Familien-Schwindsucht

Tuberkulose wurde früher auch häufig als Schwindsucht bezeichnet. Es gab für diese Krankheit spezielle Lungenheilstätten. Thomas Manns Roman "Der Zauberberg" handelt von so einem Sanatorium. Ich erinnere mich nur noch an die 28 Fischsoßen der Frau Stöhr, die vielleicht der Schwindsucht entgegenwirkten.
Als ich 14 Jahre alt war, schickte meine Mutter mich auf eine größere Reise. Ich war es schon gewohnt, als kleines Kind ganz allein in Schleswig-Holstein zu reisen, jedesmal mit der Bahn. Nach Flensburg oder nach Westerland ging die Reise, wo meine Tanten wohnten. Aber diesmal sollte es nach Borstel gehen. Und dieses Mal mit dem gelben Postbus.
Meine Mutter forderte mich auf, meinem älteren Bruder ins Lungensanatorium Borstel einige Sachen vorbeizubringen. Unter anderem ein Tonbandgerät von Phillips mitsamt mehreren Tonbändern. An “A Whiter Shade of Pale” von Procul Harum erinnere ich mich noch. Und “San Francisco” mit Scott McKenzie. Mein großer Bruder hatte sich beim Wehrdienst bei der Bundeswehr eine TBC eingefangen, weil er im Winter im Schnee auf dem kalten Boden liegen musste. Schwindsucht sagte man wohl auch dazu. Früher war das eine häufige Todesursache. Unsere übrige Familie war gesund wie ein Kern und unser Haus musste auch nicht ausgeräuchert werden. Nur mein Bruder war krank, verlor dadurch ein Jahr seines Lebens und bekam danach sein nachfolgendes Studium vom Staat finanziert. Immerhin.

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Als wir R. im Jahr 2018 in Ecktown trafen, sagte er folgendes zu uns: “Mein Bruder ist ein Verbrecher, ich möchte ihn töten”. Diese Aussage passte so gar nicht zu ihm und leider hat er es auch nicht getan. Nun ist er kürzlich gestorben. Der “Verbrecher" hat mir daraufhin eine email geschickt mit einer Aufstellung der anfallenden Beerdigungskosten und der Aufforderung, wir müssten uns jetzt die Summe durch zwei teilen, da unser Bruder keine eigene Familie hatte. Ich antwortete ihm nicht, ghostete ihn und wartete ab, was passiert. Ich war nicht auf der Beerdigung und habe von einem Cousin erfahren, dass R's Grab nun auf unserem Familiengrab angeordnet ist. Mein Cousin war aber auch nicht bei der Beisetzung anwesend. Ich vermute mal, der “Verbrecher” wollte die Kosten des Familiengrabes auf mich abwälzen.
So ist das in manchen dysfunktionalen Familen bisweilen. Es kündigte sich schon weit vorher an, als mein Vater mich bis aufs rote Blut verprügelte. Er wurde dann zur Belohnung über 100 Jahre alt.