KLICKS UND CLIQUEN
Synthesen + Analysen in der Matrix
Eine Kolumne von Bergmann
(bisher 2.207x aufgerufen)
sine tempore. Hommage an P.B.
315. Kolumne
Ein Besuch bei einer wirklichen Person
Cora sagte: „Es wird kühler.“ Die Sonne verschwand hinter den Häusern und die Bischöfe über uns wurden schattiger, dunkler, fast schwarz, wir spürten das fallende Wasser im Rücken. „Ich will dir schnell noch eine Geschichte meines Großvaters erzählen.“ Sie schaute an mir vorbei. „Weißt du, die Geschichte hat auch mit dem Eis zu tun, auf dem wir tanzen und fallen, wenn es so weit ist ...“ Ich wusste, wie sehr Cora ihren Großvater liebte. Sie besuchte ihn oft in der großen Stadt am Rhein. Er brachte ihr alles bei, was es in der Musik gibt, und philosophierte mit ihr, seit sie sprechen konnte. „Als Großvater spürte, dass es ans Sterben ging, zitierte er, wenn er von seiner Gebrechlichkeit sprach, immer wieder die Worte: ‚Es ist vollbracht. Amen. Komm, Herr Jesus.’ Obwohl er weder an die Wahrheit der Evangelien noch an die Göttlichkeit Jesu Christi glaubte. Bis zu seinem zweiundsiebzigsten Lebensjahr blieb er Organist von St. Peter, spielte ein Credo nach dem anderen, gab Konzerte, improvisierte die Musik von Stummfilmen – ich erinnere mich besonders an ‚Faust’ und ‚Metropolis’ – und komponierte Orgelmessen, Kantaten und Oratorien. Nachdem er im Ruhestand war, zog er in ein kleines Appartement im Souterrain einer Villa am Rhein. Er erkannte mich erst gar nicht wieder, als ich ihn kurz vor seinem Tod besuchte. Ich glaube, er tat nur so, weil wir uns bei der letzten Begegnung gestritten hatten. Es ging um eins seiner Gedichte. Ich kapierte nicht, was er damit sagte. Heute weiß ich, er wollte damals schon sterben. Ich stand im Wohnzimmer und blickte mich um. Überall lagen beschriebene Notenblätter herum, auf dem Schreibtisch vorm Fenster mit Blick auf die Rosenbüsche, den beiden kleinen Tischen in den Ecken, auf dem Spinett, auf allen Stühlen, auf dem Büfett, auf dem Sofa und neben dem Kopfkissen des Bettes. Auch auf dem Fußboden Stapel von Notenblättern ohne erkennbare Ordnung. Mit dickem Filzstift geschrieben, sahen die schwarzen Noten mich an. Großvater zeigte auf den Schreibtisch. ‚Lies das Blatt in der Mitte!’, sagte er. Ich beugte mich über den Schreibtisch –
‚Unser Leben ist nur Wahn und Fraß.’
Ich dachte nach. Wenn unser Leben Wahn und Fraß ist, dann ist der Wahn Leben ohne Fraß, ja, das haut hin, und Fraß ist Leben ohne Wahn, ja, das stimmt, das Leben wird zur tödlichen Sucht. ‚Und die Kunst?’, fragte ich Großvater, ‚ist sie auch ein Wahn?’ ‚Nun ja’, sagte er zögernd‚ ‚in einem gewissen Sinn ist ein Künstler, von seinem Werk her gesehen, wahnsinnig. Der eigentliche Wahnsinn liegt darin, dass der Wahn des Künstlers, der in sein Werk eingeht, wahr ist.’ Ich schwieg. ‚Das Wunder der Zeugung ist bei den Ausscheidungsorganen angesiedelt ... Feuer und Wasser ... Wahn und Fraß ... zwischen diesen beiden Polen liegt alles, was wir Leben nennen.’ ‚Also auch die Religion’, sagte ich. ‚Ja, auch die Religion’, sagte er. ‚Und die Religion und die Kunst sind derselbe Wahn?’ ‚Ich weiß es nicht’, sagte er, ‚ich weiß auch nicht, ob ich es hoffen soll.’ ‚Aber deine geistlichen Motetten, Kantaten, Orgelmessen –’ ‚Ich komponiere in den Formen der geistlichen Musik, aber ich schreibe mit meinen Noten kein Credo. Ich bin ein Künstler, ich glaube nur an mich selbst – und an mein Werk, das ist vielleicht dasselbe. Mein Verstand sagt mir, dass Gott nicht existiert. Mein Gefühl sagt nichts anderes. Gott ist eine Variable für das, was wir nicht verstehen. Gott ist nur eine Idee.’ ‚Vielleicht eine Idee in uns – von ihm’, sagte ich. Großvater lachte. Er legte sich aufs Bett: ‚Gott gibt es nicht’, sagte er. ‚Es hat ihn nie gegeben. Es kann ihn nicht gegeben haben und es wird ihn nie geben, der nie war, der nicht ist, der nie sein wird. Ich habe nie an ihn geglaubt.’ Großvater streckte den Arm aus und deutete mit der flachen Hand auf den Stuhl neben dem Bett. Ich las seine schwarze Filzstifthandschrift: ‚Ich bin aus der katholischen Kirche ausgetreten.’ ‚Das ist Gott egal’, sagte ich. Großvater lächelte. ‚Wenn es ihn gäbe, wäre er auf meiner Seite.’ Wir schwiegen. Mir wurde klar, Großvater regelte alle seine Dinge zwischen Wahn und Fraß. ‚Ich glaube, du willst mit dem Leben abschließen’, sagte ich dann. ‚Kann sein’, sagte er. Er erzählte mir von der Glocke, die er der Kirche St. Peter vor vielen Jahren stiftete. ‚Den Klöppel haben die Damen des Puffs beigesteuert. Die sind ehrlicher als die Kirchenleute’, sagte er. ‚Die Priester sind eitel, noch eitler als ich. Ich muss ja als Künstler sein wie Gott. Aber die Priester müssen Gott dienen, am besten lassen sie die Finger von der Kunst.’ Der kunstsinnige Pater von St. Peter, erzählte er, habe den alten Altar seiner Kirche in die Sakristei tragen und Eduardo Chillidas aus drei weißen Marmorblöcken bestehenden Altar aufstellen lassen, im Dienst an der Kunst, aber dann auf Verlangen des Erzbischofs ins Seitenschiff versetzen müssen. Ein Altar sei ein ungeteilter Opfertisch, so der Erzbischof. Die Deutung, die Dreiteilung spiele auf die Dreieinigkeit an, habe die Kurie nicht gelten lassen, es bestehe auch die Gefahr, dass die Gemeinde in dem zerstückelten Altar eine brüchige Kirche sehe. Una sancta eccclesia catholica! Da habe der Pater einen neuen Opfertisch im Altarraum aufgestellt, wieder aus weißem Marmor, aber dünnwandig und hohl wie ein Campingtisch. Den habe der Pater dem Großvater voller Stolz gezeigt. Man sehe, habe er zu dem Pater gesagt, wie hohl die Kirche sei ... Nun ja, habe der geantwortet, jedenfalls una, also ungeteilt, aus einem Stück, und sancta – und catholica allemal. Großvater forderte mich auf, ihm vom Spinett in der Mitte des Zimmers ein Exemplar seiner Biographie zu bringen, die sein Nachfolger im Organistenamt kürzlich geschrieben hat. Er schlug das Buch auf und schrieb auf die Innenseite des hinteren Buchdeckels mit schwarzem Filzstift. Ich schaute ihm von der Seite dabei zu. Er malte Buchstabe für Buchstabe. Die Augen schienen zu lachen, aber der Mund blieb ernst. Großvater gab mir das Buch zurück:
‚Ich will eingeschläfert werden.’
Ich erschrak. ‚Das ist mein Testament’, sagte er, ‚in Wahrheit auch nur ein Wahn.’ Testament? Auf dem Nachttisch eine weiße Schachtel Tilidin und ein braunes Fläschchen Dormicum. Ich schüttelte den Kopf. Der Tod – nur ein Wahn? Der Tod ist das Nichts. Aber das sagte ich nicht. Großvater wies auf einen Zeitungsartikel neben den Tabletten. Ein Bericht über sein letztes opus. Auf dem Stuhl lagen die gedruckten Noten der Motette ‚Ja, ich komme bald.’ ‚Ich sitze am Tag zwei Mal für ein paar Stunden am Fenster und komponiere. Ich habe nur noch das Spinett. Mir fehlt die Orgel. Aber ich kann mit den wunden Füßen nicht mehr spielen.’ ... Schwälende Tage ... ‚Mir fehlt der Blick auf das Maßwerk von St. Peter. Jetzt schaue ich aus dem Kellerloch, in dem ich hause, auf die Astern vor meinem Fenster wie aus einem Grab.’ ... Noch einmal das Ersehnte, den Rausch ... ‚Meine Augen sind schwach, ich sehe die Noten nur verschwommen. Manchmal improvisiere ich auf dem Spinett.’ Seine Kompositionen höre er im Kopf. Vom Bett aus könne er die Fernsehbilder ahnen und sich den Film vorstellen. ‚Aber wozu?’, sagte er, ‚meistens lasse ich den Fernseher ausgeschaltet.’ ... Und streife die Fluten und trinke Fahrt und Nacht ... Ich dachte immerzu an Benns Gedicht, an den nahenden Tod, als ich Großvater mit seinem langen weißen Bart im Bett vor mir liegen sah, die eingewickelten Füße in dicken Pantoffeln steckend, wie der sterbende Gott Gottes. Eine bizarre Predella. Darüber das Nichts der weißen Wand ... Großvater wurde müde. Als wir uns verabschiedeten, gab er mir die Hand und sagte: ‚Das ist das Ende.’“