Die letzte Nacht

Kurzprosa zum Thema Leben/Tod

von  Rosa

Am Langen Lulatsch, Westend, Winter 2006. Eine ödgefrorene Winterlandschaft breitet sich unter ihm aus, als er den Funkturm hinaufklettert. Sein Körper ist alt und brüchig, aber innerlich ist er jung und voller Kraft. Er hält seinen Blick auf die Hände gerichtet, damit ihm nicht schwindlig wird. Die Nacht um ihn ist klar, aus den nadelstichwinzigen Löchern der Sterne dringt ein Licht aus einen anderen Welt, ein starker Schein, der hinter der Schwärze leuchtet, ein Versprechen von etwas anderem, ein Schimmer, der über ihn wacht, anders als diese feuchtkalte Dunkelheit, die ihn immer umschlungen hat: eine graue Sonne, eine gräuliche Dämmerung. Am Horizont das erste schwach flackernde Licht, ein schmaler rosa Streifen und einige Kilometer entfernt steht sein Bett in einem Raum der Nervenheilanstalt und wartet auf ihn, leer und ordentlich gemacht neben anderen Betten, wo die Schatten von schlafenden, schutzlosen Körpern sich damals in ihren Schlafanzügen ausruhten. Jetzt sind sie alle weg. 

 

Er steht lange auf der höchsten Strebe und sieht über die dunkle Stadt und die einzelnen weißen Lichtpunkte. Dann zieht er seine Jacke und den Winterpullover aus, nimmt die schwarze Wollmütze und die Brille ab und stapelt sie sorgsam übereinander, von Groß nach Klein. Wie er es gelernt hat. Unter ihm die Welt, eine Decke aus Häusern und Straßen und Menschen, die wie eine einzige frische und reine, gemeinsame Menschenlunge atmen; aber hier gibt es keine Zukunft für ihn, hat es nie gegeben, er ist immer allein mit dem Stempel der Krankheit unter der Haut umhergestreift, der für alle sichtbar war, nur für ihn selbst nicht. Selten hat er sich einem Mädchen genähert; und hatte er es gewagt, war sie vor ihm zurückgezuckt, jedes Mal, wenn er jemandem die Hand hat reichen wollen, hat man es ihm als Feindlichkeit ausgelegt und ihn zurück in die Anstalt gebracht. Ein unsichtbares Gitter spannt sich zwischen ihn und die Welt. Mit stummen Gesichtern hat man sich von ihm abgewandt, dass er Angst bekommen hat vor den Menschen. So hat er sich immer mehr zurückgezogen. Es gibt niemanden in der Welt, der ihn vermissen wird, seine ungehörige Gräue; nichts, woran er sich binden könnte. Nie ist er mit jemandem nackt gewesen, nie hat er jemanden berührt. Als hätte er sich unter einer dunklen Kapuze befunden, keine Schulden, kein Band, nur dieses Gitter, die durchsichtigen Ketten, die ihn zurückhalten und einsam machen. 

 

Und als die Schwester durch die leeren Zimmer geht und die Lichter auf der letzten Station anknipst, wirft er sich mit einem einzigen Wunsch in die Nacht: dass er endlich von etwas getragen würde, von einer Hand oder einem Wind, dass ihn etwas in der Welt hielte; aber er ist nur ein Bruchstück, das sich zwei, drei Mal in der Luft dreht, bevor es über den Rand der Welt gewirbelt wird, auf dem Boden aufschlägt und zerschellt. 


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Kommentare zu diesem Text


 Hannes (22.07.25, 20:45)
Harte Kost.  Aber die sachliche, schlichte und zurückhaltende Beschreibung trifft ins Herz und macht nachdenklich.

 Rosa meinte dazu am 23.07.25 um 10:08:
Hallo und danke für das Feedback!

 hehnerdreck (22.07.25, 21:01)
Hab ich gern gelesen. Spannend und inspirierend.

LG

 Rosa antwortete darauf am 23.07.25 um 10:10:
Schön, dass du dich inspiriert fühlst und danke!

 AchterZwerg (23.07.25, 06:04)
GroßArtig!

Ein intelligenterer Kommentar fällt mir leider nicht ein.
Hier stimmt eben einfach alles: Die Schlichtheit wirklich großer Gefühle, das Grauen, das subtil erzeugt wird - und die verhaltene Trauer.

 Rosa schrieb daraufhin am 23.07.25 um 10:11:
Dafür ein Großes Dankeschön!

 J.B.W (23.07.25, 07:43)
Sehr gelungener Text. Sprachlich geschliffen, aber nicht so pathetisch oder romantisierend wie Texte mit der Suizidthematik sonst manchmal geraten. 
Ich finde gut, wie subtil die Kraft dargestellt wird, die jemand aus dem Gedanken schöpft sein empfundenes Leiden jetzt endlich zu beenden, also wie dem Mann durch seinen Entschluss die Kraft eingeflößt wird, den Turm zu erklimmen. 
Vielleicht mein einziger Kritikpunkt ist die Schilderung der Gedanken des Mannes kurz vor dem Sprung oder während dessen, aber das geschieht wirklich nur aus meiner ganz persönlichen Sicht. Ich habe selbst drei (relativ unterschiedliche) Suizidversuche hinter mir und habe, in Zusammenhang mit meinen ehemaligen Berufen als Pfleger und Psychologische Berater, mit vielen Personen gesprochen, die Suizid geplant und teilweise, später auch ausgeführt haben.
Die Vorstellung, dass der alte Mann am Schluss noch den ehrlichen Wunsch hat aufgefangen werden halte ich für etwas abwegig. Das Befreiende oder Erlösende besteht meist in einem Gefühl der tiefen Leere und absoluten Bedeutungslosigkeit, eben im unbeschwerten und friedvollen Loslassen jeder Hoffnung auf irgendwas; in dem Wissen, dass gleich nichts mehr von irgendeiner Bedeutung ist.
Naja ist ja nicht mein Text, wollte nur meine Perspektive darauf teilen. 
Der Text bleibt trotzdem klasse.
Ich wünsche dir einen schönen Tag Rosa 🙂


Beste Grüße 

Janosch

Kommentar geändert am 23.07.2025 um 07:46 Uhr

 J.B.W äußerte darauf am 23.07.25 um 10:03:
Grade bemerkt, dass das dein Einstand war und du auch ganz neu bist hier 🙃

Nochmal, trotz meines Kommentars, großes Lob für den Text und auch von mir Willkommen! ✌🏻

Antwort geändert am 23.07.2025 um 10:03 Uhr

 Rosa ergänzte dazu am 23.07.25 um 10:16:
Hallo J.B.W, vielen Dank für dein ausführliches und konstruktives Feedback! Ich lasse das auf mich wirken. Vielleicht bearbeite ich das Stück noch mal.

 J.B.W meinte dazu am 23.07.25 um 10:20:
Oh Gott nein, bitte gern auf dich wirken lassen, aber nicht wegen mir bearbeiten 😉✌🏻

 Janna (23.07.25, 09:32)
Ein verdammt guter Einstand, voller Empathie für den Prot und dennoch dennoch mit einer gewissen Distanz beschrieben. Sehr gerne gelesen.
Herzlich Willkommen!

 Rosa meinte dazu am 23.07.25 um 10:17:
Hallo Janna. Danke auch dir für dein Feedback!

 Quoth (23.07.25, 10:59)
Aktion T4 im Hintergrund oder nicht? Der Anfang deutet recht eindeutig auf das Jahr 2006 hin, die Aktion T4 fand 45 Jahre füher statt. Aber warum sind die Schatten von schlafenden, schutzlosen Körpern jetzt alle weg? Und warum gab es sie nur damals? Vielleicht spielt der Text mit diesen Assoziationen - etwa nach dem Motto: Ist es so viel besser geworden, als es damals war?

 Rosa meinte dazu am 23.07.25 um 11:24:
Hallo Quoth. Es gibt einen losen Bezug. 2006 wurde die Karl-Bonhoeffer-Klinik geschlossen.

 Quoth meinte dazu am 23.07.25 um 23:40:
Das würde ich in den Titel setzen.

 Rosa meinte dazu am 24.07.25 um 09:12:
Ich überlege es mir mir. Vielleicht eher im Text...

 dubdidu (23.07.25, 16:54)
Literatur!

 Rosa meinte dazu am 24.07.25 um 09:11:
Danke.

 Graeculus (24.07.25, 00:07)
Es ist gut erzählt, nimmt mit, regt an und läßt Raum für Fragen.

Daß diese Berliner psychiatrische Klinik (hieß sie nicht im Volksmund "Bonnys Ranch"?) geschlossen hat, kann man als Information hinzunehmen, muß man m.E. aber nicht - es ist dann irgendeine psychiatrische Klinik, die zu ihrem Ende kommt, und dieses Ende spiegelt sich im Empfinden eines ihrer Patienten. Wie wird es mit ihm weitergehen?

 Rosa meinte dazu am 24.07.25 um 09:11:
Hallo und danke. Ja, im Volksmund Bonnys Ranch. Die Klinik war sein Zuhause, er weiß nicht wie er außerhalb leben soll. Er stirbt.

 Saudade (24.07.25, 00:54)
Liebe Rosa!

Sehr sprachgewaltiger Einstand, ein Hauch von Kafka (das Düstere), Handke (das Schwülstige) und vielen mehr. Man liest deine Belesenheit ohne großes Bildungsgeprotze heraus. Großartig! Dies objektiv.
Subjektiv: Mir ist es zu fad, weil es zu gut ist, zu geschliffen.
Aber, ehrlich, die Komplimente und Ehrfurcht sind ernstgemeint.

 Rosa meinte dazu am 24.07.25 um 09:12:
Danke dir für deine Rückmeldung.

 dubdidu meinte dazu am 24.07.25 um 11:12:
Lass dich nicht neggen, Rosa.

 Saudade meinte dazu am 24.07.25 um 11:31:
Du lässt mir meine Meinung, sonst scheppert's.
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