KLICKS UND CLIQUEN
Synthesen + Analysen in der Matrix
Eine Kolumne von Bergmann
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Nachts toben die Worte sich aus mit den Eulen. wepunkt/mmazzurro. Lyrik (38)
297. Kolumne
Werner Weimar-Mazur (wepunkt, ehemals mmazzurro) geboren 1955 in Weimar, aufgewachsen in Karlsruhe, dort Kindergarten, Schulzeit und Studium der Geologie
1979 und 1980 mehrmonatige Studienaufenthalte in Großkirchheim/Österreich.
1989-1992 Arbeitsaufenthalt in Bern/Schweiz. Lebt seit 1992 im Raum Freiburg im Breisgau
schreibt seit 1970 vorwiegend Gedichte und Kurzprosa.
Derzeit Arbeit an einem Roman. Veröffentlichungen (Printmedien):
1995 Lyrikband „Tauch ein - Gedichte 1970-1994;
2012 Lyrikband „hautsterben“;
zahlreiche Gedichte in Zeitschriften und Anthologien;
öffentliche Lesungen von Gedichten und Kurzprosa.
Mitglied im Literaturforum Südwest e.V., Freiburg (Literaturbüro Freiburg)
und bei keinVerlag e.V., Erlangen.
Werner Weimar-Mazurs Gedichte sind wie leicht hingetuscht, gewinnen aber stets Tiefe. Sie sind Wort- und Satzgesang, sie klingen. Nie entgleiten sie ins Sentimentale, aber sie haben Gefühl und Herz. Die tektonische Metaphorik (Gebirge - Meer), die in so manchem Gedicht aufscheint, gefällt mir sehr; sie ist zwar nicht neu, aber neu angestrichen, neu gewandet. In Sommerkleidern kommen die Verse daher, transparent, sinnlich - und das gilt auch für die Seele, die gläsern erscheint. Die meisten Gedichte sind Liebesgedichte oder sind angesiedelt in der Sphäre des Liebens und des Sagens. Manche Gedichte reflektieren das Reden über die Liebe und in der Liebe und poetologisch auch das Reden in Versen. Das sprachliche und metaphorische Niveau schätze ich sehr hoch ein. Es ist eine Lyrik, die mit den Sternen am Lyrikhimmel der letzten Jahrzehnte leuchtet.
Die Gedichte des neuen Zyklus „hautsterben“, den ich ich vor Erscheinen des Buchs lesen durfte, gehören – wie alle Gedichte, die Werner bei keinverlag zeigt und zeigte, zum Besten und Geschlossensten, das es in den Online-Magazinen und Literaturseiten gibt. Die Gedichte, die Christoph Meckel, dem sie nah sind, nicht ohne Grund lobte, sind sprachlich sehr schön, oft überzeitlich wirkend, sie haben gedanklichen Witz, Leichtigkeit und Tiefe, sie besitzen trotz aller Konventionaliät im sprachlichen Ausdruck neuartige Wendungen und Bilder, überraschende Ideen, insgesamt einen ganz eigenen Ton, der ins Herz dringt und mit sanftem Humor und Leichtigkeit in die Tiefe der Leserseele wirkt. Aus der Vielzahl der Gedichte stelle ich drei vor, die mir besonders gefielen:
Im April haben die Worte
ausgang
in den regen den schnee und die sonne
auf die noch verlassenen almen
himmelweit
im april sind die worte
ganz melancholisch
in den städten verirren sie sich leicht
heimwehnah
kommen sie mir dann vor
warten an einer kreuzung oder vor einer roten ampel
auf das erste zarte grün
auf die buschwindröschen und das wiesenschaumkraut
den löwenzahn
bekommen kraft oder werden wütend
nachts kehren die worte
an meine tür zurück
oder ich beobachte sie draußen im garten
wie sie sich austoben
mit den eulen
Die Worte gehören nicht nur zu uns, sie wollen weg von uns, streben hinauf, bergan, in dünnere Luft, ins rein Geistige, zum Himmel, sie haben ein Eigenleben – und die Gedanken entwickeln sich in der Sprache wie von allein. Natürlich denken wir, die Worte gehören zu uns, abends kommen sie wieder heim zu uns, leben dann in der Tiefe unserer Träume weiter, bauen dort Welten, die in uns reifen und zu Tage gefördert werden. „Glaubt mir, des Menschen wahrster Wahn / wird ihm im Traume aufgetan: / all Dichtkunst und Poeterei / ist nichts als Wahrtraumdeuterei ...“ (Richard Wagner, Die Meistersinger von Nürnberg)
Die Worte streben zu Neuem in der zivilisierten Welt (Ampel) wie in der Natur – und bleiben doch immer auch Spiegelbild derer, die sich als ihre Schöpfer glauben. Die Eulen, die nachts alles sehen, komplementieren den Raum des Unsichtbaren, die Tagträume und das im Dunkeln Verborgene – und letztlich bleiben sie da und wohnen nicht in unseren aufgeräumten und geheizten Häusern. Sie sind frei und toben sich und alles Sagbare = Denkbare aus.
unaufgeregt
ein berg passt in ein herz
ein tal ein dorf
ein schneefeld in der ferne
ein bach ein fluss
ein bach der uber felsen stürzt
ein haus
der stall steine auf dem weg
im sommer verwilderte schafe
ein neuer belag für die umgehungsstraße
flüsterasphalt
ein berg passt in ein herz
ein tal ein dorf
ein schneefeld in der ferne
ein bach ein fluss
ein bach der über felsen stürzt
dein haus
[aus „hautsterben“ / stranden, 2012]
Das dreiteilige Gedicht sagt, was ein Ich begreifen kann – alles passt in unser Herz und wir sind eins damit in unserem Haus, das für uns steht, eins mit uns selbst. Im Mittelteil tastet sich das Denken des lyrischen Ichs wieder ins Außen, in die geheimnisvolle, romantisch gesehene Dingwelt (Flüsterasphalt), und nun transzendiert dieses Ich, es geht aus sich heraus und findet noch ein anderes Haus, eine andere Heimat – im Du. Es ist dies in seinen kargen feinen Gedanken-Strichen ein wunderbares Liebesgedicht: Auch du passt in mein Herz. Ich verstehe dich, die Welt gehört mir und dir.
Manchmal sind Gedichte
wie welke blätter
die in nasses gras fallen
manchmal wie schnee
der auf den bergen taut
eine flut im fluss
auf dem wege zum meer
gedichte können sterben
weinen
auch lachen
manchmal haben sie die kraft
einer frau
oder das gewicht
eines schmetterlings
gedichte fragen nicht
ob sie geliebt werden
manchmal sind gedichte
eifersüchtig
auf das leben
manchmal nicht.
[aus „hautsterben“ / stranden, 2012]
Dieses Gedicht führt zum ersten zurück und redet wieder von der Sprache und ihrem Eigenleben, das sie außer uns führt. Und uns doch so ähnlich ist. Unsere Gedichte können sterben, heißt es. Hölderlin glaubte oder hoffte, in seinen Versen zu überleben. Eines Tages sterben auch die berühmtesten Gedichte. Ob das hier gemeint ist? Ich weiß es nicht. Vielleicht leben Gedichte nur in ihrem alten Leben weiter – erst in unserer Deutung lebt es wieder. Gedichte sind unabhängig und brauchen keine Liebe. Sprache ist autonom. Eifersüchtig können sie sein, wenn sie Menschensprache sind. Aber wenn Gedichte die Wahrheit sagen, dann sind sie nicht eifersüchtig, denn sie stehen über uns, freieste Richter des Über-Lebens.
Ulrich Bergmann
Kommentare zu diesem Kolumnenbeitrag
"Die Gedichte, die Reiner Kunze, dem sie nah sind, nicht ohne Grund lobte, sind sprachlich sehr schön, oft überzeitlich wirkend, sie haben gedanklichen Witz, Leichtigkeit und Tiefe, sie besitzen trotz aller Konventionaliät im sprachlichen Ausdruck neuartige Wendungen und Bilder, überraschende Ideen, insgesamt einen ganz eigenen Ton, der ins Herz dringt und mit sanftem Humor und Leichtigkeit in die Tiefe der Leserseele wirkt.":
Ich habe, heute morgen, die Einleitung, die eigentlich recht flüssig ist, gerne gelesen, weil informativ, als alter Lyrikverächter jedoch, die Gedichte, die "leicht hingetuscht" sind, nicht, ich kann mich übrigens, an Folge "37" nicht erinnern, ob es eine gab, weiss ich nicht, und frage mich, ob es auch Prosa-Folgen gibt, für meine Leserseele.
Es war Christoph Meckel, der meine Gedichte las, nicht Reiner Kunze!
w.
nachts kehren stimmen
an meine tür zurück
oder ich beobachte sie draußen im garten
wie sie sich austoben
mit den eulen
im april haben die stimmen ausgang
in den regen den schnee und die sonne
auf die noch verlassenen almen
im april sind die stimmen melancholisch
verirren sich in die städte
warten an einer kreuzung vor einer roten ampel
auf das erste zarte grün
auf die buschwindröschen und das wiesenschaumkraut
den löwenzahn
bekommen kraft oder werden wütend
.