Der Wandel

Erzählung zum Thema Reinkarnation

von  AndreasG

Da ist er wieder, der Grausame. Ich kann ihn genau erkennen, wie er durch dieses riesige Loch in der Wand kommt; spüre, wie bei jedem Schritt seiner unglaublich langen Beine der Boden zittert und höre dieses Donnern, als wenn ein Baum umfällt, wenn er seine gigantischen Füße aufsetzt. Nein, - er setzt die Füße nicht auf. Er stampft und lässt es absichtlich krachen.
Jetzt setzt sich der Grausame hin. Sein grotesker Körper nimmt noch seltsamere Formen an. Die ohnehin schon unnatürlich langen Beine kann er auch noch in der Mitte knicken, so daß der untere Teil herunter baumelt wie ein besonders dicker Schnürsenkel.
Ja. Wie ein Schnürsenkel. – Auch so ein Gegenstand, den ich nicht kannte, bevor ich das erste Mal auf diese seltsamen Wesen traf. Zu Hause hatten wir das nicht. Zuhause gab’s nur die praktischen Hosen mit Fußteil. Jeder hat die getragen.
Viele waren wir damals. Tausende. Und alle hatten wir die gleichen Hosen an, die natürlich anständig weiß waren und nicht schwarz oder blau – oder gar grün. Gut, einige von uns trugen goldenfarbige Hosen und andere schwarze Streifen auf dem weißen Grund, aber das waren Ausnahmen.
Ach, war das eine schöne Zeit. Wir spielten viel miteinander und erzählten uns gegenseitig Geschichten. Auch spekulierten wir, wie die Welt draußen wohl aussehen könnte, denn ein paar aus unserem Volk hatten schon einen kurzen Blick über den Rand unseres Kartons werfen können. Einige behaupteten sogar, sich noch an die Anfänge zu erinnern. Sie sprachen von riesigen weichen Händen, die sie gestreichelt hätten.
Darum waren wir aufgeregt und voller Erwartungen, als die Reise endlich los ging. Es rumpelte und würfelte uns durcheinander, dann schwankte es längere Zeit, dass uns ganz übel davon wurde. Doch nichts konnte uns die gute Laune verderben. Wir erfanden Lieder und Melodien und sangen viel.
Als endlich der Deckel aufsprang, lag eine völlig andere Welt vor uns. Bunt und schrill, einfarbig oder farbig. Ständig wechselte es sich ab. Leute aus meinem Volk erwarteten uns und wollten sofort die tollsten Geschichten erzählen. Fremde Leute mit bunten Kleidern oder Hosenanzügen rümpften ihre kleinen spitzen Nasen oder zuckten mit den tellerförmigen schwarzen Ohren. Sie meinten wohl, dass sie etwas Besseres wären. Trotzdem war es eigentlich ganz nett mit den Fremden.
Und dann kam da diese kleine Ausgabe des grotesken Kerls. War wohl ein Junges oder so.
Es hatte auch schon so komische Proportionen, die Arme und Beine so lang, der Kopf viel zu klein, winzige Ohren und Augen und dann noch einen Finger zu viel an jeder Hand.
Ich dachte. „Das wird ein Spaß!“ – Sind ja ein bisschen blaß und farblos, diese Riesen, aber was soll’s. Aber da hatte ich mich verrechnet! Das sind alles Sadisten.
Gegen die Wand hat mich diese Kleinausgabe des Grausamen geworfen; gegen meine Freunde hat er mich geschlagen, Kegeln mit mir gespielt, im Wasser versenkt, im Sand vergraben und was sonst noch kam. Einen ganzen Winter lag ich eingefroren im Freien; darum kenne ich Bäume und Schnee. Am schlimmsten aber war, als er mir mit den hässlichen weißen Dingern in seinem Mund die Nase zerkaut hat.
Und dann lag ich Ewigkeiten in einem Haufen voller Müll. Allein, ohne Freunde.
Später wurde ich dann weitergereicht. Ich weiß gar nicht mehr wie oft. Zwischen bunten Plastiksteinen mit Höckern wurde ich gelagert, in einem Puppenstubenbett habe ich gelegen oder in einem Haufen grässlicher Monster. Doch egal wo ich war: die Großen mit dem überzähligen Finger waren alles Sadisten.
Zuletzt landete ich in einer großen Kiste, in der Viele aus meinem Volk lagen. Auch jüngere als ich. Welche mit blauen Overalls, mit schwarzen Hosen und Mützen, kurzen Höschen, Kochmützen und Musikinstrumenten in den Armen, Mädels mit knappen Röckchen, kurzen Kleidchen oder einem unwürdigen “M“ auf dem Hinterkopf geprägt.
Da war auch viel Elend zu sehen. Manch einer hatte keine Beine mehr oder die Hände waren abgenagt. Anderen fehlte ein Ohr oder das Schwänzchen. Einige waren auch so abgeschabt, dass sie fast weiß erschienen. Andere waren schmutzig oder mit Strichen und krakeligen Schriftzeichen bemalt.
Mir war inzwischen alles egal. Wie sollte ich mich auch gegen das Sadistenpack wehren? Ich selber war gezeichnet von den Grausamkeiten und erhoffte mir inmitten der Krüppel nichts mehr von meinem Dasein. Die Zeit der Freude war lange vorbei; spätestens, seit mein Freund Astronauti an eine Sylvester-Rakete gebunden wurde und den Versuch starten sollte, den Mond zu erreichen. Ich sage ja: Sadisten.
In der großen Kiste war es auch nicht schlimmer. Eigentlich war es sogar besser. Wir konnten uns unterhalten und Geschichten erzählen. Ganz wie früher; nur dass die Geschichten jetzt alle traurig waren.
Dann hat mich der große Kerl heraus genommen und mit einigen Anderen auf einen kleinen Haufen gelegt. Wenig später fand ich mich zwischen neuen Freunden aus meinem Volk wieder. Fast kam so etwas wie Hoffnung auf.
Aber was muss ich sehen? Dieser grausame Kerl nimmt einen meiner neuen Freunde und schneidet ihm den Kopf ab. Einfach so! Und dann bohrt er Löcher hinein!
Ekelhaft.
Ob ich der Nächste bin? Sechs von uns hat er schon erwischt. Er hat Hände abgeschnitten, Füße gekappt, die Mützenspitzen abgesäbelt und Einem die Nase entfernt. Und dann setzt er sie wieder falsch zusammen. Fremde Köpfe, falsche Oberkörper, - all dies, - und zum Schluss schmiert er farbiges Zeug drauf.
Sieht schon komisch aus. Sie scheinen gar nicht zu leiden und benehmen sich ganz normal. Einige sind plötzlich sogar richtig gut gelaunt und singen und musizieren.
Irgendwie kann ich es ja verstehen. Das Blau ihrer Haut sieht gut aus, die Mützen haben keine Flecken mehr und sie wirken sehr adrett. Man könnte meinen, dass sie frisch geschlüpft wären. Obwohl, - ich bin gar nicht geschlüpft, ich wurde spritzgussgepresst.

Illustration zum Text
Gewandelt
(von Andreas Gahmann)
Illustration zum Text
Gewandelt
(von Andreas Gahmann)

Anmerkung von AndreasG:

- siehe Homepage -

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Kommentare zu diesem Text

Yennayah (38)
(20.03.05)
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 AndreasG meinte dazu am 21.03.05:
Hallo Yennayah.
Genau diese Funktion sollte der Text haben: eine Art Rätsel und gleichzeitig eine Art von Selbstdarstellung. Wie ich bemerken durfte, gab es sehr unterschiedliche Wahrnehmungen. Schön. Er polarisiert.
Mal sehen, ob ich daran noch etwas ändere. Erstmal liegen lassen.
Liebe Grüße, Andreas
jovanjovanovic (56)
(20.03.05)
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 AndreasG antwortete darauf am 21.03.05:
Danke Jovan.
Gruß, Andreas
Kinghorst (62)
(20.03.05)
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 AndreasG schrieb daraufhin am 21.03.05:
Hallo Jürgen.
Als Kurzgeschichte oder vielleicht auch als Erzählung betrachtet muss ich Dir zustimmen. Es ist eine Schreibübung zum Thema: "Wie würde mich ein Gegenstand aus meinem Haushalt beschreiben/wahrnehmen?" - Anlässlich der Homepage habe ich es herausgekramt; mehr nicht. Es war nie als "echte" Literatur gedacht.
Liebe Grüße, Andreas
LyraBerethil (21)
(20.03.05)
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 AndreasG äußerte darauf am 21.03.05:
Hallo Lyra.
Mit Sicherheit hast Du Recht, wenn es denn eine Kurzgeschichte sein sollte. Hmmm... Mir war noch gar nicht die Idee gekommen, den Text dazu zu machen. Das überlege ich mir noch (mit vernünftigem Ende, besserem Erzählstil und so).
Danke für die Kritik und die Anregung. *grübel*
Liebe Grüße, Andreas
entblättert (23) ergänzte dazu am 24.03.05:
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 AndreasG meinte dazu am 25.03.05:
Hallo Entblätterter.
Upps, ich habe mich missverständlich ausgedrückt. Erzählung und Kurzgeschichte sind unterschiedlich aufgebaut. Wo bei einer Erzählung auch problemlos ein Plauderton ankommt, sollte eine Kurzgeschichte knapper und präziser in der Sprache sein. Das erfordert (wenigstens bei mir) etwas mehr Mühe - und darum habe ich das Wort "besser" verwendet. Sorry.
Dieser Text ist ein Funktions-Text, also weder Erzählung - noch Kurzgeschichte. Vielleicht wandle ich ihn noch, mal sehen. Eigentlich finde ich ihn jetzt schon sehr sprechend und der Funktion angemessen. Na ja.
Liebe Grüße, Andreas
PraesidentDeath (24)
(20.05.05)
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 AndreasG meinte dazu am 30.05.05:
Hallo PD.
Danke für das Doppellob, aber über die Güte des Textes gehen die Meinungen wohl auseinander (wie immer halt). Vor allem freut es mich, dass mein anspruchsvolles und intellektuell forderndes Hobby auch bei Jüngeren eine gewisse Würdigung erfährt.
Liebe Grüße, Andreas
Anders (23)
(12.02.08)
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