KLICKS UND CLIQUEN

Synthesen + Analysen in der Matrix


Eine Kolumne von  Bergmann

Dienstag, 03. November 2009, 10:33
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DIAMANTENSCHAUM - jaccolo (Carmina). II. Lyrik (1)

Kleines Vorwort.

In den nächsten Kolumnen werde ich etwa 25 KV-Lyiker vorstellen, deren Gedichte thematisch oder sprachlich innovativ sind, Witz und Ideen zeigen, meisterlich gestaltet sind, interessante Metaphern enthalten oder einen besonderen Ton haben. Darunter sind auch einige Sonette und Gedichte in älterer Manier.

Natürlich kann meine Auswahl nicht beanspruchen, ein gültiger Reader der besten KV-Gedichte zu sein – ich habe ja längst nicht alle Gedichte lesen können. Trotzdem entsteht hier so etwas wie eine kommentierte Anthologie. Sie ist in lockere Kapitel gegliedert.

Ich beginne mit Lyrikern, die heiter, skurril, grotesk und originell formulieren: jaccolo, darkjoghurt, Muninn, Cantalurp, Reimbeutel, bratmiez, Owald… Mal stelle ich einen Lyriker vor, mal zwei oder gar drei auf einmal.

Jaccolo


sichtlich blind

in meim kopf
gibt’s a wanderkartn
mit an haufa weg drauf

i halt’s vasteckt
weil d’weg sichtlich
unwegsam sind

i renn liaba blind
übern tatsachnasphalt

weil i
a realist bin

Erst vor wenigen Tagen entdeckte ich jaccolo. Er ist 43 Jahre alt und schreibt ganz verschiedene Gedichte in je unterschiedlicher sprachlicher Manier. „Die Gedichte in Mundart sind grandios, sie erinnern mich an die logische Schärfe Erich Frieds, sind aber bildreicher.“, schrieb ich auf seine Seite. Ich halte die Mundartgedichte für seine besten, sie sind viel kraftvoller als seine anderen. Vielleicht denkt jaccolo vom Dialekt her punktgenauer und kommt im Bayerischen viel besser zur Prägnanz des Logischen, das den Leser frappiert, als in seinen anderen Gedichten. jaccolo liebt das literarische Paradoxon und die Antithese, die Dialektik, das zeigt schon der Titel des Gedichts „sichtlich blind“. Heimlich korrespondiert das vordergründig so lustig scheinende Gedicht mit der Position des Lyrikers, des Künstlers, der eine ganz anders kartierte Welt im Kopf hat und der vermeintlichen Realität der ersten Ordnung andere Realitäten gegenüberstellt.

Antithetisch gebaut ist auch das folgende Gedicht:


s fernsehkastl

so a fernsehkastl
is wia a wunder

oiwei
wenns d eischaltst
schaugd di s lebn o

oiwei
wenns d neischaugst
schaltst dei lebn aus


Das „wunder“ ironisiert die schreckliche Metamorphose des alltäglichen Eskapismus (in der letzten Strophe).

Dem „fernsehkastl“ folgt das „hirnkastl“, jetzt geht es tiefer in uns hinein: Das lyrische Ich fragt sich gespielt naiv, wie das Gehirn eines Singvogels funktioniert – anders gesagt: Selbstreflexion scheitert wie die Frage nach dem Sinn unseres gesamten Seins. Bewusstsein ist nur eine Chimäre. Wir sind nur höhere Tiere, nichts weiter.


s hirnkastl

manchmoi kommt mir
mei hirnkastl
wia a ramschladl vor

i wühl
wia varruckt drin rum
und suach nach am ton

nix kommt

i frag mi
wia die amsl des macht
die draußn singt


Poetischer – im Sinne sinnlich verbildlichter Gedanken – sind die beiden folgenden Gedichte:


winta hamma ?

d wiesn
schaugd a weng oid aus
in da fruah

da see
hod nix zum beißn
er derf nur ab und zua
an himmi schlucka

s radl wundert se a
es draht
sicher durch

wenn s so weida geht
kann se da winta
wenna no reischneid
nimma an sich selba erinnern

Dieses ‚Wintergedicht’ lässt sich am besten ins Hochdeutsche setzen und verlöre dann kaum seine Kraft. Die sanfte Ironie, wie die unvollendete Natur mit sich selbst redet – obwohl wir doch aus den anderen Gedichten wissen, dass Selbstreflexion zum Scheitern verurteilt ist – steigt vom Grund des unverfrorenen Sees bis hinauf zum Himmel, der kleine See schluckt den großen Himmel, das Diesseits vereinnahmt das Jenseits, wir projizieren unsere geistige Nahrung… und so wird das Sollipsistische oder einfach nur das Subjektive unserer Existenz in grotesker Weise deutlich. Und zum Schluss wird der potentielle Alzheimer der Jahreszeit, die gar nicht recht geboren wurde, zum Bild der Unfähigkeit aller Selbsterkenntnis. Das ist einfach wunderbar gemacht.

Noch perspektivistischer ist das Gedicht, das ich hier zum Schluss zeige:


regnbognforelln

de oan sagn
des
de andern sagn
des andere

de oan ham recht
de andern s große wort

s geht
durch mi durch
wia vo oam ufer
zum andern

manchmoi bleibt wos hänga

de forelln wissn s


Offenbar hängt das lyrische Ich mitten in der Luft, es schwebt über dem Fluss und ist lieber Teil der unbewussten Natur, mit der es sich versteht, als Teilnehmer des geistigen Diskurses unserer Zeit. Er versteht davon nur wenig, sagt er, hier rein da raus, aber das ist nur ein Spiel – das lyrische Ich ist nicht so naiv, wie es tut! Die Forellen als Zeugen der Skepsis zu benennen, ist eine heftige Verurteilung der Möglichkeiten und Ergebnisse menschlichen Denkens.

So gesehen sind jaccolos Mundartgedichte Gedankengedichte – die Hauptthemen sind Erkenntnis, Selbsterkenntnis, insgesamt: Skepsis gegenüber der Kultur und daher Sehnsucht nach einer einfacheren Harmonie, für die die Natur als Bild (weniger sie selbst im eigentlichen Sinn) steht.

Ulrich Bergmann, 18.1.2007

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Kommentare zu diesem Kolumnenbeitrag


 Theseusel (19.01.07)
Jetzt weiß ich ja nicht, ob Deine Kolumne später als kommentierte kV-Anthologie erscheint Uli. zu wünschen wäre es, unabhängig von den Autoren die Du besprichst!

Weil ich nicht weiß, ob das so ist, werde ich Malik bitten die einzelnen Folgen als pdf-Datei zum Download anzubieten, denn unabhängig von den höheren Kosten des Ausdruckes sollte hier eine Sammlung von bleibendem Wert entstehen ohne ISBN und in A4 aber dafür lesenswert. Ich hoffe Deine Kolumne wird gut frequentiert und ermuntert den Leser auch die Kolumnen der Mitautoren zu besuchen.

Bei den Dialektgedichten von Jacco denke ich an Karl Valentin ... eigentlich bedarf Deine Besprechung keines Kommentars mehr! Gerd

 Bergmann (19.01.07)
Meine Kolumne wird meist rund 200 mal gelesen.
Die Kolumnen sind ja gespeichert rechts am Rand der Kolumne. Ich selber hebe die Texte aber auch auf. Und wenn ich Lust habe, mache ich in einem Jahr ein Best of davon und versuche eine reine Lyrik- und Miniprosa-Anthologie (ohne Kommentare) herauszubringen - als Heft oder Büchlein. Das mache ich aber dann ganz allein. Meine Kommentare - die waren dann eben nur für KV virtuell.

 apple (28.01.07)
jaccolo war bislang völlig an mir vorbei gegangen - da hab ich was verpasst. - dafür vielen dank, erstmal! die kommentierungen sind darüber hinaus sehr treffend. spitze!

 Bergmann (16.04.07)
Nachtrag vom 16.4.2007:
Noch nie war mir das Bayerische derart sympathisch wie in deinen Gedichten. Da ist es eine starke Sprache und sensibel zugleich. Auch bei Karl Valentin ist mir das Bayerische nicht so nah gekommen. Und sogar die besten bayerischen Kabarettisten von heute schaffen nicht diese Dichte und die wunderbare Aufhebung des Derben, das jedem Dialekt innewohnt, wie deine besten Mundartgedichte. Sie entwickeln eine unglaubliche Zartheit und Leichtigkeit, ohne an Tiefe zu verlieren. Dem Dialekt verdankt sich die Kraft und die Bildprägnanz nicht allein, es liegt vielleicht tatsächlich auch daran, dass du im Bayerischen von innen heraus das Wesentliche so leicht sagen kannst, dass es zugleich auf engstem Raum Tiefe gewinnt.

 apple (29.02.08)
Jaccolo ist nicht mehr da?

 Bergmann (01.03.08)
Jaccolo = Carmina
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