Jenseits des Plätscherns in seichten Gewässern ist Freiheit

Essay zum Thema Wirklichkeit

von  dubdidu

Aus der Redewendung "jemanden glücklich machen" spricht der kindliche Wunsch nach einem phantastischen Zauber, der einen in einen ewigen Glückszustand versetzen möge. Dieser Wunsch beinhaltet zwei Komponenten: das Verschwinden von Unwohlgefühlen (u.a. Leid, Trauer, Hass, Neid) und die Abgabe der Verantwortung für das eigene Wohlbefinden. So nachvollziehbar der Menschen Sehnsucht nach einem niemals endenden Glückszustand ist, so unmöglich ist ihre Erfüllung. Wer sich ihr hingibt, läuft sogar Gefahr besonders unglücklich zu werden. Bedauerlicherweise soll häufig irgendeine Liebe, insbesondere die romantische Liebe oder die Eltern-Kind-Liebe den niemals endenden Glückszustand hervorrufen und aufrechterhalten; eine Illusion, die durch die Unterhaltungsindustrie immer wieder aufs Neue reproduziert wird; hier, um den Zustand des ewigen Cash-Flows zu gewährleisten. Eine solche Verantwortung für den Glückszustand eines anderen Menschen, ganz gleich, wer er sein möge, kann auf Dauer jedoch nicht ausgehalten werden. Im besten Falle führt das Platzen der Illusion zu einer Enttäuschung, auf die ein Lernprozess folgt, der eine ernsthaftere, tiefere Form der Liebe ermöglicht. Im mitteltragischen Fall zerstört das Festhalten an der Illusion Beziehungen, womöglich nachhaltig und wiederholt, da immer wieder dieselbe unerfüllbare Aufgabe an die Liebe bzw. die an ihr Beteiligten gestellt wird. Im schlimmsten Fall zerstört diese Illusion einen Menschen durch psychische Gewalt oder physische; insbesondere Kinder sind diesbezüglich gefährdet. Sowohl im mitteltragischen als auch im schlimmsten Fall besteht die Möglichkeit, dass auch der Glaube an Liebe und Beziehung an sich zerstört wird.

 

ABER:

 

Das bedeutet nicht, dass eine andere Redewendung, nämlich "jeder ist seines Glückes Schmied" gültig ist. Kein Mensch kann die Umstände wählen, in die er hineingeboren wird und, obwohl es schon Menschen gelungen ist, aus den widrigsten Umständen heraus ein letztendlich erfülltes Leben zu führen, gilt das nun einmal nicht für alle. Es gibt zu viele Faktoren in einem Menschenleben, auf die der Einzelne keinen Einfluss hat, da kann er er noch so mutig, fleißig, ausdauernd sein. Das Glück des Einzelnen hat immer viele Schmiede und darunter sind einige abstrakte, nicht personifizierbare. Sofern einen Menschen nicht Verantwortungsübernahme an sich glücklich macht, unabhängig von ihrem Ergebnis, besteht die Gefahr an einem Sisyphos-Leben zu verzweifeln. Und wer kann es ihm verdenken? Es wäre vermessen, von anderen zu erwarten, was man selbst vermocht hat. Was der eine Mensch schafft, schafft der andere nicht, wer kommt wie dazu, das persönliche Gelingen zum Maßstab aller zu machen? Es gelingt auch nicht jedem Menschen, sich mit einem Leben zufriedenenzugeben, in dem die Erfüllung jedes einzelnen grundlegenden Bedürfnisses ein Kampf ist, an dem er dann auch das eine ums andere Mal scheitert, wenn auch vielleicht nicht immer. Und wieder wäre es vermessen, diesen Menschen das Unglücklichsein abzusprechen und sie der eigenen Schwäche anzuklagen, auf göttliche Prüfungen, Karma oder sonst was zu verweisen; denn selbst wenn persönliche Schwäche eine Rolle spielt - ein Szenario, in dem sie der einzige Faktor ist, ist realitätsfern. Genauso vermessen wäre es, sich mit (u.a. moralischer) Abscheu über die Menschen zu erheben, die eine Linderung in oberflächlichen Vergnügungen suchen, um den Mangel an tiefempfundener Lebensfreude zu kompensieren. Es ist nur allzu verständlich, dass sie nach stimmungsaufhellenden Substanzen oder materiellem Gefühlsersatz greifen, dem Versinken in Groschenromanen, kitschigen Liebesfilmen und Schlagern fröhnen, als Avatar eines Multi-Role-Player-Games jene Selbstwirksamkeit erfahren, die sie im Leben missen. Zur Freiheit des Menschen gehört auch die Freiheit, unglücklich zu sein, aufzugeben, nicht mehr nach einem andauernden Glückszustand, nur noch nach mittelfristiger Linderung zu streben.

 

ABER:

 

Wie viele Freiheiten endet die Freiheit unglücklich zu sein, sobald sie andere unglücklich macht. Wenn die Verzweiflung und Verbitterung eines Menschen an seinem Leben anderen auferlegt und aufgezwungen wird, wenn der Wahlspruch "solange ich unglücklich bin, soll auch niemand anderes glücklich sein" Wirklichkeit wird, wenn Männer und Frauen zu Schneewittchens Stiefmutter werden, die anderen die Pest an den Hals wünschen, weil sie selbst an einer chronischen Cholera leiden; kurz: wenn die Freiheit anderer an ihrem eigenen Glück mitzuschmieden, sich selbst im Rahmen der eigenen Begrenztheit glücklich(er)zumachen, indem aggressiv auf jeden erdenklichen Unterstützungsfaktor konkreter und abstrakter Art eingedroschen wird, wenn die eigene Schwäche zum einzigen Lebensantrieb wird und die davon beherrschte Person nicht eher ruht, bis jeder verletzliche Mensch nackt im Wind friert; wenn sich verbitterte Menschen zusammenschließen und einen Feldzug gegen diejenigen Menschen führen, die die Hoffnung auf ein subjektiv annähernd aushaltbares Leben für alle Menschen noch nicht aufgegeben haben oder diejenigen, die ohnehin schon unglücklich sind, die ihr Leben gerade so aushalten, mit Unterstützung und ein bisschen Linderung, dann ist die Grenze der Freiheit zum Unglücklichsein erreicht.

 

UND:

 

Auch die Freiheit zur Linderung durch mittelfristige Stimmungsaufhellung, oberflächliche Anregung, erleichternde Ablenkung von persönlichen und globalen Miseren, das Leugnen der Not anderer und die Flucht vorm eigenen Leid und anderen unbehaglichen Gefühlen - sei es durch Substanzen, Materielles oder Kulturprodukte oder sonst irgendein anerkanntes oder verpöntes Mittel - hört da auf, wo jene Menschen, die ihre menschliche Fähigkeit zur (ich zitiere Dancewith1Life) profunden Berührung aktiv und passiv verwirklichen möchten, der Möglichkeit beraubt werden, dies zu tun, sei es, weil sie als Kranke pathologisiert oder als Unbequeme gestempelt werden; wenn jeglicher Versuch, sich mit oberflächlichen Urteilen und Kategorisierungen, seichter Harmonie, selbstbestätigendem Schwelgen in Konventionen und bestehenden Machtverhältnissen, hysterischen Affekten und Anklagen, Phrasen, Metaphern, Sprichwörtern in Totenstarre usw. wenigstens auseinanderzusetzen als lästerliche, bösartige Provokation verschrien wird, wenn Ästhetik auf Dauerwerbesendungen glatter Gesichter und Gegenstände reduziert wird, Kunst auf unterhaltendes Handwerk, Liebe auf Verliebtsein und Begehren, Denken, selbst Sprache, auf mathematische Formeln, Träumen auf Luxusvillen, Sinn auf Erfolg im Beruf, wenn von überall her spiegelglatte, stumpfe, undurchdringliche Oberflächen als Antworten gepriesen werden, gibt es kein Gegenüber mehr, mit dem ein profunder Austausch stattfinden kann.

 

DENN:

Profunde Berührung ist isoliert nicht möglich. Um diese zu erleben, bedürfen Menschen eines Gegenübers. Das Gegenüber kann ein anderer Mensch sein oder ein Kunstwerk oder eine Art Gottheit. Tatsächlich ist die profunde Berührung eine sinnstiftende Möglichkeit mit der Tatsache umzugehen, dass ein immerwährender Glückszustand durch „jemanden“ oder durch alleiniges „Schmieden“ eine Chimäre ist. Sie hilft gegen Verzweiflung und Verbitterung. Sie ist ein Vermögen, das jedem Menschen zu eigen ist und bedarf weder herausragender Intelligenz noch konventioneller Bildung noch materiellen Wohlstands. Sie kann erlernt, aber nicht auswendiggelernt werden. Sie ist eine reale und gleichsam phantastische Ressource aller Menschen. Allerdings bedarf sie manchmal der Entdeckung. Und dann bedarf sie der Pflege. Sie kann in Vergessenheit geraten, wenn ihr im Alltag wenig Beachtung geschenkt wird und wenn das Bedürfnis nach ihr sozial sanktioniert wird. Sie selbst jedoch ist außerstande Schaden anzurichten.

 

DESHALB:

Begrüße ich jeglichen Aktivismus für die profunde Berührung; niemand wird allein durch die Erinnerung daran, dass Tauchen möglich ist, ertrinken, und niemand kann durch die Erinnerung an diese Möglichkeit gezwungen werden, das Plätschern in seichten Gefühlen aufzugeben. Der profunden Berührung kann man sich ausschließlich freiwillig ausliefern.




Anmerkung von dubdidu:

Dieses Essay wurde durch Sairas Aphorismus  Zwischen Tiefe und Oberflächlichkeit samt Kommentaren inspiriert.

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