Fläschchen bereits ohne jeglichen Inhalt für beispiellos und wünschenswert hielt. Nichtsdestoweniger verwehrte sie es dem Parfüm nicht, den flüssig- gelblich schimmernden Inhalt, auch zur Geltung kommen zu lassen. Sodann sprühte sie, den sich in Wogen bewegenden Inhalt, aus der Ampulle, aus einiger Entfernung auf weißen Duftstreifen und wedelnd schwang sie das benetzte Papier einige Sekunden lang durch die Luft und führte den Streifen anschließend in einiger Distanz unter ihre Nase. Folgend ergab sich leichtes und behutsames schnuppern. Dezent spross langsam ein blumiges Bukett weit in ihren Sinnen auf, ein wenig frisch, aber mild. Es erinnerte an Bergblumen, mit einer sanft süßlichen Note im Ausklang, deren wilde und nicht fassbare Weise, an honigsuchende Bienen erinnerte, die mit einigen Blumen irgendeines Gebirges, eben gerade Anleihe gefunden hatten.
Wirklich alles gefiel ihr sehr wohl und so kaufte sie mehr als freudig ein Fläschchen des Duftes ein, gewiss darüber, gerade einen seltenen Schatz geborgen zu haben, den sie keinesfalls verlieren werde.
Das Gedränge in der Fußgängerzone hatte indessen zugenommen, lauter und noch wuseliger schien der gesamte Platz. Johanna trieb in der breiten Masse fort, um ihren heimatlichen Bestimmungsort zu erreichen, ohne irgendwo besonders lange Aufenthalt oder Ablenkung zu suchen. Sie meinte aus Erfahrung sagen zu können, dass entweder besonders naiv- begünstigte Naturen, oder eben besonders kontrollierende Menschen, so urban wie nur möglich, eine Heimat in einem derartigen Gewühl fanden. Dazwischen hatte die einfache Phrase, <fressen und gefressen werden>, zu gelten.
Im aufbrausenden Fährwasser ging sie dahin, entlang an der großen Einkaufspassage, deren Gebäude ein solventer Investor vor einigen Jahren in einer Bieterschlacht erstanden hatte. Geschick, attestierte man dem Finanzmogul in Bezug auf Einrichtung, Auswahl und Organisation der verschiedenen Ladenzeilen und Warenangebote. Das Gemenge aus Geschäften, die vergleichbaren Waren und Dienste anboten, war keinesfalls so dichtgehalten, dass eine konzentrierte Ballung für allzu große Konkurrenz- oder gar kannibalisierende Wirkung- sorgen konnte; vielmehr war die Ordnung sinnvoll abgemessen, am Maßstab der Ergänzung miteinander. Demzufolge fanden die Läden auch eher gemeinsame und beieinanderliegende Anlage in Bezug auf Atmosphäre und Stimmung, weniger in Hinblick auf gleichartige Waren und Dienste. Nicht zuletzt deshalb bezeichnete die Stadt, das Kaufhaus, als das <Mandala>. In Anlehnung an facettenreich gemalte, bunte, komplexe und doch harmonisch gebildete Strukturen, sollte derartiges im hiesigen Warenhaus sinngemäße Übertragung finden. Nämlich indem verschiedene Farben- und Länderkategorien, mit denen die vielen Ebenen und Bereiche des Gebäudes beschrieben waren, als Indikationen für ein möglichst stimmungsbalanciertes Einkaufserlebnis verstanden wurden. Für den einzelnen Konsumenten ergab sich im Zusammenhang der Gesamtheit, stets die Erfahrung, das Gewünschte und das Passende zu finden- und da die Gesamtheit immer Abbildung im Einzelnen fand-, ja finden musste, ging niemand leer aus. In einem unglücklichen Fall, schien höchstens die Entscheidung ein wenig vereitelt, die zwischen diesem und jenem keine eindeutige Festlegung erlangte.
Danach ging es vorbei an einem weiteren großen und imposanten Bauwerk aus der Jugendzeit und bald darauf gelangte sie zur alten Judas Thaddäus Kirche, die bereits einige Jahre in Restauration sprichwörtlich <verwickelt> war und immer wieder Anlass für Bemerkungen bot. Denn nichts dauerte bekanntlich so lange und sorgte immer wieder für neue überraschende Verzögerung, wie das Erneuerungsvorhaben jenes weihevollen Bauwerkes.
Etwa einhundert Meter weiter war das Landestheater
<Goya> befindlich, auf dessen Bühne einer ihrer Freunde, in jüngster Zeit verschiedenste Rollen gespielt hatte und über die, sie, sehr wohl lobende Rezensionen anzugeben, wissend war. Außerdem schritt sie vorüber an ihrer früheren Universitäts- Fakultät, der Wirtschaftswissenschaft. Überhaupt hatte das Studium vor knapp zehn Jahren erst dafür gesorgt das Johanna in die Stadt zog.
Schließlich bog sie links in eine Seitenstraße, welche nach ein paar weiteren Metern die Fußgängerzone im Übrigen enden ließ, ein. Dort wohnte Johanna zusammen mit Ehemann auf vier Zimmern zur Miete, einem Balkon zur Seitenstraße, im Übrigen jener Seitenstraße, auf der sie gerade ihre Handtasche nach dem Haustürschlüssel absuchte.
3.
Clay
Johanna öffnete die untere, massive, Wohnungstür des Altbaus, ging dann über weitere Treppenabschnitte vier Etagen in die Horizontale des Gebäudes und stand schließlich vor ihrer Wohnungstür. Mit einem weiteren Schlüssel öffnete sie schließlich auch diese Tür und stand im Wohnungsflur. Clay stand entkleidet vor ihr. „Hey. Du bist ja nackt.“ „Äh, ja. Hatte gerade geduscht.“
„Bist Du allein?“ fragte Johanna.
„Naja, nicht ganz…“, sagte er und machte eine unbewusst unsichere Pause; stockend fuhr er dann fort:
„…Na, du bist doch jetzt da.“
Sie wusste, dass man bei ihm niemals wissen konnte, ob er einfach nur tollpatschig war, was gewisse Situationen anbetraf, oder ob er sich gerade durch allzu viel Bewusstmachung seiner eigenen Aussagen, in das Gesagte unvorteilhaft verwickelte. Auch war häufig nur zu vermuten, ob Clay spaßte oder nicht, ob ihm etwas ernst war oder nicht- und so weiter. Sofern man einen Menschen einen Chaoten nennen konnte, hätte man bei Clay wohl allerhand Argumente gefunden, ihn als solchen zu verstehen.
Vielleicht trug die Mischung aus den scheinbar unberechenbaren Gegensätzen dazu bei, dass er vielen Menschen auf Anhieb etwas wirr vorkam. Es blieb empfundene Eigenart seines Charakters, dass man kaum sicher war, was er wirklich dachte, tat, oder meinte und im Übrigen drängte sich dem Gesprächspartner auch sehr schnell die Ahndung auf, dass jener, selbiges nicht einmal selbst von sich verstand.
Clay war als ausgewachsener Luftikus etwa um die vierzig Jahre alt, äußerlich konnte man ihn sehr wohl als Hipster bezeichnen, doch ob er die betreffenden Züge bewusst annahm und unterstützte, oder ob er nicht ohnehin so ausgesehen hätte, weil er einfach so war, war nicht wirklich klar. Ob jene mangelnde Einordnung, seinen Stil besser machte oder nicht, war eigentlich keine Frage, obwohl der Umstand schon eine gewisse Forschungstiefe besaß. Denn: man schien vielleicht einen lebenden Beweis zu sehen, das ein <in> und ein <out>, nicht nur über Merkmale, die etwas Angesagtes beschreiben zur Entscheidung kommt, sondern schließlich erst darüber, ob man mit den Merkmalen eine Schmückung versteht und sich dabei zu etwas Angesagtem auch bekennend, in, <in> Stellung bringt.
Ein dünner Schnäuzer, der, aufgrund spärlichen Bartwuchses, eher unfreiwillig an einen Clark Gable Stil erinnerte, stand dem Mann ins Gesicht. Er trug vornehmlich enge Karottenhosen und ausgeleierte Pullover mit Motiven von U.S. amerikanischen Eishockey und Basketball Teams. Markant konnte man Clay wohl in Bezug auf seine abgedunkelte Brille nennen. Aufgrund sonnenempfindlicher Augen trug er die Augengläser im Sinne einer Sehhilfe, um allzu grellem Sonnenschein unbeschadet begegnen zu können. Das erste Kennenlernen mit Johanna hatte ihn daher auch den Spitznamen <Clay Charles> eingebracht. Jene Verabredung blieb aber nicht nur in Bezug auf den zum Bestand geheißenen Spitznamen folgenreich: Seit knapp zwei Jahren war Clay mit Johanna verheiratet.
Clay war derweil zurück ins Bad gegangen, Johanna legte ihren Mantel nebst ihrer Tasche ab und breitete ihre Glieder auf dem Sofa im Wohnzimmer aus. Gut gefüllt war ihr Bauch noch vom Schlemmen mit ihrer Schwester. Sie legte beide Hände eben auf den aufgeblähten Nabel und schloss für einen Moment ihre Augen. Der Fernseher lief derweil unweit von ihr entfernt und berichtete regionale Nachrichten. Nach wenigen Minuten betrat Clay in weiter Jogginghose und Orlando Magic Pullover das Wohnzimmer. Mit einem Streichholz entflammte er das Teelicht vom Stövchen, welches zur Bevorratung von Tee- in der Regel mittig- auf dem Couchtisch Platz fand. Im Anschluss lief er noch einmal in die Küche, herbeiholend eine Kanne randvoll gefüllt mit frischem Minztee.
Aus einiger Höhe goss Clay, zwei Gläser zu je dreiviertel voll, während sein Handgelenk die Teekanne dabei gekonnt vor und zurück bewegte. Die Prozedur war ein abgeschautes Vorgehen, kennengelernt hatte er sie in einem Imbiss um die Ecke.
Die Augen von Johanna öffneten langsam, nachdem sie den plätschernden Fluss des Tees wahrgenommen hatten. Ihren Körper aufrichtend, saß sie bald auf dem Sofa und Clay lag ihr angelehnt, an die äußere Sofalehne zur Rechten.
„Danke für den Tee.“
„Gern. Frische vom Markt… die Minze.“
Beide nippten ein erstes Mal an ihrem Glas und erkannten zeitgleich, dass es zu heiß war um ein genussvolles Trinkerlebnis folgen zu lassen. Beide pusteten. Johanna mischte noch ein wenig Zucker dazu und rührte um. Ihr
Getränk war schließlich angenehm temperiert, genau richtig zum Trinken. Das Glas von Clay erwärmte derweil seine Hand, beständig wechselte er die umgreifende Hand des Gefäßes um keine Verbrennung entstehen zu lassen. Dazwischen blies er über die Oberfläche des flüssigen Inneren.
„Du...“ setzte Johanna an und machte eine Pause. „Ja?“
„Wir haben doch letzte Woche, den Neuen, aus dem Block gegenüber getroffen. Also gestern hat er ja erzählt, dass er Schriftsteller ist und zurzeit wenig konkrete Ahnung hat, was er schreiben soll. Ich erzählte ihn daraufhin, dass ich Illustratorin bin und wir haben ein
wenig rumgesponnen; von wegen ´gemeinsames Projekt´ und so...“
Clay unterbrach die Erzählung:
„Und so...?“
Er schien ein wenig unruhig, gar aufgeregt. Das Glas stellte er auf dem Couchtisch ab, der Tee war bisher nur unwesentlich trinkbereiter abgekühlt. Clay bemerkte, seiner Frau ins Wort gesprungen zu sein.
„Ja also wie gesagt, ich meine nur zusammen ein Buch oder sowas machen. Ich die Illustration und er die Texte, weißt Du? Vielleicht machen wir eine Geschichte für Kinder oder eine moderne Erzählung über die Stadtgeschichte. Du weißt ja, er ist neu in der Stadt und interessiert sich wirklich für die Geschichte hier und letztens war er wohl auch bei der Führung zu den Unterwelten. Weißt du, da wollten wir auch hin? Wir wollen uns morgen Mittag mal am Stadthaus treffen um darüber zu sprechen.“
Clay nickte. Der Tee war abgekühlt und er nahm einen großen Schluck.
„Wir?“
„Na er und ich halt.“
„Ach so. Dachte schon ich soll mit… Aber, gute Idee mit dem Buch. Warum nicht. Wie heißt der überhaupt?“, fragte Clay.
„Keine Ahnung.“
„Wie? Vergessen?“
„Weiß´ nicht; vielleicht.“
Clay blickte wieder ein wenig erstaunt.
„Weißt Du nicht, ob er dir seinen Namen gesagt hat?“
„Nein, weiß ich gerade nicht. Vielleicht hat er das.“
„Hmm... hast Du ihm deinen Namen gesagt?“
„Vielleicht.“
Clay schien ein wenig verwirrt.
„Vielleicht?“, wiederholte er.
„Vielleicht, ja.“
Nun war es eine Zeit lang still.
Johanna dachte daran, unter Umständen nicht die richtigen Worte gefunden zu haben. Sie versuchte zu harmonisieren und legte nach:
„Ich meine, das mit den Namen ist auch nicht so wichtig. Es geht ja nur um das Buch und die Zusammenarbeit… nicht mehr.“
Brenzlig; dieses <nicht mehr> klang scharf, aber vielleicht war eben das Überschreiten, dieser, zum latenten Missverständnis treibenden Sache, die eigentliche Lösung. Sie wog in wenigen Sekunden ab: nachhaltige Lösung verbunden mit Risiko, oder schnell beschwichtigende Behandlung. Gewählt wurde ein provisorisches Pflaster mit bunten Motiven- unter anderen roten Kusslippen. Sie verwarf ihre sonstigen Gedanken, ging zu Clay, umarmte ihn. Sie drückte ihm ein Schmatzer unters Ohr und traf halb Kieferknochen und halb was ebenso daneben lag.
Im Verlauf des Abends sollten die Beiden nicht mehr über die Planung von Johanna und dem neuen Nachbarn sprechen. Gesprächsstoff fanden sie, indem Clay eine Nacherzählung der Geschehnisse aus dem Café mit Cynthia von heute Nachmittag erhielt. Johanna berichtete dabei, von dem gemeinsamen Schreien auf der Straße und davon, dass Cynthia eine Erholung- in Bezug auf ihre letzte Partnerschaft- vermeldete. Clay war sichtlich erfreut von Cynthia zu hören.
Morgenwonne, Morgensonne
Die Nacht hatte keinen frischen Schnee gebracht, aber abgetaut war die Eis- und Schneedecke allerdings auch nicht. Die Sonne versuchte, durch grauweißen Wolkenschleier zu dringen und gab ihre Anwesenheit, durch einen relativ stark erhellten Fleck am Horizont zu erkennen.
Die Milch schäumte. Johanna hatte vor etwa einer Woche einen dieser batteriebetriebenen, stiftgroßen Aufschäumer in einem Ein- Euro Laden gefunden und seitdem gab es morgens Milchkaffe mit Schaum. Clay lag noch unter der Bettdecke, denn frühes Aufstehen, besonders inmitten einer Winterzeit, die erst spät, erhellendes Licht an den Tag brachte, war seiner Konstitution unangenehm bis zuwider.
Aus dem Bett aufgestanden bemerkte Clay, dass Johanna die Wohnung bereits sehr früh-, noch vor dem einsetzenden Berufsverkehr-, verlassen hatte, allerdings nicht ohne einige gefärbte Klebezettel im Inneren, also an dem, in die Wohnung gerichteten Furnier der Wohnungstür, hinterlassen zu haben. Er las: in Gelb: Müll rausstellen; in Grün: Blumen kaufen für Geburtstag von M.; in Rot (mit blauer Schrift): Autowerkstatt anrufen. Die Werkstatt rief er sofort an und regelte alles. Daraufhin zerknüllte er den roten Zettel und bekümmerte den Müll, um auch den gelben Zettel guten Gewissens in Selbigem zu entsorgen. Die Blumen durften warten. Ohnehin schien diese erheiternde Erledigung, keine Sache zu sein, die unverzüglicher als eben notwendig zu besorgen war. Warum solle man sich auf freudige Erledigung nicht möglichst lange freuen dürfen, dachte er. Der Geruch von frischer Duschseife durchzog das Treppenhaus als Clay den örtlichen Aufenthalt seiner Person geschwind wechselte und Wohnung gegen Straße tauschte. Zum Behagen einer Dame aus der Nachbarschaft, die zusammen mit ihm die Stufen des Treppenhauses hinabging, um ihre morgendlichen Einkäufe zu bestellen, war die Duftnote <Milch und Honig>, mit der Clay seine Dusche unternommen hatte, äußerst angenehm. Beide grüßten höflich. Clay war in Eile, die Dame übte Gelassenheit und sah ihn mit einem sehr erfreuten Lächeln an.
Dem morgendlichen Straßenverkehr gedachte Clay erst mit einem Fahrrad zu begegnen-, trotz vereister Fahrradwege und ferner in Vermutung, von überlaufenden, öffentlichen Verkehrsmitteln. Im erdnächsten Bereich des Hausflures angekommen, vermisste er allerdings seinen Fahrradhelm, welcher dort gewöhnlich im Hausflur auf einer Ablage bereitlag. Infolgedessen entschied er-, auch wegen der fortgeschrittenen Uhrzeit jenes Morgens-, keine weitere Suche diesbezüglich anzustellen und nicht zurück in die Wohnung zu gehen. Für den Augenblick sollte er mit den Öffentlichen ins Geschäft fahren, wie er für sich befand. Innerhalb einiger Zeit war der Bus erreicht. Überfüllt wie üblich und wie vermutet, aber nicht derart übertrieben, dass ihm die Türen des Gefährtes verschlossen bleiben mussten. Angenehm war das Klima während dieser Fahrt und dementsprechend entspannt gelangte er zu seiner angepeilten Haltestelle, von der er, gemächlichen Schrittes etwa einhundert Meter weiterging.
Ein konventionelles Gebäude moderner Aufmachung, es mochte vielleicht vor etwa dreißig Jahren erbaut worden sein, barg verschiedene Läden im Erdgeschoss, unter anderem ein Konglomerat aus Glas-, Uhren- und Brillenwerkstatt-, samt angeschlossenem Verkaufsbereich. Dort arbeitete Clay und fertigte wie reparierte, vornehmlich Brillen. Im Laufe der Jahre hatte er es verstanden, sein werkstattliches Wirken bei der Kundschaft äußerst bekannt zu machen und sein Name war in Bezug auf kunsthandwerkliche Tätigkeit sehr wohl zu einer gewissen Adresse im betreffenden Metier geworden.
D
Erwartungsvoll blickte es Clay entgegen, als jener in das Geschäft eingetreten war und die Tür hinter sich geschlossen hatte.
„Morgen“, sagte sein Kollege trocken.
Unschwer war für Clay zu bemerken, dass hier jemand versuchte einen zynischen Ton zu vermeiden und dies in erster Linie damit umsetzte, so wenig an Worten wie nur möglich zu sprechen. Nicht gerade unbekannt schien Clay derartiges Gehabe vom Kollegen D. D war ein etwas untersetzter Mittvierziger, den man wohl zweifellos eine gewisse ungeschickte Rüpelhaftigkeit, sowie eine naturgegebene Naivität, zusprechen konnte. Außerdem war D jemand der in Bitten und Fordern, eine außerordentliche Anregung und Reizhaftigkeit fand. Im Gegenzug zeigte er, wohlwollende Hilfestellung für jedwede
Lebenslage. Wie ein wandelndes Lebenshilfe- Lexikon, das jeden, je gedruckten Schnipsel Ratschlag und Unterstützung, in einen großen und bunten Katalog mit lebensumfassendem Einband geklebt hatte, wusste er immer etwas anzugeben; Frage hin, oder Frage her. Ob gestellte Frage, oder eher vermutete Frage, D klärte alles mit wohlmeinender <Liebenswürdigkeit> auf.
Beige Kittel dienten als Arbeitskleidung für Clay, stets frisch gewaschen, von der Mutter des Geschäftsführers, hingen die Kleidungsstücke immer frisch gebügelt und faltenlos einsortiert, in einem kleinen Spind, in der Werkstatt des Geschäftes. Für die waschende Dame war das reinigende Prozedere eine Art tief verankertes und eingeprägtes Erinnerungs- wie Traditionswerk geworden, das Ursprung in den frühen sechziger Jahren fand, als ihr Mann das Geschäft einstmals zur Eröffnung geführt hatte. Clay wusste um den Wert und die Hingabe, mit der die Alte, die Mäntel umsorgend pflegte. Angekleidet und fertig vorbereitet um in der Werkstatt tätig zu werden, betrachtete Clay die anstehenden Aufträge. Freudig nahm er dabei zur Kenntnis, dass ein bekannter, bereits langjähriger Kunde des Geschäftes, eine größere Auftragsarbeit für ein neues Paar Brillen wünschte. Weiterhin gab es einige Instandsetzungen, etwas an Reklamation und derlei Dinge zu erledigen. Beginnend mit zwei kleineren Reparaturarbeiten schaffte Clay die erforderlichen Werkzeuge heran und begann anschließend am Werktisch damit, Fassung und Bügel reparaturbedürftiger Brillengestelle zu richten. Die Zurückgezogenheit von D schwand mit jeder- in Gesellschaft von Clay verbrachten- Minute. Schließlich schien sie gänzlich abgeklungen und führte dazu, dass D, Smalltalk mit Clay suchte und langsam trat jener, aus dem vorderen Verkaufsraum kommend, zu ihm in die Werkstatt.
„Wie geht´s?“ fragte er leise und beruhigt. „Na, so ok. Und dir?“
„Ja, gut soweit. Nichts Besonderes.“
„Schön“, meinte Clay und dachte das Gespräch wäre bereits dem Ende zugeneigt; aber weit gefehlt. D blieb eine Weile still, beobachte was Clay tat, wie er es tat und überlegte derweil passende Gesprächsansätze.
„Und deine Frau? Auch alles ok?“
Clay grinste ein wenig. Die Art seines Kollegen schien nur allzu deutlich, irgendwo im dreifachen <a> zu liegen, wobei damit gemeint war, dass sein Verhalten aufdringlich, arglos und anmutig war.
Jene Freude, über die neu gesichtete Auftragsarbeit hielt indessen an und Clay teilte wohl nicht zuletzt auch deswegen, das gestrige Gespräch mit Johanna in groben Zügen mit. Missstimmung war dabei kein großes Thema, aber eine geringe sarkastische Spur schien dem Geschehen wohl erhalten geblieben, denn D nahm die Fährte wie ein Spürhund auf. Witternd roch es ihm danach, als bräuchte jemand Rat und Hilfe und um nichts in der Welt wollte er seine Fertigkeiten vorenthalten. Er setzte also an:
„Du, was meinst du? Ich meine die Sache mit dem neuen
Nachbarn und so? Ist das ok für dich?“
„Klar“, meinte Clay. Wohlwissend bemerkte er aber sofort eine Änderung in Stimme und Stimmung. Clay wartete und schwieg, ihm wurde warm.
„Naja…“ leitete D ein.
„Ich glaube auch, das muss nichts heißen, aber das Schlimmste ist doch sowieso die eigene Unsicherheit bei sowas, oder? Ist doch so, oder?“
Clay fand nichts auszusetzen an D´s Worten, außer eben dem einen unangenehmen Umstand, dass sie sein Gefühl treffend und unverhohlen wiedergaben.
„Also, ich kenn da wen…, wegen auf Nummer sicher gehen und so. Wenn du willst, dann…“ Clay verstand nicht.
„Häh? Wovon sprichst Du?“
„Ich meine, sicher gehen wegen deiner Frau und der
Type. Die kann man im Blick behalten, wenn du weißt was ich meine. Nur um sich mal zu beruhigen. Und wenn es nichts zu verbergen gibt, gibt es auch nichts Auffälliges zu sehen und wo es nichts Auffälliges zu sehen gibt, da sieht man ohnehin nicht mehr als sowieso.“ „Was für eine Logik soll das sein? Die reine Absicht jemanden ausspionieren zu wollen, schafft doch bereits unweigerlich Unruhe und Trubel. Auffälliges hin oder her.“
„Naja, ich meine ja nur. Es geht um dich in deinem praktischen Leben. Theorie hin, oder her.“
Clay war nun ein wenig aufgeregt. Sein Körper verstand was D meinte, fast, als spräche jener selbst aus seinem Kollegen heraus. Sein Kopf hingegen wusste es besser, fragend sprach er ins Innere: Was soll das alles? Schwer wurde ihm, je mehr er nachdachte. Sein Körper sank innerlich zu Boden, während Gedanken höher aufstiegen. Und irgendwo dazwischen, inmitten eines gedehnten und trägen Konstruktes des Selbstverständnisses, lagen Einzelteile von Ansichten in Bezug auf das, was in der Sache geschehen war, etwas das geschehen kann und etwas das wahrscheinlich geschehen soll. Müdigkeit machte sich breit. Schwindel dazu. Clay ging zum Fenster und atmete tief durch.
„Also lass mich mal machen. Entspann´ dich.“ meinte D. Clay blieb still, atmete und versuchte das wilde Aufbrausen seiner Gedanken zu sortieren.
...
Anmerkung von S4SCH4:
Leseprobe zur Novelle "Quartett Adrett"
Zur Geschichte:
Ein frühreifer junger Mann mit ambivalenten Charakter trifft auf eine Frau die ihn von der Straße holen möchte; weitere Personen verstricken sich in die Geschichte und finden schließlich zusammen. Eine Geschichte die vieles an beziehungs(losen)- Gedanken offenbart und Fragen eines mit sich Hadernden stellt. Zwischen Detektei und Selbstbetrachtung. Zwischen Innen und Außen. Zwischen Lüge und Wahrheit.
Das Hörbuch gibt es auf YouTube (gelesen von einer KI-Stimme)