KLICKS UND CLIQUEN

Synthesen + Analysen in der Matrix


Eine Kolumne von  Bergmann

Dienstag, 01. Januar 2008, 22:22
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AM ARSCH DER WELT

Hier ist nicht die Rede von KV. Sondern vom Sommerloch.

„Das ist eine Tragödie!“, denke ich. Hel erzählt eine der entsetzlichen Geschichten aus dem Südlimburgischen. Dort schnappte er im Sommer die Fortsetzungsmärchen aus dem Alltag im Dreiländerloch auf, Variationen der Entfremdung, die im Abseits der Welt ganz von allein aus dem Nichts blühen, wenn sich die Selbstmörder ihre Erlebnisse mitteilen. Jetzt sind wir in der Bockwurstbude am Alex angekommen. Wir stehen in der Schlange, vor uns die Leute in grauen Zeiten, stumm, die Plastetüte in der Linken, in der Rechten den gelbbraunen Stummel. Mund schief. Aber vor uns eine junge Frau, ein kleines Gebirge ohne Text.

„Eine Tragödie!“, sage ich. Ihr schöner Körper schleudert die schwarzen Haare über die Schultern, wirft die Augen über spitzen Mund. Die Augen stoßen mit mir zusammen. Ich habe Hunger. Die Schlange zuckt und kriecht langsam auf die Kasse zu. Hel schweigt die ganze Zeit. Ich stocke. Die Gipfel gehen. „Weißt du“, sagt Hel, als wir die Bockwurst bezahlen, „die Legende vom guten Kapital ist nicht wirklich wahr. Ich will die wahre Geschichte erzählen. Sie ist heißer als alle diese langen Geschichten, die zu kurz für die Lüge sind. Ich erzähl dir die Geschichte von der Dullen Griet. Das ist ein echtes Luder und schmeißt ihr Angeschafftes der Hölle in den Rachen, damit der Tod sie nicht einschlürft.“

Wir setzen uns an den Tisch zu der schönen Frau. Ich habe immer noch ihre Augen, die will sie wiederhaben. Hel erzählt weiter. „...Aber der Tod war stärker und stach Dulle Griet mit der harten Peitsche so stark, dass die Frau sofort aufschäumte. Sie wehrte sich, zitterte vom Steiß bis zur Stirn, bis sie das doppelköpfige Teufelskind durch beide Löcher herauspresste.“ Das geht doch gar nicht, denke ich und schaue die Schöne mir gegenüber an. Sie lächelt. Ich gebe dir die Augen zurück. „Die Köpfe des Satans erblicken kaum das Licht der Welt, da schreien sie sich an und streiten um das Recht der Erstgeburt. Dulle Griet schlägt die Schreihälse in ihre Löcher zurück, aber sie kommen immer stärker wieder heraus, jetzt kommen auch die Hände mit und schnüren dem vorne den Hals ab, da beißt der zu und reißt dem Feind die Hand vom Arm, aber die wächst gleich wieder nach.“ Das Leben erzählt sich immer selber, denke ich, es sucht nur nach Worten. Hel spricht aus, was die Wahrheit uns sagen will. „Dulle Griet greift sich mit dem Arm ins Maul und zieht den Doppelsatan an den Füßen durch die eigene Gurgel heraus, beißt die Köpfe ab und spuckt sie aus.“

Wachsen die Körper nach?, frage ich mich. Können die Köpfe bald wieder laufen? Da schaut die Schöne zu mir herüber und lächelt: Gib mir meine Augen zurück, wenn die Geschichte vorbei ist. „Ja“, sagt Hel, „wenn die Köpfe wieder Beine haben, stehen sie auf, vergewaltigen die Mutter und vermehren sich. Dann schlägt einer den anderen tot. Das ist die Geschichte unserer Zeit.“

Im Sommer, in Berlin, besuche ich die Wahrheit. Ich gehe zu Hel Toussaint. Er wohnt hinter den Höfen eines alten Hauses in der Stargarder Straße. Er ist Strophiker und Katastrophensänger und sonst noch was. Ich treffe mich mit ihm im TORPEDOKÄFER oder bei Käthe auf dem Prenzlberg, in der Umweltbibliothek oder beim GEGNER. „Gut, dass du das mal aufschreibst, ehe der Stoff verloren geht“, sage ich dann.
„Ja“, sagt Hel, „das ist archaischer Surrealismus.“ „Das sind die Mythen unserer Zeit“, sage ich dann, „Männerphantasien! Die erzählt man sich an Euphrat und Tigris und am großen Arsch der Welt.“ Hel sieht mich an, seine Augen sagen: Das verstehe ich nicht. „Egal!“, sage ich dann, „erzähl einfach deine Geschichten!“ „Morgen“, sagt Hel, „morgen erzähl ich dir die Geschichte von heute, heute kann ich mich noch nicht an gestern erinnern.“

Ulrich Bergmann

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Kommentare zu diesem Kolumnenbeitrag


 Bergmann (19.08.06)
Das ist Prenzlberg, Schliemannstraße,, Umweltbibliothek - das lernte ich erst nach der Wende kennen. Aber immerhin. GEGNER, Bert Papenfuß: Linke Zeitschrift. Franz Jung. Ja. Aber auch ganz Heutiges.
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