Der Fremde

Text zum Thema Begegnung

von  Oggy

Ich hatte die Angewohnheit, nachts, wenn die meisten schlafen, vom Arbeitsplatz wieder nach Hause zu huschen, denn es war behördlich verboten, zu dieser Zeit noch herumzulaufen. Dabei verwendete ich eine Technik, die ich vor vielen Jahren bei der hiesigen Armee gelernt hatte: Immer, wenn ich an einer Querstraße ankam, wartete ich vorsichtig und beobachtete eine Zeitlang, ob sich irgendwer (zum Beispiel ein Polizeiauto oder gar Polizisten der nahegelegenen Wache) in der Nähe aufhielt. War die Luft dann rein, sprang ich, so schnell ich konnte und gebückt, zur nächsten Straßenseite. Bei den Soldaten hatten wir das mit Waldwegen geübt, aber es ging genauso in der Stadt. Nie traf ich so jemanden, außer einmal.
Ein älterer Mann saß in der Dunkelheit auf einer Parkbank und hatte Essen und Trinken um sich gelagert. Er kümmerte sich genauso wenig wie ich um die zahlreichen Verbote. Er gab sich nicht - wie ich - Mühe, sich zu verstecken. Wir kamen ins Gespräch. Er wohnte in einer Kellerwohnung und würde es keinesfalls mehr aushalten, um diese Zeit wie gefangen zu sein. Ihm wäre es völlig egal, wenn sie ihn so schnappten. Er betonte immer wieder, daß es dort stickig und eng sei und er da einfach raus an die frische Luft müßte. Wenn sie ihn erwischen würden, sollten sie ihn doch bestrafen oder so etwas. Er mampfte und trank dabei, mit offensichtlichem Genuß, schmatzend und schlürfend. Ich traf ihn dieses eine Mal und nie wieder.


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Kommentare zu diesem Text


 S4SCH4 (08.10.25, 17:28)
Wem wurde wohl der Garaus gemacht oder wer verschwand zumindest? Der Vorsichtige, der mit der Soldatenübung in dunkle Ecken springt oder der scheinbar Furchtlose auf dem Präsentierteller, der vielleicht auch ein letztes Mahl zu sich nahm. Es bleibt offen. Dennoch denke ich, es sind beide (ein wenig) verschwunden; in jedem Fall bleibt mir etwas ungestillt zurück, aber so ist das in einem solchen System wohl, nicht zuletzt nährt es m.E. so gerade die Lust, die Gier auf Kommerz und "Freiheit". Und wie Phönix aus der Asche steht ein System parat, das alles an Wünschen verspricht. Aber ich schweife ein wenig ab. Der Text hat was. Danke und Grüße
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