Alle 526 Textkommentare von Habakuk

25.06.19 - Kommentar zum Text  ein Du von  juttavon: "Liebe Jutta, dein Gedicht gefällt mir, aber diesmal „etwas“ weniger von seinem Sprachrhythmus bzw. seiner Sprachmusikalität her als von seinem Inhalt, wobei ich der Lesart von „niemand“ einiges abgewinnen kann, mit dem Zusatz, dass es auch eine Lebensfurcht oder Lebensangst gibt. Bei letzterem denke ich an Edvard Munch. Wenngleich Furcht bzw. Angst sich ja voneinander unterscheiden. Das aber nur am Rande. Nun ja, du wirst es mit Würde tragen. Außerdem hast du insgeheim schon lange sehnsüchtig auf ein wenig Kritik meinerseits gewartet, unterstelle ich mal. Also mir geht es so. ;-) Eine Habakuk’sche Version, der Hitze geschuldet, nur zur Unterhaltung: blättert sich auf das schweigen im wind der alte mit furchtgegerbter haut hackt im frühjahr sein greises beet über den holzzaun geworfen der blick das wort seit ewigkeiten verweht ein lächeln gemeinsam des herzens schlag Das nächste Mal gibts wieder uneingeschränktes Lob, liebe Jutta. ;-) HG H."

28.05.19 - Kommentar zum Text  Mythen von  juttavon: "Schönes Gedicht, liebe Jutta. Die etymologische Bedeutung des Wortes „Mythos“ bedeutet ja Überlieferung aus der Vorzeit eines Volkes in Form von Dämonen-, Götter- und Heldensagen. Träume und Mythen als verborgene Sprache der Seele. C. G. Jung und viele andere bedeutende Psychologen haben sich mit der Welt der Archetypen, Träume, Mythen und mit den Entwicklungsprozessen der Seele beschäftigt. Das ist auch das Thema deines Gedichts. Joseph Campell, ein US-amerikanischer Professor und Autor auf dem Gebiet der Mythologie betrachtet den Mythos als einen geheimen Zufluss, durch den die unerschöpflichen Energien des Kosmos in die Erscheinungen der menschlichen Kultur einströmen. Religionen, Philosophien, Künste, primitive und zivilisierte Gesellschaftsformen, die Urentdeckungen der Wissenschaft und die Technik, selbst die Träume, die den Schlaf erfüllen, all das gärt empor aus dem magischen Grundklang des Mythos. So sehr die Mythen im Detail variieren, ihre Strukturen sind einander sehr ähnlich. Sie haben ein universelles Muster. Traum, Mythos und Wirklichkeit sind als miteinander kommunizierende Wirklichkeiten zu sehen. Der Traum ist nach Campbell ein "verpersönlichter Mythos", er verbinde mit der eigenen Lebensgeschichte ebenso wie mit dem Menschsein ganz allgemein. In eindrucksvollen Bildern beschreibst du diesen Prozess. Einzelne Verse explizit herauszugreifen bedarf es nicht. Jedes Bild bringt das oben Gesagte anschaulich zum Anklingen. Sprachklang und Rhythmus wohnen deinen Gedichten ja stets inne. Nicht unerwähnt lassen will ich einige Klangfiguren deines Gedichts. Alliterationen fallen mir auf bei „Flügeln - Faser - Flut - Flussbett - fliegen - flackernde Felswände - Feuer“. Oder: „Schlaf - schwarze Schattierung - Schritt - Schatten“. Assonanzen sehe ich bei a, e, i, o, u sowie den Umlauten ä, ö und ü, ohne jetzt jeden Einzelfall aufzuzeigen. Mir ist schon klar, dass strenggenommen die Begriffe Alliteration sowie Assonanz nur im Zusammenhang mit benachbarten Wörtern bzw. Wörtern, die innerhalb eines Verses oder einer Strophe aufeinanderfolgen, benutzt wird. Ich sehe das etwas großzügiger und für mich ist jedes Gedicht in diesem Zusammenhang eine syntaktische Einheit und der Wohlklang, der aus dem Gleichklang der Anlaute bzw. Vokale erfolgt, kann sich für mich auch aus weiter voneinander entfernten Versstrukturen ergeben. Ich sehe insofern ein Gedicht als einheitlichen Klangkörper. Da werden die sogenannten „Experten“ womöglich widersprechen. Macht mir aber knapp die Hälfte, will sagen, ist mir wurscht. Auf die Klangfigur „Konsonanz “ könnte ich auch noch eingehen, da sich in deinem Gedicht reichlich Konsonanzen finden lassen. Ich belasse es aber diesmal bei den bisherigen Ausführungen und begnüge mich mit einem relativ kurzen Kommentar. ;-) Mir gefällt dein Gedicht. HG H."

24.05.19 - Kommentar zum Text  Aktionskunst von  juttavon: "Der Titel deines Gedichts gibt mir einen ersten Hinweis zur Interpretation deines schönen Gedichts, liebe Jutta. Hoffe ich. Das implizite lyrische Ich identifiziert sich mit einem Schmetterling. Der Mensch erlebt die Natur durch seine radikal subjektive Sichtweise. Der Schmetterling nimmt hier also charakteristische menschliche Züge an, was seine Empfindungen und inneren Handlungsantriebe (Impulse) anbelangt. Der Schmetterling ist ein instinktgesteuertes Wesen, will heißen, zeigt in bestimmten Situationen ein nicht bewusst gelenktes, aber der Natur inhärentes artspezifisches Verhalten. In der Aktionskunst ist nicht selten der Künstler selber Bestandteil des Werkes und sein Körper künstlerisches Medium. Während für ein klassisches Kunstverständnis die Trennung von Subjekt und Objekt Voraussetzung ist, in dem der Künstler ein von ihm ablösbares Artefakt schafft, geht es in der Aktionskunst um Handlungen, in die der Künstler (hier das implizite lyr. Ich) unmittelbar involviert ist. In diesem Zusammenhang verstehe ich Aussagen wie „entfalten den Aufstand, besetzen das Brennesselfeld, aus Gemüt noch eines Jahres Glück“. Alles Empfindungen bzw. Handlungen menschlicher Art, die einem Schmetterling so nicht zu eigen sein dürften. Nicht nur in Griechenland, sondern auch bei vielen primitiven Völkern, gilt der Schmetterling als Symbol für die Seele. Das kann damit erklärt werden, dass der Schmetterling bis zu seiner endgültigen Gestalt einige Entwicklungsstadien durchläuft und dann in der letzten Stufe der Puppe entschlüpft, dies kann als Bild für eine vom Körper befreite Seele verstanden werden. Aus demselben Grund ist der Schmetterling auch oft ein Bild für Verwandlung, Auferstehung und Wiedergeburt. Im Medizinrad der Indianer wird der Schmetterling dem Schmetterlingsclan zugeordnet. Dies ist der Clan, der mit dem geistigen Aspekt des Seins assoziiert wird. Schmetterlinge sind Meister der Transformation. Sie alle beginnen ihr Leben als Raupen, ernähren sich von Pflanzen, bis sie einen Kokon spinnen können, und verwandeln sich dann, nach einer Phase des Schlafes, in Schmetterlinge. Als solche ernähren sie sich von Blumen und helfen diesen bei der Vermehrung, indem sie deren Pollen verbreiten. Auf diese Weise bringen sie dem Rest der Schöpfung die Gabe der Schönheit. Sprachlich erzeugen helle Vokale eine heitere und gelassene Stimmung, wohingegen dunkle Vokale eher trüb und gedrückt wirken. A und u zählt man grundsätzlich zu den dunklen Vokalen, sie vermitteln eine Stimmung von tiefen Tönen, von Dumpfem, von schwer Lastendem oder Bedrohlichem. Andererseits wird der Vokal a im Schrifttum aber auch als der „heitere Vokal der ruhigen Gegenwart“ bezeichnet. Dies gilt gleichermaßen für den Diphthong au, wenngleich auch dieser ambivalent zu sehen ist und außerdem für Schneidendes, Unabänderliches, Trennung, Trauer und Schmerz (Assoziation: "Au"!) stehen kann. Ich denke in diesem Zusammenhang an die Wörter „Lauen, Aufstand, Arien, entfalten, das, Herzwand, entbrannt, Jahres“ in deinem Gedicht. Die Umlaute ü und ä zählen grundsätzlich zu den hellen Vokalen. Es sind Zwischenlaute zwischen einem a bzw. u und vermitteln dem Leser u. U. den Einruck, dass das lyrische Ich sich im Übergangsbereich von zwei verschiedenen Gefühlen befindet, einerseits der Sehnsucht nach einer vom Körper befreiten Seele und andererseits der noch vorhandenen Körpergebundenheit. Auf dein Gedicht bezogen fallen mir da die Wörter „Stück, Flügel, gnädig, Gemüt, Glück“ ins Auge. Ansonsten sehe ich sehr oft die Vokale e und i: Diese hellen Vokale evozieren eine fröhliche, aber auch aufgeregte Stimmung, was auch für den Diphthong ei gilt. Die einzelnen Wörter füge ich jetzt nicht an, sie sind aber leicht im Gedicht nachzuvollziehen. Harte Konsonanten bzw. Konsonantencluster wirken aggressiv und abweisend. Beispielhaft in „Stück (st, ck), entfaltet (t, tf, lt), gerüstet (r, st, t), zerbrechlich (z, r, br, ch). Etc. pp. Weiche Konsonanten sehe ich fast in jedem Wort: b, d, g, m, n, l. Die einzelnen Wörter erspare ich mir. Auffällig ist die besondere Häufigkeit der Konsonanten n sowie g. Meine Absicht war, darzulegen, wie die Gefühlsambiguität des lyr. Ich auch in den Vokalen und Konsonanten Niederschlag gefunden hat. Weiterhin fallen mir die Klangfiguren Konsonanz, Assonanz und Alliteration auf. Mehrfache Konsonanzen bei n bzw. l, Assonanzen bei a, e, ü, Alliterationen bei a, b, d, e, g, s, z. Reim bei Stück, Glück. Ein feines Gedicht, liebe Jutta. Rhythmisch, bildhaft, sprachmusikalisch, klangvoll und zudem voller rhetorischer Stilmittel. Ob meine Interpretation mit der Intention der Dichterin im Einklang steht, sei dahingestellt. ;-) HG H."

15.05.19 - Kommentar zum Text  mal träume ich von  Sternenpferd: "Gefällt mir. Viele Klangfiguren in dem Gedicht. Die Wortbildungen „blaut, schneewund“ sind eindrücklich. BG H."

08.05.19 - Kommentar zum Text  Klarsicht von  juttavon: "Ein wunderschönes Gedicht, liebe Jutta. Das lyr. Ich wendet sich in deinem Gedicht an ein lyrisches Du, ein Begriff, den es als eigenständigen Terminus nicht gibt. Das Ich und das Du des Gedichtes sind eins und werden zum flüchtigen Wir. Das Du könnte ggf. auch eine reale Person darstellen. Ich lese viel Sehnsucht bereits in der ersten Strophe. „Ankommen“ bedeutet ja die Überwindung einer räumlichen und zeitlichen Trennung, umgangssprachlich gar „zur Welt kommen“, will sagen, geboren werden. Augen assoziiere ich mit dem Organ des Lichts, der Bewusstheit, aus der nach einem der ägyptischen Schöpfungsmythen die Welt entstanden ist. Stimmiger scheint mir aber in deinem Gedicht das Auge als Spiegel der Seele, als empfangendes Organ zu sein. Womöglich wird in der ersten Strophe die Reise zum inneren Mann (Animus) bzw. zur inneren Frau (Anima) beschrieben. Es handelt sich hierbei um zwei der wichtigsten Archetypen, also im kollektiven Unbewussten angelegte, von individueller Erfahrung unabhängige Strukturen aus der analytischen Psychologie von Carl Gustav Jung. Diese Reise wäre ein Teilaspekt der Individuation nach C. G. Jung. An die „Chymische Hochzeit“ bzw. „Hieros-Gamos (heilige Hochzeit)“ könnte man in diesem Zusammenhang ebenfalls denken, die Vereinigung verschiedenster, komplementär wirkender Gegensatzpaare, die gemeinsam zu einer höheren Einheit werden. Diese neu entdeckte innere Person, zu der eine Beziehung aufgebaut wurde, bringt dem Einzelnen bewusst und gezielt eine Fülle neuer Einsichten und Einstellungen, die ihm bis dahin unzugänglich waren und die die Persönlichkeit bereichern. „Fragen nach dem Weg der Gangart des Zarten das Warten und Untergehen oder das Wehen auf der Haut verschenken“. Dass dieser Prozess sich auch in der Liebe, der Annäherung wiederfindet, wird in obigen Versen schön verbildlicht. „Warten und Untergehen“ weist evtl. auf die potenziell schwierigen Momente (Sehnsucht, Hoffnung, Zweifel, Angst, Geduld, Enttäuschung) hin. „zeitgleich unsere Stimmen in Höhlengängen“ verdeutlicht die schon immer bestehende Verbindung dieser Persönlichkeitsanteile auf einer höheren Ebene des Unbewussten. „im Bangen der Mut uns an das Drehen der Erde zu lehnen“ ist ein wunderbares Bild. Der Rotation, der Eigendrehung entspräche psychologisch sinngemäß die Forderung zur Individuation, also dazu, ein einmaliges Wesen, ein Individium zu werden. Der Revolution, der Bewegung um die Sonne, entspräche die Forderung, sich einzuordnen in ein größeres, höheres Ganzes, in überpersönliche Zusammenhänge. Damit einhergehend haben wir uns der Angst zu stellen, die ggf. droht, wenn wir aus dem Massenmensch-Modus ausbrechen, aus der Geborgenheit des Dazugehörens und der Gemeinsamkeit herausfallen, was Einsamkeit und Isolierung bedeuten kann. „die Leere der Hände zu teilen“ ist wieder ein eindrucksvolles Bild. Dieses Paradoxon erinnert mich an Zen-Buddhismus. Erlösung bedeutet, sich der Leerheit und gleichzeitig der Zugehörigkeit zu allem bewusst zu werden. Vllt. will dieser Vers auf das spirituelle Eingebettetsein des ganzen Prozesses hinweisen. Soweit zur Deutung. Einige Sätze zur sprachlichen Gestaltung. Für mich ein sehr sprachmusikalisches Gedicht mit Rhythmus und ausgeprägter Bildhaftigkeit. Die Klangfiguren „Assonanz, Alliteration und Konsonanz“ sind auffällig. Exemplarisch einige Beispiele: 1. Vers: Alliteration bei a in „angekommen/Augen“, Assonanzen bei e, i in „angekommen/in/deinen/Augen/spiegeln, Konsonanz bei n 2. Vers: Assonanz bei a, e, Konsonanz bei g, n 3. Vers: Reime bei Zarten/Warten, Gehen/Wehen, Assonanz/Alliteration bei und/Untergehen, 4. Vers: Assonanzen bei a, e, Konsonanzen bei h, n 5. Vers: Assonanzen bei e, i, ö und e in „Höhlen“ bzw. ä und e in „gängen“ werden assonantisch als ähnlich klingend anerkannt. Im letzten Vers sei das Stilmittel Paradoxon/Oxymoron hervorgehoben. Insgesamt betrachtet ein prima Gedicht mit Wiedererkennungs-Charakter. Typisch JvO. ;-) HG H."

23.04.19 - Kommentar zum Text  Worte fallen von  juttavon: "Liebe Jutta, ein ausdrucksstarkes und sprachmusikalisches Gedicht, das auch stilistisch und inhaltlich zu überzeugen weiß. Konsonanten, wenn wir sie sprechen oder singen, ebenso wie die Vokale, üben eine wirkungsvolle Resonanz im Körper aus. So wie Farben in einem Gemälde ihre eigene Sprache sprechen – ein kühles Blau, ein beruhigendes Grün, ein flammendes Rot – kann der Klang von Wörtern eine bestimmte Stimmung transportieren. Alle Strophen, so dünkt es mir, versuchen eine Balance zwischen hellen und dunklen Vokalen, weichen (stimmhaften) und harten, scharfen (stimmlosen) Konsonanten zu wahren, wobei letztere jeweils eher eine agressive, harte, zornige, trübe, gedrückte Stimmung wiedergeben. Anzufügen ist, dass Konsonanten am Wortende stets als hart und stimmlos klassifiziert werden. Vokale a, o, u, au bezeichnet man als dunkel. U und O vermitteln eine Stimmung von tiefen Tönen, von Dumpfem, von schwer Lastendem oder Bedrohlichem. „Regnet es „a, o und u“, zieht sich die Stimmung zu! Exemplarisch hier das agressive „W“ in „Wilde, Wachturm“, wenngleich das W theoretisch auch sanftes Wohlgefühl auszudrücken vermag (z. B. wohlig, warm weich, wunderbar, Wonne). Ferner das Präfix „zer“ mit seinem scharfen „z“ in Verbindung mit dem agressiven „r“ in „zerreiben“. Im Gegensatz dazu die hellen, weichen Umlaute „ä, ü“ sowie die weichen Konsonanten (b, d, f, h, m und n) in der ersten und den folgenden Strophen. Die Konsonaten „k, p, r, t“ drücken das Gegenteil aus. Zu den hellen Vokalen zählen die Buchstaben e und i. Hinzu kommen die Diphthonge äu beziehungsweise eu und ei sowie ie. Auch zu den hellen Vokalen gehören alle Umlaute, also ä, ö und ü. Auf die Konsonanten im Einzelnen einzugehen wäre zu umfangreich. Diesbezüglich wirken auch die zweite, dritte und vierte Strophe sowohl relativ düster als auch freundlich-hell, was die Klangfarbe durch die Aussprache einzelner Laute, die ja die Stimmung ausdrücken, anbelangt. In allen Strophen wird der Rhythmus und Sprachklang sowohl von Assonanzen, Alliterationen als auch Konsonanzen erzeugt, aber nicht unerheblich ebenso durch die Klangfarbe der Vokale und Konsonanten. Beispiele für Alliteration: wilde/Wachtürme, Minute/Minute, gezählte/Gewicht, fliehen/Felsen, einsam/Eindruck, Spuren/sind, Leben/Luft, Hin/Hütten, Kind/klettern, rieben/rot, Herz/Hundefell, Flügel/Flüsterwort. Beispiele zu Assonanzen: bei a: aus/Wachtürme/Sand/auf bei u: zu/Luft/Minute bei i: fliehen/in/die/sind/einsam/Eindruck/ins/stiegen/ etc. pp. Zum Inhalt einige Sätze. Das lyr. Ich beschreibt m. E. seinen rückwärtsgewandten Blick auf die Kindheit. Hände assoziiere ich mit Handeln, Begreifen, Erkennen, will sagen, Hände sind mit dem Akt der Erkenntnis verknüpft. Im weiteren Sinne könnte man das Gedicht auch als Beschreibung eines Entwickelungsabschnitts der Individuation (C. G. Jung) betrachten. Dass dieser Vorgang mit einer gewissen Agressivität einhergeht, habe ich weiter oben angesprochen. Das Ich erkennt die „Wilden“ in sich. Wild verknüpfe ich hier mit ursprünglich, unverbogen, ungezähmt, natürlich, kurzum: Das ursprüngliche Kind in uns. Das Ich erkennt womöglich sein inneres Kind. Die inneren Schutzmauern, die zum Überleben nötig waren, können fallen. Das Über-Ich in Gestalt des Eltern-Ich als Gefängnis mit Wachtürmen bildlich dargestellt, könnte auch ein Blickwinkel sein. „Zartheit“ im Gedicht meint vllt. Zerbrechlichkeit, Verletzlichkeit, „Gewicht“ evtl. Schwere, Last, Bürde. 2. Strophe: „Fliehen in die Felsen“ ist ein deutungsschwangeres Bild mit vielen Ebenen. Fels assoziiere ich mit Unveränderlichkeit, Sicherheit, Idealismus, innerer Festigkeit, Ausdauer, Standhaftigkeit und unerschütterlichem Selbstvertrauen. Allgemein kann darin auch eine starke Persönlichkeit zum Vorschein kommen, deren Leben auf einer sicheren Grundlage steht, von festen Überzeugungen getragen wird, die dadurch vielleicht aber auch etwas unbeweglich und intolerant wirkt. Wenn der Mensch auf festem Grund steht, kann er überleben. Ein möglicherweise spiritueller Aspekt könnte ebenfalls in dem Bild „Fels“ enthalten sein. Die Spuren einer Kindheit können sich ins Leben einbrennen, einen dauerhaften Eindruck hinterlassen. Wir müssen uns ihnen zuwenden, sonst bleiben sie „einsam“. „Klare Luft, Hütten“. Stickige Luft deute ich als ein Bild für unbewältigte Probleme oder die Schwierigkeit, sie zu bewältigen. Klare Luft ist das Gegenteil davon. Hütten sind ein Symbol für Geborgenheit, für einen sicheren Ort in einer bedrohlichen Situation, ein Sinnbild für Zuflucht. Sie rochen nach Milch und Holz. Milch kann für Mütterlichkeit, Geborgenheit, Zuwendung stehen. Holz ist stabil, gleichzeitig aber wandelbar und elastisch. Als Brennstoff verwendet, wird Wärme damit in Verbindung gebracht. Die chinesische Philosophie geht davon aus, dass sich die fünf Elemente Feuer, Erde, Metall, Wasser und Holz im Gleichgewicht befinden, aber sich gegenseitig beeinflussen. Daher ist es wichtig, die Bedeutung und Symbolik jedes einzelnen zu kennen, um ihr Zusammenwirken verstehen zu können. Die dritte Strophe rekapituliert einige schöne Kindheitserlebnisse. Womöglich beschreibt sie aber auch, wie ein Kind sich aus bedrückenden Umständen in seine kindliche Fantasiewelt zurückzieht. Die letzte Strophe zieht ein Resümee. Ja, wir hätten Flügel gebraucht. Kinder haben in ihrem ursprünglichen Zustand diese Flügel, bis sie ihnen gestutzt werden. Als Erwachsene haben wir diese Flügel nicht mehr, müssen es uns hart zurückerobern, wieder zum Kind werden zu dürfen. Der Trigraph und Zischlaut "Sch" in „Schulterblätter“ sowie das scharfe Z in „zwischen“ drücken vllt. nochmals Schärfe, Kraft, Zorn, Aggression aus. „Nun flieg‘ ich zu dir und zu mir mit Händen voller Worte“, will sagen, das lyr. Ich macht sich auf, mittels geistiger Arbeit sein Bewusstsein zu entwickeln (fliegen), zu Begreifen (Hände), Schritt für Schritt sich seinem Selbst (Individuation), (zu mir), anzunähern, ohne zwischenmenschliche Aspekte auszuklammern (zu dir). Ein schönes Gedicht, liebe Jutta. Klangfarbig und bildhaft. Sprachmusikalisch zudem. Gefällt mir sehr. Ein wenig lang geworden, mein Kommentar. Aber ich wollte ja noch mal doppelt zuschlagen, wie angekündigt. HG H. Kommentar geändert am 23.04.2019 um 01:27 Uhr"

05.04.19 - Kommentar zum Text  Aphorismen zum Gähnen von  EkkehartMittelberg: "Jede Kurzweil wird auf Dauer langweilig, aber nicht jede Langweile wird zwangsläufig kurzweilig. Man sollte die Langweil nicht unterschätzen. Aus Sicht der Philosophen, hier der Existenzialismus-Begründer Sartre und Camus, ist die Langeweile eine der zentralen Erfahrungen, ohne die der Mensch sein eigenes Sein nicht erkennen kann. BG H."

31.03.19 - Kommentar zum Text  Nur wenige können dir das Wasser reichen von  EkkehartMittelberg: "Immer lesenswert, dein Dichter-Bedichten. Deine Inspiration scheint unversieglich. BG H."

27.03.19 - Kommentar zum Text  Es wird still um einen Großen von  EkkehartMittelberg: "Allemal lesenswert und informativ zudem. Gekonnt in die Form eines Sonetts gebracht. BG H."

24.03.19 - Kommentar zum Text  Konsequenz von  EkkehartMittelberg: "Wer nicht ganz dicht ist, sollte jedes Gedicht so lange verdichten, bis lediglich ein Punkt übrig bleibt. Und der ist letztendlich auch überflüssig. ;-) BG H."

Diese Liste umfasst nur eigenständige Textkommentare von Habakuk. Threads, in denen sich Habakuk an der Diskussion zu Textkommentaren anderer Leser mit Antworten bzw. Beiträgen beteiligt hat, findest Du  hier.

 
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Habakuk hat übrigens nicht nur Kommentare zu Texten geschrieben, sondern auch  einen Autorenkommentar,  einen Gästebucheintrag und  3 Kommentare zu Teamkolumnen verfasst.

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