KLICKS UND CLIQUEN

Synthesen + Analysen in der Matrix


Eine Kolumne von  Bergmann

Mittwoch, 25. August 2010, 11:22
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UNGESICHERTES WISSEN (von loslosch)

210. Kolumne
[Gast-Kolumne von Loslosch]

Essay zum Thema Philosophie

Fast jeder hat schon vom geflügelten Wort des Platon (~428 v. Chr. bis ~348 v. Chr.) gehört: Ich weiß, dass ich nichts weiß. (Im Original: οἶδα οὐκ εἰδώς.) Diese Worte hat er in der "Apologie" seinem großen Lehrmeister Sokrates (469 v. Chr. bis 399 v. Chr.) zugeschrieben. Dass bei der Übertragung ins Deutsche etwas verbaselt wurde, dürfte nicht völlig nebensächlich sein. Die Römer kannten damals bereits diesen Ausspruch und übersetzten korrekt in "scio me nescire", also etwa: Ich weiß, [etwas] nicht zu wissen. Entsprechend lautet die korrekte Übertragung ins Deutsche: Ich weiß, dass ich nicht weiß. Oder: Ich weiß, dass ich ein Nichtwissender bin.

Der Ausspruch entspringt einer fiktiven Dialogsituation. Sokrates soll - in den Worten Platons - , sich vergleichend mit einem Dritten, der überzeugt war, über einen Sachverhalt etwas Sicheres zu wissen, in etwa gesagt haben, er selbst fühle sich im Vorteil, nämlich dass er das, was er nicht wisse, auch nicht vorgeben könne zu wissen. Ich weiß, dass ich etwas Konkretes nicht weiß ("nicht" anstelle von "nichts", oder altgriechisch "οὐκ" anstelle von "οὐδὲν"). Ein für heutige Verhältnisse eher harmloses intellektuelles Geplänkel damaliger Zeit. Der winzig erscheinende Übersetzungsfehler war möglicherweise ein im 19. Jahrhundert zeitgeschichtlich sogar erwünschter. "Ich weiß, dass ich nichts weiß" soll wohl vor allem auch signalisieren, dass wir hienieden zur Gänze erbärmliche Zwerge und Nichtwissende sind. Spekulativ betrachtet, eine Wegbereitung für den Skeptizismus (18./19. Jh.), aber auch für ein religiöses Fundament, eine Grundlegung für die Einsicht in die Notwendigkeit des Glaubens.

Mögen die Alten im Allgemeinen an Götter und Gottheiten geglaubt haben, so dürfte Sokrates die Lehren des hundert Jahre älteren - nach heutiger Einschätzung genialischen - Xenophanes (~570 v. Chr. bis ~475 v. Chr.) sehr genau studiert haben. Der agnostisch orientierte Xenophanes witzelte über den Götterhimmel mit seinen göttlich-köstlichen, verschrobenen, allzu menschlichen Verwandtschaftsbeziehungen und allein von menschlichem Gehirn gesteuerten und gepflegten Feindschaften. Sokrates war somit eher kein naiv Gläubiger im Blick auf den antiken Götterhimmel.

Der minimale Übersetzungsfehler bewirkt eine versteckte, bewusste oder unbewusste Einladung an Suchende, Ratlose, Glaubenswillige. Wer sich nicht dazuzählen, dort einreihen mag, der orientiere sich an Altmeister Johann Wolfgang von Goethe und lese wieder einmal sein wunderbares, faszinierendes Kurzgedicht. Der Dichterfürst fühlte sich als "bekennender" Freimaurer keiner Religion verpflichtet, sondern "nur" den humanistischen Idealen von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und Toleranz. Seine agnostische Grundhaltung konnte und musste er etwas einnebeln. Und so gelang ihm dieser schöne, aussagekräftige Vierzeiler (aus dem Alterswerk, posthum, anno 1836, veröffentlicht):


Wer Wissenschaft und Kunst besitzt,
Hat auch Religion;
Wer jene beiden nicht besitzt,
Der habe Religion.


Alles gesagt? Alles! Da die Interpreten - einschließlich Trunz (1905-2001) - es bisher nicht so zugespitzt gelesen haben, eine kurze Erläuterung: Eleganter Konjunktiv in Vers 4 (habe!, soll in Gottes Namen haben!). Sind Kunst (Musik, schreibende wie malende Kunst) und Wissenschaft nicht Ausdruck eines Dranges nach mehr? Wenn einer keine wissenschaftlichen oder künstlerischen Ambitionen bzw. Interessen hat (hierzu zählt wohl auch das Schachspiel und manch anderes, hier nicht explizit Aufgeführtes, wohl kaum das Skatspiel), so "habe" er Religion. In Gottes Namen.


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Kommentare zu diesem Kolumnenbeitrag


 loslosch (13.08.10)
Holla! Kollektive Freudsche Versprecher, ein sprachliches Konstrukt, das ich mir gern zu Eigen mache. Lothar

 loslosch (13.08.10)
Dein Hinweis auf den gesunden Geist in einem gesunden Körper, ist der ganz koscher?

Anima sana in corpore sano (zitiert nach Juvenal, Saturae). Das vollständige Zitat lautet: Orandum est, ut sit anima [mens] sana in corpore sano. Man muss (zu den Göttern) beten, dass ein gesunder Geist in einem gesunden Körper sei. Die Verfremdung reduziert sich auf das unterschlagene Gebet. Lo

PS: ASIC ist ein Akronym!

 Elén (13.08.10)
Oje. Ich bin bei dem Text heillos überfordert. Ich krieg Migräne und muss mir bereits beim zweiten Absatz ne Tasse Kamillentee holen. Nicht weil der Text uninteressant wäre, als mehr, weil er soviele Fragen aufwirft.

Schon die Überschrift: Zit.:

"Ungesichertes Wissen"

blockiert mir jegliche Möglichkeit weiterzudenken. Was ist ungesichertes Wissen, wenn der Begriff des Wissens den Anspruch aufs Absolute geltend macht. Also Wissen oder Nicht-Wissen. Und das gleiche ist es mit dem Begriff "Sicher". Sicher oder Nicht-Sicher. Was ungesichert ist, scheint frei schwebend zu sein um in seiner Absolutheit dann doch irgendwo zu sein, allerdings nicht dort wo Bewusstsein seinen Ort hat. Allerdings ist der Begriff der Bewusstheit eng an das Menschliche gebunden und spätestens an der Stelle kapituliere ich.

So allgemein zum Thema Glauben: Ach ja, der Mensch und die Götzen. Allerdings, wenn Gott nicht so mürrisch gewesen wär und die Eva ein bisschen vom Baum des Lebens hätte naschen lassen, dann müsste sich der Mensch nicht dauernd so komische Kunstwerke bauen, um sich vorstellen zu können, wie das wohl ist mit dem Unbekannten.

Zu Goethe:

Das ist die Frage. Meint er das ironisch oder nicht. Erich Fromm hat mal in seiner Haben- und Sein-Philosophie ein bisschen drüber nachgedacht und in erwägung gezogen, dass Goethe ein schlauer Fux war.

Ich mag das hier:

Jesaia Kap. 44,12 – 19

Der Schmied facht die Kohlenglut an, / er formt (das Götterbild) mit seinem
Hammer / und bearbeitet es mit seinem kräftigem Arm. Dabei wird mer hungrig und er hat keine Kraft mehr. / Trinkt er kein Wasser, so wird er ermatten.

Der Schnitzer misst das Holz mit der Messschnur, / er entwirft das Bild mit dem
Stift / und schnitzt es mit seinem Messer; er umreißt es mit seinem Zirkel / und
formt die Gestalt eines Mannes, das prächtige Bild eines Menschen; / in einem Haus
soll es wohnen.

Man fällt eine Zeder, wählt eine Eiche / oder sonst einem mächtigen Baum, den man
stärker werden ließ / als die übrigen Bäume im Wald. Oder man pflanzt einen
Lorbeerbaum, / den der Regen groß werden läßt.

Das Holz nehmen die Menschen zum Heizen; / man macht ein Feuer und wärmt sich
daran. Auch schürt man das Feuer und bäckt damit Brot. / Oder man schnitzt daraus
einen Gott / und wirft scih nieder vor ihm; man macht ein Götterbild / und fällt vor
ihm auf die Knie.

Den einen Teil des Holzes wirft man ins Feuer / und röstet Fleisch in der Glut / und
sättigt sich an dem Braten. Oder man wärmt sich am Feuer und sagt: / Oh, wie ist
mir warm! Ich spüre die Glut!

Aus dem Rest des Holzes aber macht man sich einen Gott, / ein Götterbild, vor das
man sich hinkniet, zu dem man betet uns sagt: / Rette mich, di bist doch mein
Gott!

Unwissend sind sie und ohne Verstand; / denn ihre Augen sind verklebt, sie sehen
nichts mehr / und ihr Herz wird nicht klug.

Sie überlegen nichts, / sie haben keine Erkenntnis und Einsicht, / sodass sie sich
sagen würden: Den einen Teil habe ich ins Feuer geworfen, / habe Brot in der Glut
gebacken / und Fleisch gebraten und es gegessen. Aus dem Rest des Holzes aber
habe ich mir / einen abscheulichen Götzen gemacht / und nun knie ich nieder vor
einem Holzklotz.

Lg :)

 loslosch (13.08.10)
Der altestamentarische Text scheint äußerlich nicht so weit weg vom agnostischen Standpunkt. Das Judentum wollte schon früh und vermutlich als erste Religion auf den unsichtbaren EINEN Gott hinaus. Ich hab das mal knapp skizziert vor wenigen Tagen:  Lies

Zu Goethe: Der hatte einen Hang zur Ironie und achtete darauf, es sich nicht mit seinen (gläubigen) Lesern zu verderben. Wenn Du das Kurzgedicht googlest, kommen allerlei andere Goethesche Frotzeleien zum Vorschein. Wie er mit Schiller, dem polemischen, jedoch nicht ironischen, nach verzögertem Start klar kam, ist mir ein Rätsel, das auch Rüdiger Safranski (mir) nicht aufdröseln konnte. Die Dichterfürsten haben sich bis zuletzt gesiezt. Es heißt zwar, das sei damals nicht unüblich gewesen, aber Friedrich Zelter und Goethe duzten sich doch auch. Das Angebot des Meisters, als der Komponist sich in einer Lebenskrise befand! Ein anderes Thema.

Beim Lesen des Rekomm einen Tee aufgeschüttelt? Lothar

 loslosch (13.08.10)
Nachtrag: ... aufgeschüttet ... :) Lo
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