KLICKS UND CLIQUEN

Synthesen + Analysen in der Matrix


Eine Kolumne von  Bergmann

Dienstag, 01. Januar 2008, 23:10
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IM ANTLITZ DER NACHT

KARL SEEMANN 1928 - 2001

Vom Leben des Lyrikers Karl Seemann weiß ich nicht viel. In den letzten Jahren schrieben wir uns Briefe und gaben uns unsere literarischen Arbeiten zu lesen, er seine Gedichte, ich meine Erzählungen. Aber er schrieb nicht viel von sich, er deutete nur an. Seine Briefe an mich waren, vor allem zuletzt, oft kleine Zettel mit einer etwas eckigen Schrift, fast immer fehlte das Datum. Er schrieb mir nie viel, aber klar und sehr prägnant.
Die meisten Gedichtbände schickte er mir im Lauf der Jahre, zuletzt das Exemplar der Eremiten-Presse Im Antlitz der Nacht. Dieser Band von 1955 gehört zum Schönsten, was ich in der Lyrik kenne. Alle Themen, alle Motive, die schwere Landschaft, viele Bilder der späteren Gedichte sind hier schon da.
Die Literaturzeitschrift DICHTUNGSRING hat Gedichte von Karl Seemann fünf Mal seit Ende der 80er Jahre veröffentlicht; in der Ausgabe Nr. 31 mit dem Thema Fremdland, die im Sommer 2002 erscheint, wird ein Gedicht, das er mir für diese Nummer einreichte (ortung 2), veröffentlicht.
Ich hatte ihn mehrmals um Dokumente über sein Leben gebeten, um ein Porträt zu verfassen. Im frühen Sommer 2001 sagte er zu, fand aber nicht die Kraft oder die Zeit, das Material zusammenzustellen.
Über seine Gedichte äußerte er sich kaum, es war schon viel, als er in einem Brief (September 1999) an mich schrieb: „Vielleicht ist MIT SCHWARZER KREIDE ein Schlüsselbuch.“

Der Tod seiner Frau machte ihm zuletzt das eigene Leben immer schwerer. In einem Zettelbrief, den ich am 21.12.1999 erhielt, schrieb er:

Lieber Ulrich Bergmann, mit meiner Biographie bleibt es unergiebig. Nachdem Weihnachten vor einem Jahr meine liebe Frau, Gabriele Seemann, Mentorin und schützende Hand, qualvoll an einem Gehirntumor zugrunde ging, schleppt sich mein Leben so dahin. Es bleibt nicht mehr viel, außer Schmerzen. Was soll der Vers? ...

Schon im September 1997 schrieb er: „Ach, man wird müder und resignativer. Bei mir ist das schon seit vielen Jahren so. Lyrik aus dem Bereich der Müdigkeit. [...] Setzen wir in der Literatur den einen oder anderen geduldigen Schritt - so es uns noch vergönnt sein sollte.“
Er schrieb weiter Gedichte, nicht viele, und er schickte immer wieder seine Gedichte, manchmal so zugeschnitten, dass sie in einen kleinen Umschlag passten, an viele Literaturzeitschriften, die sie druckten.

Hier ist das Wenige, das ich sicher weiß: Karl Seemann wurde am 19. August 1928 in Rheine, Westfalen, geboren. Nach dem Besuch des Gymnasiums arbeitete er in verschiedenen Berufen, unter anderen in der Sozialversicherung. Zuletzt war er Effektenberater im Bankfach.
Gedichte verfasste er seit 1945. Er wurde Mitarbeiter der Eremiten-Presse von V.O. Stomps. Dort erschien 1955 sein erster Gedichtband IM ANTLITZ DER NACHT. In dieser Zeit lernte er Ingeborg Bachmann kennen und kam mit Karl Riha und Eugen Gomringer zusammen: „Mit beiden durfte ich ... in langen Gesprächen die Möglichkeiten der modernen Poesie erörtern.“
Karl Seemann lebte in Bad Bentheim, wo er am 15. August 2001 starb.

Seemanns Lyrik hat dunkle Töne. Herbst und Winter sind die Lebenszeiten zum Tode hin. Stille, Schroffheit und Einsamkeit der nördlichen Landschaft - das ist auch König Lears kahle Heide, über die der Lebenssturm hinwegpeitscht. Die Welt ist oft dunkel in den Gedichten, der Tagmond regiert, nicht die Sonne. Vergangenheit und Erinnern sind starke Kräfte, aber machtlos gegen das Ende - die Zeit geht über uns hinweg. Seemanns Gedichte sind Todesgedichte und zugleich voller Sehnsucht nach Leben in der Zeit, die wir vor dem Tod haben. In den Gedichten gibt es keine Verheißung, kaum eine Ahnung von Jenseitsland, sie halten nichts als das Jetzt, den bewusstgewordenen Augenblick - Kargheit und Schönheit des klaren Gedankens oder des elementaren Gefühls. Einige Gedichte sind kritische Klagen über das ökologische Versagen der Menschheit und die Gefahr ihrer atomaren Selbstvernichtung.


Heute

Vom Staubgewölk aus gesehen
das rote Rad der Sonne
den langen, wehenden Tag über.

Was sollen all die Menetekel:
eine blutige Hand, abgeschlagen,
ein abgestorbener Baum, im Fluß treibend?

Völker, taub, ohne Lernfähigkeit
im eigenen Wohlstand gefangen,
andere schon in Agonie
auf einem ausgeplünderten Planeten.

(MIT SCHWARZER KREIDE, S. 3)


Viele Gedichte sind kleine Elegien, in denen Klarheit und Reinheit der Natur, aber auch die kleinen Glücksmomente im Leben melancholisch festgehalten werden, kleine Gesänge manchmal, fast Lieder.


Bald kommt die Nacht,
und die Nacht
ist ein tänzelndes Pferd,
und die Nacht
ist ein Stein.

Dann pflück ich den Mond,
den silbernen Mond,
eine Münze,
ausgegraben
aus singendem Schwarz.

(TAGMOND, S. 45)


Das sind Bilder der täglichen Nacht und der einen Nacht, aus der wir kamen und in die wir wieder gehen werden. Das lyrische Ich weiß nicht, was kommen wird, es weiß nur: „Nach diesem langen Winter | wird alles anders sein.“
Der Sprache traut Karl Seemann nicht zu, die Welt und ihren möglichen Sinn zu erfassen, die Worte spiegeln im besten Fall nur, wie die Welt, wie das Leben erscheint. Seemann redet von „Der Sprache Sinn | und Widersinn“, er sieht ihr Unvermögen als Tautologie und Kontradiktion, ja sogar als „Last“. Das Leben wird „...mit schwarzer Kreide eingeschrieben | in Wasser, Stunden, Nacht und Luft.“ (MIT SCHWARZER KREIDE, S. 21 und 26) Diese Schrift macht nichts sichtbar, was nicht ohne sie gesehen werden kann - aber das Schreiben ist die Denkbewegung, die Karl Seemann für sinnvoll hält. Dichtung ist die kleine Spiegelung der Welt im Bild des armen Worts, in uns ein kleines Bewusstsein, mehr nicht. Aber dieses Wenige ist alles, was wir haben: Das kleine Glücksgefühl in der Übereinstimmung mit der Natur, das Erkennen, dass wir selbst Natur sind, dass durch uns die Natur zu sich selbst spricht, ohne ihr Alleinsein aufheben zu können. Der Dichter schreibt seine Einsamkeit auf, das Gedicht ist der Versuch den Monolog zu überwinden, indem ein Dialog mit dem Leser entsteht - aber dieser Dialog ist nur ein doppelter Monolog. Das ist der Grund für die Melancholie der elegischen Verse und zugleich die nie aufgegebene Hoffnung, die in den Gedichten und im Leser gespiegelte Einsamkeit ertragen zu können, wenn sie zum Kunstwerk erhoben wird, wo sich das Bewusstsein ins Wort spiegelt. Das Wort ist ein Bild ist ein Wort ist ein Bild ist ein Wort ...


Verwandlung

Über der Ebene
verbrennt das Wort,
noch nicht Ebene, Wolkenland,
nicht mehr Wort.

Tage, Nächte, sich auflösend
an der Peripherie
des Sprachlosen.

(MIT SCHWARZER KREIDE, S. 40)


Sind Gedichte denn nur der Ausdruck der Sprachlosigkeit? Die gewonnene Form des gesprochenen Nichts? Ist alles gesagt, wenn nichts gesagt wird - wird mehr gesagt, wenn alles gesagt wird? Ist also das Gedicht nur die Form der Verzweiflung daran, dass wir nichts wissen können?
Ich denke, Karl Seemann hat mit den dunkleren Worten immer auch auf die helle Welt gezeigt, er hat die helleren Worte für die Dunkelheit gebraucht, aber die Worte sind immer nur Bilder. Manche seiner Gedichte sind ganz bestimmt geprägt von der Trauer der Erkenntnis unseres befristeten Lebens, sie sind auch Fragen und sie sind Suche, Klage und zu Versen geronnene Verzweiflung - im Wesentlichen aber sind die Gedichte Ausdruck der gewollten und zuweilen erlebten Harmonie mit dem Leben, ein sich Hineinfallenlassen in die sinnlos erscheinende Welt, so eine Art inhaltlos gewordenes Heureka, das sich im sinnlichen Erfassen der lyrischen Form ergibt, uns aber wieder entgleitet, kaum dass wir das kleine Erkenntnisgefühl hatten. Die Wahrheit haben wir nicht, aber wir können ihre Form erschaffen, das ist der Aspekt ihrer Schönheit, die das Wort sinnlich erfahrbar macht: Das ist zum Beispiel die Landschaft aus Erde, Strauch, Baum, Wasser und Wind - ihre Farbe, ihre Töne, ihre Körperlichkeit und die dadurch erzeugten Gefühle und Stimmungen in uns - und sie ist das Bild, das die Landschaft von der Welt und dem Leben darstellt und in uns erweckt. Die Form dieser Bilder dieser Worte dieser Bilder dieser Worte dieser...


Gedichte

Wenn aus dem Licht,
dem Wasser
die Rundung der Dinge,
wenn das Spiel
der Tage alt wird,
zu Formen gerinnt,
wenn das Endgültige
ohne weitere Erfahrung
die Landschaft einnimmt,
ein Verschmelzen
von Anfang und Ende.

(MIT SCHWARZER KREIDE, S. 47)




Werke Karl Seemanns:
IM ANTLITZ DER NACHT (Eremiten-Presse 1955, Stierstadt im Taunus, Schloss Sanssouris); IMPRESSION EINES SOMMERS (1957); STUFEN UND ANKER (1963); GRENZBEREICH (Bläschke, St. Michael, Österreich 1985); ORTUNG (1987); MIT SCHWARZER KREIDE (Einhorn, Schwäbisch Gmünd 1990); SCHATTEN UND WORT (Calatra Press Willem Enzinck, Lahnstein, o.J.); TRAUMZÄSUREN (Edition Dachziegel, Dudenser Presse, Neustadt/Dudensen 1995); TAGMOND. LYRIK EINES LEBENS (Geest, Ahlhorn 2000).
Weitere Gedicht-Veröffentlichungen in Zeitungen, Zeitschriften, Anthologien, Jahrbüchern und im Rundfunk.


Ulrich Bergmann

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Kommentare zu diesem Kolumnenbeitrag


 bratmiez (27.04.07)
danke, uli! DANKE!

 Vaga (27.04.07)
Eine äußerst beeindruckende Hommage! LG - Vaga.
Elias† (63)
(27.04.07)
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 AlmaMarieSchneider (29.04.07)
Ein sehr gelungener Artikel über Karl Seemann. Sehr gerne gelesen.
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