Donna Tartt:

Der Distelfink

Roman


Eine Rezension von  Quoth
veröffentlicht am 23.10.24

Bevor ich diesen recht umfangreichen Roman (1022 Seiten) las, kannte ich nur einen einzigen Möbeltischler bei Namen: Michael Thonet – der mit dem gebogenen Holz und den Wiener Caféhausstühlen. Jetzt weiß ich auch, dass es in der englischsprachigen Welt die „großen Drei“ gibt: George Hepplewhite, Thomas Chippendale und Thomas Sheraton. Möbel dieser Ebenisten werden auf Auktionen, in Antiquitätenläden teuer versteigert und verkauft, und Meister der Kunst, diese Möbel zu restaurieren, können ihren Stil auch so perfekt nachahmen, dass Fälschung und Original kaum zu unterscheiden sind. Davon profitiert der Erzähler dieses Buchs, Theodore Decker, und rettet die Firma seines Ziehvaters und Meisters Hobart, gen. Hobie, vor dem Konkurs, indem er dessen perfekte Nachahmungen als echt verkauft – und so Millionen scheffelt. Als es herauskommt, bedrückt ihn das – und er reist herum, um die getäuschten Kunden zu entschädigen, indem er die Fälschungen zurückkauft. Aber woher hat er das Geld? Wenn ich das erzähle, erzähle ich die ganze Geschichte – betätige mich also als „spoiler“, und das könnte mir übelgenommen werden – obgleich das Buch schon vor zehn Jahren erschien und auch schon verfilmt wurde, der Film kann gestreamt werden.
Ich verrate nur so viel: Es geht um ein altes holländisches Gemälde, eben den „Distelfink“ von Carel Fabritius (17. Jahrhundert), das im Zusammenhang mit einem fiktiven Terrorangriff auf das Metropolitan-Museum in New York in Deckers Besitz gerät, und Dank der Geschicklichkeit seines ukrainischen Freundes Boris bezieht er die für die Wiederbeschaffung des Bildes ausgelobte Belohnung. Was ich auch vorher nicht wusste: Fälschungen alter Möbel erkennt man u.a. daran, dass sie symmetrisch abgenutzt sind – echte sind asymmetrisch abgenutzt. Aber ist es der Zweck eines Romans, zu belehren? Nein, er soll unterhalten und spannend zu lesen sein. Ist dieser das? Ich fürchte, nicht für jeden. Ich persönlich liebe Bücher und Filme nicht, die ausschließlich in wohlhabenden Kreisen spielen. Und alte Möbel und alte Bilder werden nun einmal nur in diesen Kreisen geschätzt. Der ganze Roman spielt weitgehend in der New Yorker upper class. Gut, es gibt ein paar Latinos, die als Pförtner arbeiten. Und es gibt diesen Boris, Sohn eines ukrainischen Bergbauingenieurs, der Jahre auf der Straße gelebt hat. Und damit komme ich zu einem zentralen Baustein dieses Buches: Der Erzähler lernt Boris in Las Vegas kennen, und es wird eine Freundschaft daraus, die das ganze Buch trägt, und es ist eine Jungensfreundschaft, wie Walt Whitman sie in den euphorischen Zeilen beschrieben hat:

We two boys together clinging,
One the other never leaving,
Up and down the roads going, North and South excursions making,
Power enjoying, elbows stretching, fingers clutching,
Arm'd and fearless, eating, drinking, sleeping, loving,
No law less than ourselves owning, sailing, soldiering, thieving, threatening,
Misers, menials, priests alarming, air breathing, water drinking, on the turf or the sea-beach dancing,
Cities wrenching.

Wir, zwei Jungen, fest umschlungen,
Einer nie vom andern lassend,
Straßen auf- und niederschweifend, Nord- und Südland frei durchstreifend,
Kraft genießend, Arme streckend, Finger schließend,
Wehrhaft, furchtlos, essend, trinkend, schlafend, liebend,
Nur uns selber untertänig, segelnd, abenteuernd, diebend, drohlich neckend,
Knicker, Knechte, Pfaffen schreckend, Aether atmend, Wasser trinkend, auf der Küste Rasen tanzend,
Städte sprengend.
(Übersetzung: Max Hayek)

Zum Abschied küsst Boris seinen Freund auf den Mund. Der Erzähler verlobt sich mit seiner Ziehschwester, mit der er Händchen hält und Spaß hat – aber er .findet sich schnell damit ab, dass sie einen Liebhaber hat und genießt die Freundschaft mit ihrer Mutter, weil er die eigene in dem Terrorangriff auf das Museum verloren hat. Schwärmerisch verehrt er Pippa, die schwer verletzt dieser Katastrophe entronnen ist – aber er muss erkennen, dass er auch in ihr nur einen Ersatz für die ebenso angebetete Mutter gesucht hat. Donna Tartt erzählt in der Ichform von einem Jungen/jungen Mann, der gefühlsmäßig am stärksten aufblüht in der Beziehung zu einem anderen Jungen/jungen Mann. Nur mit der Mutter seiner Braut kann er gefühlsmäßig etwas anfangen, wie bei Whitman bleiben Frauen Mutterersatz oder bloße Alibis in seinem Leben bzw. Werk. Und sogar Whitmans berüchtigte Kataloge feiern bei Donna Tartt Wiederauferstehung. Was zählt sie nicht alles auf! Z.B. was es in Hobies Werkstatt alles gibt:

Blondes Holz wie Honig, dunkles Holz wie vergossene Melasse, der Glanz von Messing, Blattgold und Silber im matten Licht. Wie auf der Arche Noah war jede Art mit ihresgleichen gepaart: Stühle mit Stühlen, Sofas mit Sofas, Uhren mit Uhren, und Tische, Schränke und Anrichten standen einander steif aufgereiht gegenüber. In der Mitte bildeten Esstische schmale, irrgartenähnliche Pfade, auf denen man sich um sie herumschieben konnte. An der hinteren Wand hingen schwarz angelaufene Spiegel Rahmen an Rahmen, leuchtend im Silberlicht alter Ballsäle und kerzenbeschienener Salons.

Dickens, Dostojewski, Henry James und als modernster Proust werden bemüht – und natürlich auch Walt Whitman, der Pate dieses Wälzers, mit den Versen:

Jupiter wird wieder auftauchen, habe Geduld, schau wieder nach in einer anderen Nacht, die Plejaden werden wieder auftauchen.
Sie sind unsterblich, all diese Sterne silbern und golden werden wieder scheinen.
Und liebstes Kind, trauerst du nur um Jupiter?
Denkst du nur an das Grab der Sterne?

(Übersetzung: Hans Reisiger)

Donna Tartt versucht unsere Zeit im 19. und 17. Jahrhundert zu spiegeln – oder jene Jahrhunderte in unsere Zeit gleichsam zu retten. Ein zutiefst konservativer, rückwärts orientierter Roman, in dem der Beginn unseres Jahrhunderts vor allem als Katastrophe erlebbar wird.
Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu dieser Rezension


 Mondscheinsonate (26.10.24, 17:22)
Das Buch war ein Pageturner, dann weggelegt, erledigt.

 Quoth meinte dazu am 27.10.24 um 17:39:
Ich hatte Mühe, mich hindurchzufressen - von Pageturner weit entfernt. Ich habe in meiner Entsprechung anzudeuten versucht, warum eine so begabte Autorin 10 Jahre Arbeit in ein letztlich misslungenes Werk steckt.

 Mondscheinsonate antwortete darauf am 29.10.24 um 04:33:
Kann es sein, dass die Drogen- und Alkoholproblematik nicht dein Thema ist? Ich frage nur. 
Meines ist es jetzt auch nicht. Bin zwar Theo/Boris anfangs gerne gefolgt, dann wurde es immer unglaubwürdiger. Dennoch, das ist sicher kein vergnügliches Buch (besonders für mich persönlich), aber ich wollte dann schon wissen, wie es weitergeht. Bissl dick aufgetragen die Geschichte, ja mei, schlecht fand ich's nicht.

 Quoth schrieb daraufhin am 29.10.24 um 08:56:
Die Autorin breitet den Drogen- und Alkoholabusus der beiden eng befreundeten Helden so genüsslich aus, dass klar wird: Neben dem Terrorismus (der Katastrophe im Museum) ist dies eine weitere, die die menschliche Kultur zu verschlingen droht. Nein, mein Thema sind (und waren) Alkohol und Drogen nicht, mein Thema war mal Restaurierung - weil ich mit einer Restauratorin zusammenlebte.
Den Ehrgeiz, unbedingt auf die Ebene der Weltliteratur zu gelangen, hat Gavin Armour in  dieser kurz nach dem Erscheinen des Buchs verfassten (und jüngst überarbeiteten) sehr lesenswerten Rezension als einen Grund für das Misslingen geortet.

Antwort geändert am 29.10.2024 um 08:59 Uhr

 Klemm (01.11.24, 18:05)
Das bestätigt nur meine Vorurteile gegenüber der Autorin und dem Genre, das als anspruchsvolle Unterhaltung bezeichnet wird.

 Quoth äußerte darauf am 03.11.24 um 08:14:
... gehobene Unterhaltung gefiele mir noch besser,

Zurück zur Liste der  Rezensionen von Quoth , zur Autorenseite von  Quoth, zur Liste aller  Buchbesprechungen
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram