Das Kirschenmädchen

Märchen zum Thema Chancen

von  AndreasG

Es ist noch gar nicht so lange her, da lebte in einer großen Stadt ein kleines Mädchen bei ihrer Stiefgroßmutter. Claudia, so hieß das Mädchen, hatte auf tragische Weise seine Eltern verloren. Gerade waren sie noch da gewesen und ihr Vater stellte ihr mit seiner tiefen und warmen Stimme seine Stiefmutter vor, schon waren sie plötzlich weg – und Claudia allein.
Geradezu magisch war auch das Verschwinden des elterlichen Wagens, der gegenüber des Hauses der Großmutter geparkt war. Claudias Mutter hatte noch gesagt, dass sie sofort nachkommen würde, sobald die Zigarette zu Ende geraucht war, doch als das arme Mädchen, über den Verlust des Vaters verzweifelt, zum Fenster lief, war die Parkbox leer.
Kaum etwas war Claudia geblieben. Die wichtigsten Dinge in ihrem Leben hatte sie von einem Moment zum nächsten verloren: die Eltern, das 25 Quadratmeter große Zimmer und die Musiksammlung mit allen Klingelton-Hits der letzten Jahre. Aus unerfindlichen Gründen war auch das Handy aus Claudias Gucci-Tasche verschwunden. Einfach weg, genau wie das Schlangenleder-Portemonnaie mit der Master-Card. Jetzt war Claudia abgeschnitten von ihrer früheren Welt. Sie konnte niemanden erreichen, bei niemandem Hilfe einfordern und selbst wenn sie sich an eine Adresse erinnern hätte können – was natürlich nicht der Fall war – wäre es ihr unmöglich gewesen, nach Hause zu kommen. Es war, als hätte sie sich in einem großen dunklen Wald verirrt.
Claudia blieb kaum etwas. Nur die wenigen Dinge, die sie in ihrem Kalbsleder-Überseekoffer fand, also nur ein Bruchteil des Inhalts ihres Kleiderschrankes: Nicht einmal zwei Dutzend italienische Kleider, genau so wenige Paar Schuhe, ein paar Mäntel und Jacken, das Kleinste ihrer Schminkköfferchen, eine winzige Auswahl Schmuck und eine Fototasse, auf der ihr Vater in Badehose zu sehen war.
Und natürlich blieb ihr auch ihre Stiefgroßmutter, eine hagere und falkennasige Frau mit schlechten Augen, aber Ohren wie eine Katze. Diese ungerechte Frau ließ ihre Stiefenkelin in einer kleinen und stickigen Zwölf-Quadratmeter-Kammer schlafen und zwang sie zu erniedrigenden Tätigkeiten.
Von morgens an musste das arme Mädchen putzen und arbeiten. Kaum war sie gegen 11 Uhr aufgestanden, schon war sie angehalten ein ganzes Kilogramm Kirschen zu waschen, zu sortieren, zu entsteinen und als Veredlung von gefüllten Lebkuchenmännchen klein zu schneiden. Denn damit verdiente die Großmutter einen Teil ihres Geldes: sie verkaufte auf der Straße Lebkuchen, gemütlich an der frischen Luft sitzend, während das arme Mädchen abends Lebkuchenmännchen formte, um sie dann in den heißen Ofen zu schieben. Dabei wurde es dem armen Ding sogar in ihrem roten Sommerkleidchen schrecklich warm.
Ihr einziger Freund in diesen schweren Tagen war das Lebkuchenthermometer, das in Form eines Lebkuchenmännchens gearbeitet war und mit dem sie sich unterhielt, während sie den von der bösen Großmutter ausgerollten Teig ausstanzte und die rohen Teigmännchen auf das Backpapier legte. Liebevoll nannte Claudia das Thermometer Bert und klagte ihm all ihr Leid.
Eines Tages, nachdem das Mädchen schon drei Backbleche fertig belegt hatte, sprach das Thermometer plötzlich.
„Du, Claudia,“ sagte es und dem Mädchen fiel vor Schreck fast die Ausstanzform herunter.
„Du, Claudia. Es ist so mies von Deiner Oma, dass sie Dich hier so hart schuften lässt. Kaum einmal gibt sie Dir genügend Geld für’s Shopping und die roten Pumps hat sie Dir auch erst nach dem dritten “Die-muss-ich-haben“ gekauft.“
Das Mädchen nickte betreten und schaute schüchtern in den Spiegel, der an der Tür befestigt war.
„Und nur zweimal in der Woche darf ich zum Frisör,“ flüsterte sie scheu.
„Ja, Claudia. Ist Dir noch gar nicht das Muster dahinter aufgefallen? – Eine alte böse Frau, ein verirrtes Kind von 23 Jahren, Lebkuchen, Backofen, harte Arbeit ... Na? – Aber ich kann Dir helfen. Folge nur meinen Anweisungen.“
Das Mädchen, das sich schon aufgegeben hatte, schöpfte neuen Mut und versprach alles zu tun, was das Thermometer ihr sagte. So tief war sie schon gesunken, dass sie nicht einmal widersprach, als sie öffentliche Verkehrsmittel benutzen musste, um zum Bahnhof zu kommen. Und dort angekommen schwieg sie auch dazu, dass es nur ein Ticket zweiter Klasse nach Italien war, das sie sich von ihrem armseligen Taschengeld leisten konnte. Es passte so gut, denn Claudia fühlte sich schon lange zweitklassig behandelt.
Die Reise endete damit, dass Claudia an einer Kirschplantage ausstieg und dem Taxifahrer ihr letztes Geld geben musste. Ein wenig Verzweiflung machte sich in Claudia breit, denn ihr war nicht klar, warum das Thermometermännchen sie hier hin geführt hatte. Das verstärkte sich noch, als sie auf einen seriös gekleideten Mann traf, der sich als Schokoladenfabrikant vorstellte und sich darüber lustig machte, dass sie in einem roten Sommerkleid und roten Pumps zwischen den Bäumen hindurch lief. Aber dann, nachdem er miterleben durfte, dass Claudia eine reife Kirsche allein am Aussehen erkennen konnte, stellte er sie begeistert als oberste Kirschtesterin ein. Und auch ihre Geschichte von den gefüllten Lebkuchenmännchen faszinierte ihn.
So zahlte sich die sklavische Arbeit bei der Stiefgroßmutter doch noch aus, denn gestählt durch die Schufterei machte es ihr nichts aus, fast 100 Kirschen am Tag zu begutachten. Bald konnte sie es sich wieder leisten, jeden Abend in die Disko zu gehen. Aber das Lebkuchenthermometer vergaß sie nicht. Mehr noch, sie wählte ihren neuen Nachnamen nach ihm und nannte sich fortan Claudia Bertani.

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Kommentare zu diesem Text

TanzderSinne (30)
(09.12.05)
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 Bellis meinte dazu am 09.12.05:
(Ähm... Hat sie das jetzt wirklich nicht verstanden??)
TanzderSinne (30) antwortete darauf am 09.12.05:
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 AndreasG schrieb daraufhin am 09.12.05:
@TdS: Hallo Sinnentänzchen.
Besonders die Stelle mit dem "...was sich oft im wahrem Leben abspielt..." gefällt mir sehr gut an Deinem Kommentar. *kicher*
Aber gräm' Dich bitte nicht. Jedem passiert soetwas mal, ganz normal und natürlich. Übrigens: nicht nur frau kommt so etwas vor. Aber über meine Pannen mag ich mir jetzt gar nicht äußern. *mundzuhalt*
Liebe Grüße, Andreas

@Fragerin: Hallo Bellis.
(Schwamm drüber, - okay?)
Schau mal, das Vögelchen dort !
kichernd grüßt der Märchenerzähler
TanzderSinne (30) äußerte darauf am 09.12.05:
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 Bellis (09.12.05)
Ulkiges Geschichtchen. ;o) So schön frech und respektlos. ;o) Manchmal (am Anfang) sind mir die "Torturen" für das arme Mädchen nicht subtil genug beschrieben (es ist zu schnell spürbar, daß sie gar nicht so arm dran ist). Und mir fehlt noch ein bißchen was zu ihrem beruflichen Werdegang: Sie hätte beim Backen die Kirschen öfter kosten sollen, damit sie die reifsten und süßesten erkennen lernt. Das Happy End ist klasse. ;o) Jetzt interessiert mich aber wirklich, wie Du auf die Idee zum Märchen gekommen bist! Zu viel TV geguckt?

 AndreasG ergänzte dazu am 09.12.05:
Merci Bellis.
Tja, der Anfang. Da werde ich in einigen Wochen noch einmal dran müssen (dabei habe ich die heftigsten Sachen schon rausgenommen: den viertürigen Ferrari, das edelsteinbesetzte Handy und so). Obwohl ich schon wollte, dass recht früh zu spüren ist, dass es sich um ein verwöhntes Luxus-Ding handelt (so sehr mag ich diese Werbe-Spots).
Aber der berufliche Werdegang... stimmt, der kommt nicht rüber. Ich dachte da an ein geknechtetes Märtyrium von ca. 3 Tagen als Lebkuchenbäckerin (hehe), aus dem Claudia dann all ihre Leistungsfähigkeit und all ihr Wissen schöpft.
Die Idee? - Schreibwerkstatt zum Thema: "wir versuchen uns jede Woche in einem anderen Genre - heute: Märchen". Davor unterhielten wir uns über dies und das und über Fernsehwerbung. Ich fragte dumm in die Runde, wer denn den Nachnamen meiner erklärten Lieblingswerbefigur kenne (ich verdrängte ihn bis dahin erfolgreich) und mir wurde geholfen. Irgendwie bekam ich das nicht mehr aus dem Kopf... - Dazu gab es dann zwei blind gezogene Fotos als Inspiration - und ab da lief nichts mehr (Bild 1: eine Fototasse mit Mann in Badehose / Bild 2: ein undefinierbares Metallding, das mir (im Scherz) als Backofenthermometer gedeutet wurde). Der Rest floss einfach heraus.
Das mit dem Schmecken überdenke ich noch.
Hast Du schon mal bewusst dem Text des aktuellen Spots gelauscht? Das ist vielleicht ein Sch... *mundzuhalt*
Liebe Grüße,
Andreas

 Traumreisende (09.12.05)
die frage , die ich mir schon mal bei der werbung gestellt habe, wie kommt eine frau in roten stöckelschuhe in eine kirschplantage....
am anfang kam ich allerdings etwas zäh in die geschichte rein, die auflösung ist klasse. lg silvi

 AndreasG meinte dazu am 09.12.05:
Mon Chéri Silvi.
Die Werbung nervt mich schon seit Jahren. *quängel*
Leider war ich wohl etwas zu hastig mit dem Einstellen (wo doch gerade wieder die neue Fassung läuft, wollte ich den Zeitpunkt nicht verpassen...), denn Du hast absolut Recht. Der Anfang ist noch etwas zäh und der ganze Text überarbeitungsbedürftig.
Aber jetzt lasse ich ihn einfach hier etwas liegen, bevor ich ihn mit etwas distanzierteren Augen betrachten kann (ich habe trotzdem schon drei Stellen gefunden ... ojemine).
Es freut mich, dass Du etwas Spaß gefunden hast.
es knuddelt Dich, Andreas
mueller (39)
(09.12.05)
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 AndreasG meinte dazu am 09.12.05:
Hallöchen Tom.
Ja, der Anfang... *grummel* Da gehe ich im nächsten Jahr noch dran. *schwör*
Manchmal denke ich, dass diese Tusse schon seit Ewigkeiten durch die Kirschplantagen stöckelt. Vermutlich hat sie in eine heiße Affäre mit der byzantinischen Königsnuss - oder so.
Mehr davon? - *überleg* - "Werbungsverunglimpfung" als neues Genre (oder zumindest als Projekt?) wäre schon fein... Muss ich mal kucken.
Möge Deine Kirsche niemals austrocknen ... ähm ... die auf den Schultern, natürlich!
pralinenwerfend,
Andreas
LyraBerethil (21)
(09.12.05)
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 AndreasG meinte dazu am 10.12.05:
Rocher, Lyra.
Scharf? - Aber die Piemont-Kirsche ist doch nichts für kleine Kinder! *zwinker*
Denk' doch mal an die Gefahren des Alkohols! (kein Wunder, dass Du es scharf findest)
Freut mich sehr, dass es Dir gefällt. Auch wenn ich es nicht gut heißen kann, wenn Du das Verstoßen einer auf Hilfe angewiesenen 23-Jährigen lustig findest. Das arme Ding! *heul*
*nüsschenreichend*, Andreas
PraesidentDeath (24)
(11.12.05)
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 AndreasG meinte dazu am 13.12.05:
Hanuta, Stefan.

schöner Kommentar, gefällt mir.

Liebe Grüße,

Andreas
wupperzeit (58)
(30.12.05)
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 AndreasG meinte dazu am 02.01.06:
Hallo Andreas.
Natürlich wirst Du am Besten wissen, was Dein Neffe gut findet oder versteht. Da mag ich gar nicht mahnen: "unterschätze nie einen Zwölfjährigen" (ich hätte in dem Alter sehr über eine Satire auf den Persil-Onkel oder Clementine-Sie-baden-gerade-Ihre-Hände-darin gelacht; - andererseits: vielleicht ist Lachen auch gar nicht so gut als Einschlafhilfe). - Es kommt natürlich auf seinen Werbekonsum an.
Aber schön, dass das Märchen Dir gefällt. Freut mich.
(Ich korrigiere, wenn ich wieder Luft bekomme)
Liebe Grüße, Andreas

 ViolaKunterbunt (17.01.06)
Hach, ich habe ja dieses excellente Werk auf einer Lesung kennen gelernt und hatte das Vergnügen, es von Dir vorgelesen zu bekommen. Sehr schön. Obwohl ich (leider) viel zu viel Werbung sehe, habe ich erst ziemlich spät gemerkt, worum es eigentlcih geht. Claudia mit dem roten Kleidchen. Allein der Kalbsleder Überseekoffer - zum Schreien komisch!
Liebe Grüße, Viola

 AndreasG meinte dazu am 18.01.06:
*seufz* - Besonders bei dieser Werbung ist jedes einzelne Sehen schon ein Zuviel. Schlimmer geht nimmer (obwohl diese Klingeltöne auch sehr nerven und ich die blaue Ersatzflüssigkeit vermisse ...). Im Grunde sollten wir noch viel mehr Werbung auf die Schippe nehmen, ist sie nicht die Kunst des kleinen Mannes (nicht die der kleinen Frau - die hat aber auch ein Glück)? - Man gönnt sich ja sonst nichts! *zwinker*
Liebe Grüße, Andreas
PennyLane (53) meinte dazu am 18.09.06:
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 AndreasG meinte dazu am 18.04.07:
Hupps! - Was jetzt?

@ Viola: Auch wenn nur Du diese Antwort bekommst und so gar nichts damit anfangen kannst ... irgendetwas muss ich doch schreiben. Wie sieht das denn sonst aus?

@ PennyLane: Vermutlich hast Du das Navigieren jetzt gelernt, denke ich. Ist auch kein Problem, so ein Verklicker. Was aber soll jemand zur Entschuldigung anbringen, der nach genau 7 Monaten einen Kommentar beantwortet?
Ein wenig beruhigt es mich darum, dass Du diese Zeilen wohl nie lesen wirst ... *schäm*

Liebe Grüße
(und "entschuldige bitte die Störung" an Viola),
Andreas
Spurensucher (44)
(02.02.08)
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 AndreasG meinte dazu am 03.02.08:
Hallo Petra.

Schon seltsam ... die "Fotobadehosentasse" war als inspirierende Hilfe gedacht und ich habe sie mehr reingezwängt, als dass sie nötig gewesen wäre (wir arbeiten in der Schreibwerkstatt häufig mit blind gezogenen Bildern, die uns Ideen oder Aufhänger geben sollen. Manchmal passen sie aber gar nicht in die Geschichten, bilden nur Beiwerk oder werden später gestrichen).
Das Märchen selber fiel mir ein, weil zuvor über die schlimmsten Werbespots diskutiert wurden, auch Claudia Bertani tauchte da auf. Manchmal gehen Inspirationen sehr gerade Wege.
Liebe Grüße,
Andreas
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