keinEinhorn

keinEskapismus, keinRosa, keineLiebe.


Die Kolumne des Teams " keinEinhorn"

Mittwoch, 05. Februar 2020, 01:20
(bisher 365x aufgerufen)

Hört alle mal bitte auf zu atmen

von  Judas


Es ist ziemlich normal, genervt zu reagieren, wenn jemand am Tisch laut schmatzt. Oder mit offenem Mund Kaugummi kaut. Fingernägel auf Tafel oder Gabel auf Teller wird von vielen Menschen als äußerst unangenehm empfunden und hat mal wer 'ne Möwe dauerschreien gehört?
So normal so gut.
Aber manche Menschen reagieren auch auf Geräusche empfindlich, die eigentlich ganz harmlos und vollkommen im Rahmen jeder Etikette sind:
In einen Apfel beißen. Kinderlachen. Eine Chipstüte öffnen. Die Stimme der Person neben dir, die telefoniert. Atemgeräusche. Vor allem Atemgeräusche (Herrgott hört halt alle bitte mal auf zu atmen). Und diese Geräusche sind dann nicht einfach nervig. Oder anstrengend. Oder störend. Nein sie rufen stattdessen starke Aggressionen hervor. Ich meine Aggressionen vom Level: Ich geb dir ein Highfive. Ins Gesicht. Mit einem Stuhl.
In dem Fall könnte es sein, dass man von Misophonie betroffen ist (und ja, deine menstruierende Freundin schreit dich eventuell auch mal an, dass du leiser atmen sollst, aber das ist was anderes).
Misophonie ist der Hass auf bestimmte, meist organische und von Mitmenschen verursachte Geräusche. Betroffene haben dabei in den meisten Fällen regelrechte „trigger“, also ganz bestimmte, von anderen Menschen als nicht-störend empfundene Geräusche. Dabei können Betroffene jene Geräusche oft problemlos ertragen, wenn sie diese selbst verursachen.
Misophonie heißt also Hass auf ganz gewöhnliche Alltagsgeräusche.

Ich habe ein überdurchschnittlich gutes Gehör. Vielleicht hab ich deshalb auch Misophonie (oder ich bin einfach kaputt, wer weiß das schon). Betonung liegt hier auf „gutes Gehör“ nicht empfindlich, heißt ich kann ohne Sorge in der ersten Reihe eines Rockkonzertes stehen ohne Oropax. Aber wehe irgendjemand beißt 50 Meter entfernt von mir in einen Apfel. Dann hör ich das – auch wenn ich mir nicht mal sicher bin, ob ich das wirklich höre oder mein Hirn mittlerweile dieses verhasste Geräusch schon selbst repliziert, wenn ich jemanden nur Apfel essen sehe. Ich kann viele hohe und tiefe Töne auch noch wahrnehmen, die andere schon gar nicht mehr mitbekommen. Hab deshalb schon oft gedacht, ich hab lustige Halluzinationen. Bei mir funktioniert auch der „Cocktail-Party-Effekt“ nicht wirklich, was Partys für mich ziemlich anstrengend macht. (Cocktail-Party-Effekt: die Fähigkeit, sich in einem vollen Raum voller Gespräche auf einen Gesprächspartner zu konzentrieren und alle anderen Gespräche dabei auszublenden.)
Meine Unfähigkeit Geräusche auszublenden und zu filtern begünstigt natürlich meine Misophonie.
Übrigens meine Top Hass-Geräusche (also die trigger): Apfel essen und – noch schlimmer – in einen Apfel beißen. Kaugeräusche allgemein. Da vor allem Schlucken. Trinken (nein, nicht Schlürfen, ich meine Trinkgeräusche vor allem eben auch wieder Schlucken. Schlürfen ist natürlich auch ätzend, aber wen nervt das nicht). Atemgeräusche. Da besonders Nasenatemgeräusche. Wenn ich dich atmen hören kann, hab ich mir wahrscheinlich bereits deinen Tod gewünscht. Viele Kindergeräusche, vor allem Kinderlachen (warum sind die auch so schrill und quietschig und bäh?). Kaugummi kauen. Leckgeräusche (also Eislecken z.B. nicht das, was du denkst!). Gut – Schnarchen macht mich auch echt fertig, aber kommt da irgendein Mensch drauf klar?
Gibt auch noch ein paar mehr, aber das sind mit die wichtigsten...

Bevor ich von meiner Misophonie erfuhr, dachte ich übrigens lange, ich wäre einfach nur ein Arschloch. Weil ich dem Typen, der da gerade im Zug ein paar Reihen weg von mir in seinen Apfel beißt, die Fresse polieren will. Das Wissen darum, dass das Kind einen Namen hat, hat das Ertragen dann leichter werden lassen.
Laute Musik und noise canceling Kopfhörer sind da übrigens auch ein Segen.
Mir ist allerdings aufgefallen: ich wohne jetzt seit knapp zwei Jahren in Norwegen. Und mittlerweile ist meine Misophonie sehr viel besser geworden heißt: ich fühle mich seltener getriggered. Ich weiß nicht, warum. Vielleicht ist das Land einfach leiser und ruhiger. Oder die Norweger sind leiser und ruhiger. Vielleicht sind mein Gehör und Gehirn weniger geräuschgeflutet hier, insgesamt meine ich.

Aber eine Bitte hätte ich da trotzdem noch: hört doch alle mal auf zu atmen. Echt jetzt.

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Kommentare zu diesem Teamkolumnenbeitrag

Fisch (55)
(05.02.20)
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 Judas meinte dazu am 05.02.20:
Ich verstehe nicht 100% deines Kommentares aber ich sag mal danke :D
edit: nach dem ersten Kaffee hab ich dann doch alles kapiert ;)

Antwort geändert am 05.02.2020 um 16:01 Uhr

 Graeculus antwortete darauf am 05.02.20:
Dann wäre vielleicht der Fall Jack Nicholson etwas für Dich. Der antwortete in Chinatown, nachdem man ihm die Nase aufgeschlitzt hatte, jemandem, der ihn fragte: "Tut das nicht weh?", trocken: "Nur wenn ich atme."

Ich nehme an, er hat daraufhin geübt, nicht zu atmen.

Also die Empfehlung: Jemandem die Nase aufschlitzen und anschließend den Übungserfolg abwarten.

P.S.:
Jetzt weiß ich endlich, daß das Gegenteil von Symphonie Misophonie heißt. Kakophonie klingt auch zu ordinär.

Antwort geändert am 05.02.2020 um 17:07 Uhr

 Judas schrieb daraufhin am 05.02.20:
Misophonie ist aber nicht das Gegenteil von Symphonie... Das eine ist ein Begriff aus der Musik, das andere einer aus der Psychologie. Ein ernst zu nehmender, übrigens. Spaß macht das nämlich nicht.

 Graeculus äußerte darauf am 05.02.20:
Deine Kolumne ist - trotz des ernsten Themas - so voller ironischer Nebenbemerkungen (Galgenhumor wohl), daß ich dachte, ich könnte mir diesen Kommentar erlauben.
Gute Ratschläge eines Inkompetenten wollte ich Dir und mir ersparen. Außer den einen: Galgenhumor erleichtert fast alles - vor allem das, was man nicht ändern kann.

 Judas ergänzte dazu am 05.02.20:
Ach das ist okay. Du darfst das sowieso immer, Graec!

 Graeculus meinte dazu am 05.02.20:
Dann ist es ja gut.

 LotharAtzert (05.02.20)
Häng doch einfach ein paar geräuschabsorbierende Lappen auf.

 Judas meinte dazu am 05.02.20:
um die Köpfe der Leute?

 Skala (05.02.20)
Mit größtem Verständnis und käsebrötchenessend gelesen (hey, mal im Ernst - wir Misophonen machen selbst keine Geräusche, oder?). Ich muss sagen, bei mir ist das nicht ganz so ausgeprägt, es geht hauptsächlich um Kaugeräusche, lautes Atmen und Räuspern/Husten/Schniefen sowie Gläserklirren (Anstoßen ist eine Unsitte, nein, ich bin nicht Sheldon Cooper!). Kinder sind okay (also die Geräusche, wir reden da jetzt nicht von Gerüchen), Atmen auch, beim Schnarchen hält man einfach die Nase des Schnarchers zu, bis er erstickt. Legitime Reaktion, Problem gelöst.
Was hältst du davon, wenn wir gemeinsam eine KV-Cocktail-Party organisieren? Jeder in seinem Kämmerlein, mit einem leeren Cocktailglas in der Hand. Essen gibt's selbstverständlich keins. (Könnte das auch ein Geschäftsmodell werden?)

Schöne Kolumne!

Mit stillem Gruß in den hohen Norden

Skala

 Judas meinte dazu am 05.02.20:
Zur Hochzeit meines Masterstudiums, quasi am Zenit des Stresses stehend, war es bei mir richtig extrem. Da hätte ich die trigger-Liste, die du da gerade siehst, noch dreimal verlängern müssen.
Ja zum Glück stören einen die eigenen Geräusche nicht, wobei ich mich auch selbst nicht gerne (Nasen)atmen höre.

Dein Geschäftsmodell klingt unheimlich vielversprechend. Lass das machen. In Zeiten der digitalen Kommunikation ist das ja auch alles unproblematisch!

Aber da siehste mal, wie verschieden das sein kann - Gläserklirren finde ich zB schön.

Nicht-klirrenden Gruß zurück in den äh... Süden?

 Dieter_Rotmund (07.02.20)
Im Mittelteil etwas verplappert, dort könnte man etwas verdichten. Ansonsten gerne gelesen.

 Judas meinte dazu am 07.02.20:
Nein und danke

 Dieter_Rotmund meinte dazu am 08.02.20:
War nur'n Vorschlag.
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