Szczepan Twardoch:

Drach

Roman, übersetzt von Olaf Kühn


Eine Rezension von  Quoth
veröffentlicht am 22.09.23

Pindur schweigt. Pindur ist mir nah. Er packt Josef am Handgelenk, fest, als wollte er ihm etwas Wichtiges sagen, etwas von großer Bedeutung, sagt aber nichts, denn nichts hat Bedeutung.
Ich müsste erläutern, wer Pindur ist. Wer oder was da „mir“ sagt. Aber ich erläutere nur, dass Josef Magnor der Protagonist eines polnischen Romans ist mit dem Titel „Drach“, der wie ein Unwetter über den Leser hereinbricht. Der im Präsens erzählt ist, egal, ob es um Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft geht. Es gibt nur Gegenwart, über der ein Hauch von Ewigkeit liegt, in diesem Buch, obgleich über den einzelnen Kapiteln jeweils bis zu 29 Jahreszahlen stehen, in denen die Erzählerin sich bewegt. Eine Frau? Ist der Autor Szczepan Twardoch denn nicht ein Mann? Er ist verheiratet und hat zwei Kinder. Aber er wählt sich eine fiktive Erzählerin: die Erde. Und zwar weniger den Planeten (obgleich ein wenig auch den), mehr aber die Erdkruste, in der wir unsere Toten begraben, in der wir Schutz suchen in Schützengräben und in die der Bergbau seine Schächte und Stollen treibt, in denen „Menschenwürmer die schwarze Sonne aus meinem Leib kratzen“, d.h. Steinkohle schürfen. Und alle Männer in diesem Buch (bis auf wenige Ausnahmen) sind Bergleute. Und das seit Generationen. Bergleute im Bergbaugebiet von Oberschlesien, in dem die einen Deutsch, die anderen Polnisch sprechen, aber manche Polnisch Sprechende sind Deutsche und manche Deutsch Sprechende Polen. Und manche sprechen ein Pidgin-Deutsch oder Pidgin-Polnisch, und das wird Släsch oder Slaski oder Wasserpolnisch genannt (der Übersetzer Olaf Kühn hat Kostproben davon dankenswerter Weise ins besser verständliche Niederschlesisch übertragen). Und nach dem Ersten Weltkrieg, an dem Josef Magnor im Schützengraben vor Verdun teilnimmt, sollen Teile von Oberschlesien laut Versailler Vertrag an Polen abgetreten werden. Es kommt zu Erhebungen der Polen, die nicht benachteiligt werden wollen, zu Morden und Gewalttaten.

Ich will nicht versuchen, den Inhalt von „Drach“ (vier Generationen der Familien Magnor und Gemander) wiederzugeben, und den Roman zu bewerten. Seit sieben Jahren ist seine deutsche Ausgabe auf dem Markt, er wurde als meisterlich gelobt und auch viel über den Inhalt gesagt. Ich wollte herausbekommen, wie es dem Autor gelungen ist, seine Setzung, dass nicht er, sondern die Erde erzählt, glaubwürdig zu machen, und habe dafür die Suchfunktion meines E-Readers zur Hilfe genommen. Mit ihrer Hilfe habe ich festgestellt, dass die oben zitierte Figur, etwas sei von Bedeutung, zugleich aber ohne jede Bedeutung, sich an die 30mal in dem Buch findet. Eine andere Erdformel: sie sagt: "Zur gleichen Zeit", fährt aber dann fort: "nur dreiundneunzig Jahre früher" oder "fünfunddreißig Jahre später". Diese Formel verwendet die Erde 50 mal und erzeugt so ein Gefühl von Zeit jenseits der Chronologie, berechtigt, wenn man bedenkt, wie winzig die Zeitabschnitte sind, in denen wir verkehren, vergleicht man sie mit dem Alter des Planeten. Und das auf dem Hintergrund der Botschaft des alten Pindur, dass Baum und Mensch und Stein und Tier dasselbige sind und dass die verwesenden Leichen als Saft in den Bäumen wieder aufsteigen, deren Blätter und Rinde die Rehe fressen, die dann ihrerseits sterben, wenn sie nicht geschossen und verzehrt und zu Ausscheidung werden, die wiederum der Erde zugutekommt, in Verbindung mit diesem ewigen Stoffwechsel von Werden und Vergehen, dessen Vermittlerin die erzählende Erde ist, verliert alles Bedeutsame wirklich jede Bedeutung, aller Tod ist nur ein Übergang wie auch alles Leben, und den Generationen von Bergleuten stehen Generationen von Rehen und Bäumen gegenüber. Es gelingt diesem Roman, ein Gefühl von tiefer, staunender Naturhörigkeit zu erzeugen. Nicht ohne Grund wird die Botschaft Pindurs als Evangelium bezeichnet, aber zugleich hervorgehoben, dass dieses Evangelium aus einer Zeit stammt, als noch keine Christen im Land waren, und das Kriegskapitel wird eingeleitet von der Schilderung des ungeheuerlichen Behemoth im Buch Hiob. Es ist ein ebenso beunruhigendes wie tröstliches Buch, eine aufwühlende Summe des 20. Jahrhunderts im Spiegel der polnisch-deutschen Welt Oberschlesiens, in der ein Ort bald Gliwice  heißt, bald Gleiwitz – ein bedeutsamer Unterschied – und dennoch ohne jede Bedeutung.
Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu dieser Rezension


 abgetaucht (30.09.23, 14:15)
Danke. Für diese feine Rezension. Futtert sich weg wie ein weiches Rosinenstütchen. Und hinterlässt doch allerhand Gehaltvolles im Magen.

Grüße, TiP

 Quoth meinte dazu am 30.09.23 um 19:13:
Danke für das Kompliment. Aber klingt doch auch ganz so, als ob Du das Buch nie lesen wirst ...  :(
Gruß Quoth

 Diablesse (17.10.23, 20:50)
Danke für die Rezension. Sie hat mir dieses Buch, das ich vor Jahren gelesen habe, wieder in Erinnerung gerufen und regt mich gerade dazu an, es vielleicht tatsächlich einfach nochmal zu lesen!

 Quoth antwortete darauf am 18.10.23 um 09:24:
Du wirst es bestimmt nicht bereuen - und vieles entdecken, was Dir beim ersten Lesen entgangen ist! Vielen Dank für Deinen Kommentar!

Zurück zur Liste der  Rezensionen von Quoth , zur Autorenseite von  Quoth, zur Liste aller  Buchbesprechungen
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram