Die kleine Meerjungfrau

Text zum Thema Märchen

von  Loki-Methode

Hans Christian Andersen war nicht gerade dafür bekannt, aufheiternde Märchen zu schreiben. Ihr mögt die kleine Meerjungfrau? Spoiler Alert: Besagte Meerjungfrau verliebt sich so hoffnungslos in einen Menschenprinzen, dass sie sich von einer Meerhexe die Zunge rausschneiden lässt, im Tausch gegen menschliche Beine, die bei jedem Schritt wie tausend Nadelstiche schmerzen. Und so schleppt sie sich dann, gehbehindert, stumm und vermutlich unten ohne, an Land zu ihrem Prinzen, um ihm den Hof zu machen; und zwar in dem Wissen, dass sie wortwörtlich tot umfallen wird, wenn er ihre Liebe nicht erwiedert.

Und dann kam Disney. In der Disney-Version des Märchens gibt es keine schmerzenden Beine, keinen drohenden Tod und, wie könnte es anders sein, stattdessen ein glückliches Ende. Und um das Ganze noch geeigneter für leicht zu verstörende Eltern kleiner Kinder zu machen, wird der Meerjungfrau auch nicht die Zunge herausoperiert, sondern die Meerhexe klaut ihr nur ihre Stimme.

"Nur." Könnt ihr euch vorstellen, wie es sich anfühlt, wenn euch eine alte Hexe die Stimme aus der Kehle reißt? Wenn sie ihre knochigen Finger hinunter in euren Hals schiebt, ungelenk darin herumwühlt und und schließlich das, was sie sucht, mit ihren ungeschnittenen Fingernägeln zu packen bekommt und herauszieht? Quälend langsam löst sich die Stimme von den Stimmbändern, gleitet den Rachen hinauf, schrammt kratzend am Gaumen entlang. Das ist die Art von Halsschmerzen, die nicht schon nach ein paar Tagen wieder verschwindet, mit der ihr euch die nächsten paar Wochen von nichts als Honig und Haferschleim ernähren werdet und von Tee, literweise Tee, aber selbst das wird den Brand in eurer Kehle nicht löschen können. Gerade habt ihr sowieso andere Probleme, gerade steht ihr da und die Meerhexe steht vor euch und sie hat ihre Finger in eurem Hals und ihr habt das Gefühl zu ersticken, und dann zieht ihre Finger heraus und hält eure Stimme in ihrer Hand, und das Gefühl geht nicht weg. Ihr wollt würgen, aber es kommt nicht raus. Ihr wollt keuchen, aber es kommt nichts raus. Ihr wollt schreien, aber es kommt nichts raus, alles, was aus eurer Kehle kommen könnte, liegt in dieser alten knochigen Hand, ein kleines, durchscheinendes Häufchen Schall und Vibrationen.

Die Hexe wirft eure Stimme in eine kleine, unförmige Flasche und steckt einen Korken in den Flaschenhals. Sie hält sie gegens Licht, um die Farbe zu prüfen, nickt zufrieden und stellt die Flasche in ein Regal. So vergehen Jahre und Jahrzehnte, mit der Zeit kommen neue Regale hinzu, und neue Flaschen in den Regalen, bis es im Haus der Meerhexe aussieht wie in einer Apotheke auf dem Meeresgrund. Die Kunden, die es verlassen, wirken kränker als vorher, aber beschweren sich weniger.

Natürlich ist das alles nicht echt, nur eine Spinnerei, genauso unwissenschaftlich wie lebensbedrohlich liebeskranke Meerjungfrauen mit Menschenbeinen; eine Stimme kann man vielleicht verlieren, wiederfinden sogar, aber stehlen doch nicht; eine Stimme kann schwer sein, aber das heißt nicht, dass man sie in der Hand halten kann; eine Stimme kann klar sein, aber deswegen füllt man sie noch lange nicht in Flaschen wie Wodka oder Weißwein. Alles erstunken und erlogen, könnte man also denken - aber das Haus der Meerhexe gibt es wirklich. Es steht inzwischen an Land, völlig trockengelegt und mitten in der Innenstadt; ich frage mich, ob der Klimawandel schuld daran ist.

Das Haus der Hexe tarnt sich, mehr schlecht als recht, als kleines altes Parfümgeschäft: "Parfümerie Tiefe Wasser" steht auf dem Schaufenster, Glasflaschen in den Regalen dahinter. Als ich den Laden entdeckte, wirkte er menschenleer, aber die Tür war nicht abgeschlossen. Ich schob sie vorsichtig auf, sie ließ sich nur schwer öffnen, und das Innere des Ladens war abgedunkelt. Keine Türglocke. Ich atmete ein und wusste sofort, dass mich der Schriftzug auf dem Schaufester belogen hatte. Ich weiß, wie Perfümläden riechen. Und dieser Raum roch nur nach Salzwasser, Treibholz und Dingen, die ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit wären, wenn die Richter in Den Haag an Magie glauben würden.

Ich konnte mir denken, was in diesen Flaschen war. Es gab dünne Flaschen für hohe Stimmen und dicke Flaschen für tiefe Stimmen, es gab laute Stimmen, die riesige Einmachgläser füllten, und raue, heisere Stimmen, die so trocken waren, dass sie lichtgeschützt in dunkelbraunen Flaschen gelagert werden mussten. Die dicken, besonders bruchfesten Gläser, die hermetisch verschlossen in sicherem Abstand von den anderen Gefäßen standen, waren wohl für Operndiva-Stimmen gedacht, und in einer anderen Ecke des Raumes sah ich kleine Fläschchen mit Vogelgezwitscher, Erlenmeyerkolben voller Fledermausrufe und ein paar bauchige blaue Flaschen, von denen ich hoffte, dass sie keinen Walgesang enthielten - ich bezweifelte, dass Greenpeace mir glauben würde. Irgendwo in diesem Chaos muss es auch eine kleine, unförmige Flasche gegeben haben, die mit einem Korken verschlossen war.

Leise durchschritt ich den Raum, meine Finger fuhren an den Regalböden entlang. Ich weiß nicht mehr, wonach ich damals gesucht habe. Ich weiß nur noch, dass ich im Halbdunklen ein Geräusch hinter mir hörte, dabei hätte der Laden doch leer sein sollen, ich fuhr herum, ich drehte mich und spürte, wie meine Finger an etwas hängen blieben. Ich fiel. Noch bevor mein Kopf aufschlug, sah ich neben mir ein versilbertes Fläschchen mit einer Kleinmädchenstimme herabstürzen, eine eckiges Gefäß mit einer Jungenstimme, eine meerblaue Flasche voller Mövenschreie und dann mehr Flaschen und Fläschchen, als ich hätte zählen können. Ich hörte sie scheppern, ich hörte sie singen und flüstern und schreien.

Als ich aufwachte, lag ich auf einem Berg aus Scherben. Jemand lehnte über mir. Er muss mich durchs Schaufenster gesehen und dann geweckt haben. Ich wollte fragen: "Wo bin ich?" Ich kam nur bis "Wo", dann schreckte ich zusammen, fasste mir an die Kehle. Es war, wie seine eigene Stimme auf Kassette zu hören, nur viel, viel schlimmer. Meine Stimme, war es denn überhaupt noch meine eigene, sie klang fremd, sie klang menschlich, aber so fremd... Er fragte mich, was passiert sei. Ich schloss die Augen, holte tief Luft und antwortete: "Stimmbruch" und dann zuckte ich wieder zusammen vor Schreck. Über den Klang meiner Stimme, aber vor allem darüber, dass ich mich schon fast an sie gewöhnt hatte.



Anmerkung von Loki-Methode:

Diesen Text habe ich ursprünglich als Poetry Slam verfasst und dann auch vorgetragen; leider war ich an dem Tag so nervös, dass ich kaum stillstehen konnte, und das Ganze kam (verständlicherweise) wohl auch nicht besonders gut an beim Publikum. Auf den Text als solches bin ich trotzdem stolz, also wollte ich ihn hier noch mal veröffentlichen.

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