KLICKS UND CLIQUEN

Synthesen + Analysen in der Matrix


Eine Kolumne von  Bergmann

Samstag, 27. Dezember 2014, 22:22
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Bloch und das Matterhorn

437. Kolumne


Es war mir in meiner Studienzeit vergönnt, Anträge in den Geisteswissenschaften in der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) bei Dr. Treue zu sortieren und nach einem von mir selbst gefundenen System (learning by doing) zu analysieren. Die besten Akten sollte ich kennzeichnen und am Ende meiner Arbeit kurz referieren. Ich staune rückblickend darüber, dass man mir so ein Vorhaben über Vorhaben zutraute. Es war die vielleicht schönste Beschäftigung als studentische Hilfskraft, meist in der DFG, ich verdiente gut in den langen Semesterferien und konnte mir zwei Reisen in die USA leisten.

Ich hatte vor allem die Anträge in den Fächern Philosophie und Psychologie zu untersuchen. Ich musste verdammt viel lesen, bevor ich routinierter das Wesentliche sah und das Skurrilste oder Denkwürdigste herausfischte. Es ist ein Jammer, dass ich meine getippten Kommentare nicht besitze. Es ist ja höchst fraglich, ob die DFG meine Untersuchung archivierte, denkbar, dass Dr. Treue mich zu seiner eher privaten Unterhaltung beschäftigte. Solche Motive sind manchmal nicht die schlechtesten.

Ich kann mich erinnern an die dicken Konvolute derer, die eine Selbstanalyse machten, um Psychoanalytiker im Sinne Sigmund Freuds zu werden. Diese Analysen dauerten in der Regel einige, manchmal sogar viele Jahre. Diese Selbstanalysen mussten beantragt werden. In diesem Fall gab es damals noch keinen Wettbewerb der Antragsteller, die sich mit der Qualität der verbalen Verpackungen ihrer Vorhaben gegenseitig überboten. Im Gegenteil. Es kam nur auf die Empfehlung von Autoritäten an. Aber die ‚Selbstanalytiker’ mussten Zwischenberichte schreiben, um den Fortgang ihrer Selbstanalyse zu begründen. Da konnten Sachbearbeiter und professorale Gutachter tief in den Schlund ihrer Protegés blicken. Auch ich blickte hinein, und ich fiel tief in die aufgewühlten Seelen, die zu leiden schienen an sich selbst, und das riss meine Seele an die Seite der Verzweifelnden. Seit dieser Zeit ahne ich, dass es gar keine Norm für eine gesunde Seele geben kann. Gleichzeitig sah ich zwar den Sinn der Selbstanalysen ein, aber nicht ihre Intensität und Dauer – denn je länger die Analyse fortschritt, umso verzweifelter las sich die Beschreibung der Selbstanalyse, die um konkrete Beispiele nicht herum kam. Immerhin ließ sich erkennen, dass es hier nicht um Verpackung, sondern um Inhalte ging. Nur zu lang für Schreiber und Leser. Soviel Selbstverletzung sprach sowohl gegen die Kriterien der Ausbildung zu Psychoanalytikern als auch gegen die Bewilligungsbürokratie.

Darüber setzte sich so mancher namhafte Wissenschaftler damals einfach hinweg. Das schönste Beispiel lieferte Ernst Bloch. Sein Zwischenbericht wurde mehrmals angemahnt. Bloch antwortete nicht. Dann kam eine Ansichtskarte aus der Schweiz, die Spitze des Matterhorns im Nebel, und Bloch schrieb – ich zitiere aus meiner Erinnerung: „Lieber Herr Treue! Vielen Dank für Ihr Interesse. ZWEITER ZWISCHENBERICHT: Wir sehen den Gipfel vor uns, das Ziel. Wir sind auch schon hoch gekommen. Ich habe ein Kreuz gemacht an der Stelle, wo wir uns befinden. Die Aussicht von oben – ein Traum. Aber vielleicht werden wir da oben im Nebel stehen, falls wir überhaupt so weit kommen. Ich weiß es nicht. Umkehren wollen wir aber nicht. Jeder Schritt nach oben – die Richtung stimmt, das glaube ich fest! – lehrt uns: Wir wissen immer besser, was wir nicht wissen. Usw. Sie wissen ja selbst: Die Luft wird oben immer dünner. – Ihnen alles Gute wünschend, bin ich Ihr Bloch.“

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Kommentare zu diesem Kolumnenbeitrag

Graeculus (69)
(26.12.14)
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 EkkehartMittelberg (26.12.14)
Ich wusste bisher nicht, was das Matterhorn mit dem Wissen über das Nichtwissen zu tun hat. Das Gleichnis ist eines Ernst Bloch würdig, dieser Essay auch.

 loslosch (26.12.14)
die geschichte vom matterhorn kannte ich aus einer kritischen abhandlung über bloch. dortiges fazit: ernst war ein cleverele, kannte sich im kommerz des kapitalismus aus. eben las ich: er war in die usa emigriert. dann ddr, wie brecht! merkwürdige parallelen.

 Bergmann (26.12.14)
Die Ansichtskarte Ernst Blochs korrespondiert wahrscheinlich nicht zu seinem berühmten Aufsatz „Alpen ohne Photographie“ (1930), in: E. B., Literarische Aufsätze. Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1978. Hier eij kleiner Auszug:

„Kaum sieht man hier mit anderen Augen als denen von vorgestern. Das Gebirgswasser hat eine verabredete Farbe, sie kommt nicht von sich los. Die Tannen hängen aus dem neunzehnten Jahrhundert herein, aus tausend matten Bildern. Ansichtskarten decken eine Landschaft zu, indem sie sie unausrottbar abbilden. Es ist dieselbe Landschaft aus Wildwasser, steilen Matten, gezackten Alpen, die vor hundert Jahren noch Schrecken erregt hatte und seitdem aus den Kartengrüßen nicht herauskommt. Ja, sie hat gelitten wie keine andere, mit der Alm, auf der koa Sünd is, mit der Aussicht, die dem Jodelspießer alles lohnt. Und auch seitdem ist die Landschaft so schwer von der Tünche des Geschwätzes zu befreien, keine ist zuletzt so leicht photographierbar geworden und so schwer zu malen.“

In der Tat kommt im Essay auch das Matterhorn vor. Ein (eher ungewollter) Bezug ist natürlich automatisch da: Das Kartengrüßen und das Problem der Abbildbarkeit von Natur (oder eben von Wissenschaftsplanung).

 Dieter_Rotmund (26.12.14)
Gerne gelesen, über die dreisten Versuche, Geld von der DFG für Selbstanalysen zu ergaunern.

 Lala (27.12.14)
Auch ich blickte hinein, und ich fiel tief in die aufgewühlten Seelen, die zu leiden schienen an sich selbst, und das riss meine Seele an die Seite der Verzweifelnden. Seit dieser Zeit ahne ich, dass es gar keine Norm für eine gesunde Seele geben kann. Gleichzeitig sah ich zwar den Sinn der Selbstanalysen ein, aber nicht ihre Intensität und Dauer – denn je länger die Analyse fortschritt, umso verzweifelter las sich die Beschreibung der Selbstanalyse, die um konkrete Beispiele nicht herum kam.
Seit diesem Zitat ahne ich, dass Du bis zu Deiner Pensionierung in der Mühle eines schwarzen Müllers frontest. Zwar reflektiert aber dennoch gefangen.
Folgerichtig wähnst Du ob der Intensität:
Immerhin ließ sich erkennen, dass es hier nicht um Verpackung, sondern um Inhalte ging.[/quote[
Aber schiebst auch gleich einen flexiblen und doppelten Riegel vor diese Intensität:
Soviel Selbstverletzung sprach sowohl gegen die Kriterien der Ausbildung zu Psychoanalytikern
Gegen die Kriterien? Ein zu viel an Selbstverletzung? Was ist denn ein gesundes Maß an Selbstverletzung, junger Bergmann? 45 Volt? Oder über 200 Volt? Oder literarischer :
Nur zu lang für Schreiber und Leser.
Oder ist alles nur ironisch?
gegen die Bewilligungsbürokratie
?
Also nicht wahr. Schlicht ausgedacht. Weder Selbstversuch noch 45 oder 500 Volt und auch keine Grille des vergötterten Weißkittels oder akademischen Grades:
Es ist ja höchst fraglich, ob die DFG meine Untersuchung archivierte, denkbar, dass Dr. Treue mich zu seiner eher privaten Unterhaltung beschäftigte. Solche Motive sind manchmal nicht die schlechtesten.

Manchmal.
In Treue fest aber trotzdem nur so: Lala.
PS. Es braucht schon Frontallappen so massiv wie Fels, dem Irrsinn und dem Schwanzwedeln zu trotzen.

 Lala (27.12.14)
Auch ich blickte hinein, und ich fiel tief in die aufgewühlten Seelen, die zu leiden schienen an sich selbst, und das riss meine Seele an die Seite der Verzweifelnden. Seit dieser Zeit ahne ich, dass es gar keine Norm für eine gesunde Seele geben kann. Gleichzeitig sah ich zwar den Sinn der Selbstanalysen ein, aber nicht ihre Intensität und Dauer – denn je länger die Analyse fortschritt, umso verzweifelter las sich die Beschreibung der Selbstanalyse, die um konkrete Beispiele nicht herum kam.
Seit diesem Zitat ahne ich, dass Du bis zu Deiner Pensionierung in der Mühle eines schwarzen Müllers frontest. Zwar reflektiert aber dennoch gefangen.
Folgerichtig wähnst Du ob der Intensität:
Immerhin ließ sich erkennen, dass es hier nicht um Verpackung, sondern um Inhalte ging.

Aber schiebst auch gleich einen flexiblen und doppelten Riegel vor diese Intensität:
Soviel Selbstverletzung sprach sowohl gegen die Kriterien der Ausbildung zu Psychoanalytikern
Gegen die Kriterien? Ein zu viel an Selbstverletzung? Was ist denn ein gesundes Maß an Selbstverletzung, junger Bergmann? 45 Volt? Oder über 200 Volt? Oder literarischer :
Nur zu lang für Schreiber und Leser.
Oder ist alles nur ironisch?
gegen die Bewilligungsbürokratie
?
Also nicht wahr. Schlicht ausgedacht. Weder Selbstversuch noch 45 oder 500 Volt und auch keine Grille des vergötterten Weißkittels oder akademischen Grades:
Es ist ja höchst fraglich, ob die DFG meine Untersuchung archivierte, denkbar, dass Dr. Treue mich zu seiner eher privaten Unterhaltung beschäftigte. Solche Motive sind manchmal nicht die schlechtesten.

Manchmal.
In Treue fest aber trotzdem nur so: Lala.
PS. Es braucht schon Frontallappen so massiv wie Fels, dem Irrsinn und dem Schwanzwedeln zu trotzen.

 Bergmann (27.12.14)
Lala: Mach's vor - mit einem Selbstversuch, ich rate zu Titan.
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